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Die Jungen warten jetzt gespannt auf die Hinrichtung. Sie sitzen ganz verzückt da, gierig wie Schakale, und warten darauf, dass das Beil fällt. Hätten sie sich die Mühe gemacht, das Buch zu lesen, dann wüssten sie, dass es keine Hinrichtung gibt. Das Buch bricht einfach ab. Wie ein Film, der vor der letzten Szene ausgeschaltet wird. Oder wie das Leben. Man sieht das Beil fast nie kommen - das Beil, das einen selbst erwischt. Unser Lehrer Mr. Lawrence liest die Worte langsam vor, streicht dabei über diesen scheußlichen kleinen Fleck von einem Bart unter seinem Mund und geht auf und ab, immer auf und ab. Das leise Klacken seiner Schritte auf dem Linoleum - Hacke, Spitze, Hacke, Spitze - klingt, als schliche er sich von hinten an die Worte heran. «Als hätte dieser große Zorn mich von allem Übel gereinigt und mir alle Hoffnung genommen, wurde ich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum ersten Mal empfänglich für die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt.»
Die Füße bleiben vor dem Tisch von Luke Bontemps stehen, und Mr. Lawrence klopft ihm mit dem Buchrücken auf den Kopf. Luke tippt gerade auf seinem Handy herum und versucht es jetzt, unter seiner Jacke zu verstecken.
«Legen Sie das Handy in Ihre Tasche, oder ich nehme es Ihnen weg», sagt Mr. Lawrence.
Das Handy verschwindet in Lukes Tasche.
«Worüber spricht Camus Ihrer Meinung nach hier?»
Luke lächelt dieses Lächeln, das ihn schon sein Leben lang aus jedem Schlamassel gerettet hat. Armer Luke, denke ich. Hübscher, nutzloser, dummer Luke. Ich habe gehört, sein Ururgroßvater hätte im Ersten Weltkrieg ein Vermögen damit gemacht, Öl an die Deutschen und Stahl an die Engländer zu verkaufen, und seitdem muss in seiner Familie keiner mehr arbeiten. Er wird es auch nicht tun müssen, warum sollte er also Camus lesen?
«Die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt», wiederholt Mr. Lawrence. «Was, glauben Sie, ist damit gemeint?»
Luke atmet tief durch. Ich kann beinahe hören, wie sich in seinem Hirn unter den schönen Haaren quiekend das Mühlrad dreht.
«Zärtlich», sagt Luke. «Eine Mutter kann zärtlich sein. Vielleicht will Camus uns sagen, dass die Welt eine Mutter ist?»
Achtundzwanzig der neunundzwanzig Schüler in der Klasse lachen, auch Luke. Ich bin die Einzige, die nicht lacht. Ich habe «Der Fremde» schon mit vierzehn gelesen. Allerdings im Original, auf Französisch, und als Mr. Lawrence die englische Übersetzung davon auf die Literaturliste gesetzt hat, wollte ich es nicht noch mal lesen. Es handelt von einem Typen namens Meursault, dessen Mutter stirbt. Dann bringt er einen Araber um und wird zum Tode verurteilt. Sein Kopf soll ihm öffentlich abgeschlagen werden. Damit endet die Geschichte. Camus beschreibt die Hinrichtung nicht.
Ich schaue wieder aus dem Fenster, gegen das immer noch der Regen prasselt. Sein Rhythmus schläfert die Klasse langsam wieder ein. Hinter der Scheibe kann ich die Umrisse der Gebäude auf der 63. Straße sehen. Die Silhouetten wirken durch die Tropfen auf dem Glas unscharf und formlos, mehr wie eine Erinnerung an Gebäude.
Auch wenn wir gerade über das Ende von «Der Fremde» sprechen, sind es die ersten Sätze des Buches, die mir immer im Gedächtnis bleiben werden. Aujourd'hui, maman est mort. Ou peut-être hier, je ne sais pas. Das bedeutet: Heute ist Mutter gestorben. Oder vielleicht gestern, ich weiß es nicht.
Aber ich weiß es. Ich weiß genau, wann Mom gestorben ist. Heute ist es genau zehn Jahre her. Ich war damals erst sieben, und ich war dabei, als es passierte. Die Erinnerung daran kommt hin und wieder in einzelnen Bildern zu mir zurück, aber immer nur in kurzen Schnappschüssen. Ich kann fast nie die gesamte Erinnerung daran von vorn bis hinten abspielen. Der Psychologe, zu dem ich gegangen bin, hat gesagt, das sei ganz normal, und mit der Zeit werde es leichter für mich. Aber das stimmt nicht.
«Wie lautet Ihre Einschätzung, Gwendolyn?», fragt Mr. Lawrence.
Ich höre seine Stimme. Ich verstehe sogar seine Frage. Aber ich bin in Gedanken zu weit weg, um ihm zu antworten. Ich sitze auf dem Rücksitz des alten Honda, die Augen halb geschlossen, den Kopf an die kühle Fensterscheibe gelehnt. Das Schwanken des Autos, das über den Feldweg durch die Vororte von Algier fährt, lullt mich in den Schlaf. Dann spüre ich, dass wir langsamer fahren, und ich höre meine Mutter aufkeuchen. Ich öffne die Augen, blicke aus dem Fenster und sehe Feuer.
«Gwendolyn Bloom! Erde an Gwendolyn Bloom!»
Ich kehre in die Gegenwart zurück. Mr. Lawrence hält die Hände wie ein Megaphon an seinen Mund. «Erde an Gwendolyn Bloom!», sagt er noch einmal. «Können Sie uns sagen, was Camus mit der meint?»
Auch wenn ein Teil von mir immer noch hinten im Honda sitzt, fange ich an zu reden. Es ist eine lange Antwort und, wie ich finde, eine gute. Doch Mr. Lawrence sieht mich mit leichtem Grinsen an, und erst nachdem ich ungefähr zwanzig Sekunden lang geredet habe, merke ich, dass alle lachen.
«Auf Englisch, bitte», sagt Mr. Lawrence und sieht sich mit hochgezogenen Augenbrauen in der Klasse um.
«Tut mir leid», sage ich leise, zupfe am Rock meiner Schuluniform und klemme mir eine Strähne meiner feuerroten Haare hinter das Ohr. «Wie bitte?»
«Sie haben Französisch geredet, Gwendolyn», sagt Mr. Lawrence.
«Sorry. Ich muss . an etwas anderes gedacht haben.»
«Sie sollen jetzt aber an die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt denken», sagt er.
«Gott, was für eine überhebliche Angeberin», sagt eines der Mädchen hinter mir.
Ich drehe mich um und sehe Astrid Foogle, die jetzt auch noch effektvoll die Augen verdreht. Sie ist siebzehn wie ich, sieht aber aus wie einundzwanzig. Ihrem Vater gehört eine Fluglinie.
«Das reicht, Astrid», sagt Mr. Lawrence.
Aber ich starre sie weiter an, durchbohre sie mit meinen Blicken. Astrid Foogle, deren Ohrringe mehr kosten als die gesamte Einrichtung in unserer Wohnung, nennt mich eine überhebliche Angeberin?
Astrid lässt sich nicht bremsen. «Ich meine, die kommt Anfang des Jahres von wer-weiß-woher und glaubt, sie steht über allem, und jetzt, huch!, spricht sie auch noch Französisch, nicht so wie wir dummen Amerikaner. Seht doch mal, wie gebildet sie ist, die Königin der Wohnwagensiedlung!»
«Hören Sie sofort auf damit, Astrid», unterbricht sie Mr. Lawrence.
Ein paar der Schüler nicken Astrid zustimmend zu, ein paar andere lachen. Ich spüre, wie ich anfange zu zittern, und mein Gesicht wird heiß. Mit meiner ganzen Willenskraft versuche ich, diese Reaktion zu verhindern, aber es gelingt mir nicht. Warum muss Wut immer so aussehen wie Scham?
Der Typ neben Astrid, Connor Monroe, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und grinst. «Check das mal, jetzt heult sie.»
Was nicht stimmt, aber jetzt, wo er es gesagt hat, ist es in den Köpfen der anderen schon so gut wie wahr. Lolololol gwenny bloom heult in Literatur #überheblicheangeberin #212justice
Die Schulglocke klingelt, und sofort drängeln sich alle wie die Pawlow'schen Hunde zur Tür. In dem erbärmlichen Versuch, die Ordnung wiederherzustellen, hält Mr. Lawrence sein Buch hoch und ruft: «Morgen gleiche Stelle, gleicher Ort!» Dann dreht er sich zu mir um. «Und Sie sind als Erste dran, Bloom. Sie haben die ganze Nacht Zeit, um über die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt zu meditieren, also liefern Sie mir etwas Brauchbares. Und zwar auf Englisch, por favor.»
Ich nicke und sammle meine Sachen zusammen. Draußen vor dem Klassenzimmer steht Astrid Foogle an ihrem Schließfach, wie immer umringt von ihrem Hofstaat. Sie macht mich gerade nach, hält einen Monolog in fehlerhaftem Französisch, zieht die Schultern hoch und drückt dabei ihre Nase mit dem Zeigefinger in die Luft.
Ich senke den Blick und schlängle mich an ihr und ihren Freundinnen vorbei, um an mein eigenes Fach zu kommen. Aber offenbar hat Astrid mich gesehen, denn plötzlich schweigen alle, und ich höre, wie die Absätze ihrer Schuhe - das sind Prada-Pumps, du Kuh! - auf mich zuklackern, das Gefolge direkt hinter ihr.
«Hey, Gwenny», fängt sie an. «Ich hab mal eine Übersetzungsfrage an dich. Wie sagt man auf Französisch?»
Ich ignoriere sie und gehe weiter, hoffe auf einen plötzlichen Schlaganfall - der sie trifft oder mich, das ist mir egal. Die Hitze strahlt mir vom Gesicht, mein Ärger wird zu Wut und dann zu irgendwas, was noch stärker ist als Wut. Ich kann mir nur so ungefähr vorstellen, wie das aussieht. Ich verschränke meine zitternden Arme vor der Brust.
«Ernsthaft», redet Astrid weiter, «denn jemand wie du muss doch immer mal wieder an Selbstmord denken. Ich meine, das ist ja nur natürlich, stimmt's? Also, s'il vous plaît, wie sagt man das, Gwenny? En français?»
Ich wirble herum, und die Worte schießen aus meinem Mund. «Va te faire foutre.»
Astrid bleibt stehen, und eine halbe Sekunde lang - nein, weniger - huscht etwas wie Angst über ihr Gesicht. Doch dann erinnert sie sich wieder daran, wo sie ist, nämlich in ihrem Königreich, umgeben von ihrem Gefolge, und die alte Astrid ist wieder da. Sie zieht ihre hübsch gezupften Augenbrauen hoch.
Eine ihrer Freundinnen, Chelsea Buchman, lächelt. «Astrid, sie hat dir gerade gesagt, du sollst dich ficken gehen.»
Astrids Mund öffnet sich zu einem O, und ich höre sie aufkeuchen....
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