Schweitzer Fachinformationen
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KAPITEL 2
Diese KVT-Therapie war nicht von Anfang an meine Idee gewesen. Meine einundzwanzigjährige Tochter Linda war eines Tages bei ihrem monatlichen Besuch in meiner Junggesellenbude der Meinung gewesen, ich solle endlich »mein Leben in die Hand nehmen«. Wie üblich hatten wir zusammengesessen und Ben & Jerry's gegessen, unser gemeinsames Laster. Diesmal war es eine Sorte mit Schokoladenfischen, eine für mich neue Bekanntschaft in dieser niemals abebbenden Flut von ebenso süßen wie suchterzeugenden Kalorienbomben. Ich hatte gerade darüber gemeckert, dass ich nachts nicht ordentlich schlafen könne und anschließend eine Tirade über die mangelnde Solidarität in der heutigen Strebergesellschaft losgelassen, weil meine jüngeren Kollegen Jenny und Alexander in der Werbeagentur Östros & Vänner ständig Projekte an sich rissen, an denen ich eigentlich auch einmal beteiligt gewesen war. Beispielsweise eine Kampagne zur Mülltrennung, die ihnen eine Nominierung in der Rubrik »Beste Zeitungsannonce« beim Kommunikationspreis Guldägget eingebracht hatte. Es geschah ihnen nur recht, dass es bei der Nominierung geblieben war, sonst hätten diese Betrüger auch noch meine Lorbeeren eingeheimst!
»Verdammt noch mal, Papa! Solidarisch ist man mit den Schwachen, nicht mit schadenfrohen und neidzerfressenen Männern mittleren Alters. Ich dachte, Indien hätte dich verändert. Aber du bist ja noch genau derselbe alte Sauertopf, der auf alle schimpft, die noch nicht so verbittert sind wie du.«
Ich war Lindas Vorstöße schon gewohnt. Sie war wohl der einzige Mensch, der mir gegenüber brutal ehrlich sein konnte, ohne dass ich es ihm übel nahm. Ich lächelte ironisch und tat ihren Vorschlag, eine Therapie anzufangen, sofort ab. Aber sie ließ nicht locker.
»Komm schon, Papa. Wenigstens ein Versuch? Alle machen das heutzutage«, versicherte sie.
»Max auch?«, fragte ich erwartungsvoll.
Max war der neue Mann meiner Exfrau Mia. Oder was heißt neu. Inzwischen waren sie schon fast zehn Jahre zusammen, was zufällig genau der Zeitspanne entsprach, die vergangen war, seit Mia mich von heute auf morgen verlassen hatte. Und obwohl ich irgendwann über Mia hinweggekommen war, war ich noch lange nicht über Max hinweg. Meinen Rivalen mit der Teflonhaut, an dem nichts anderes haften blieb als Geld, Geld und noch mehr Geld. Schmutziges Geld. Dieser Unternehmensberater, der es sich gut bezahlen ließ, andere Leute arbeitslos zu machen. Dieser Handelsreisende des menschlichen Unglücks, der seinen Opfern gegenüber mitleidsvoll den Kopf schieflegen konnte, um schon in der nächsten Sekunde gegenüber dem Auftraggeber sein widerwärtiges Haifischlächeln aufblitzen zu lassen. Er war einer dieser Typen, dem in der Öffentlichkeit niemals versehentlich ein Furz entfleuchen würde, ein selbstzufriedener Lackaffe, der in seinem neuen Leasing-Audi von der Arbeit nach Hause raste.
Linda sah mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost.
»Max? Nein, Max doch nicht«, kicherte sie. »Aber Mama.«
»Mia geht zu einem Therapeuten?«
»Du klingst geradezu erfreut darüber.«
»Nein, nur erstaunt.«
»Da ist gar nichts dabei, Papa. In unserer Zeit besteht doch die halbe Bevölkerung aus menschlichen Wracks. Psychische Probleme zu haben, ist ganz normal. Und wenn man sie nicht hat, ist man erst recht krank im Kopf. Oder religiös oder irgendeine Art Supermensch. Entweder frisst man Pillen oder geht zur KVT-Therapie, das ist ganz normal.«
»Machst du auch eine Therapie?«
»Nein.«
»Und frisst auch keine Pillen?«
»Ich bin nicht normal und habe auch nicht vor, es zu werden.«
»Nimmt Max Medikamente?«
»Jetzt hör aber auf! Nein, Max doch nicht, er nimmt selbstverständlich keine Medikamente«, kicherte sie erneut, ehe sie mir auf ihrem iPhone die Anzeige einer privaten Praxis auf der Stora Nygatan zeigte, wo die KVT-Therapie verhältnismäßig günstig war.
Max war nicht krank im Kopf und meines Wissens auch nicht religiös. Also war er ein Supermensch, jedenfalls in Lindas Augen, und das schmerzte mich mehr, als ich zugeben wollte.
Ich zog die andere Alternative in Erwägung. Pillen fressen, das klang um einiges einfacher. Dann aber las ich auf der Informationsseite der schwedischen Gesundheitsbehörde etwas über die häufigsten Nebenwirkungen von Antidepressiva, woraufhin erst mein innerer Hypochonder geweckt wurde und dann der ebenfalls in mir schlummernde Gockel. »Erektionsstörungen.« Genauso gut hätte dort in Flammenschrift I-M-P-O-T-E-N-Z stehen können. Seit meinem Indienaufenthalt war ich sexuell nicht mehr aktiv gewesen, aber die Morgenlatte weckte mich nach wie vor jeden Tag, und auch wenn ich keinerlei zwischenmenschliche Verwendung dafür hatte, erinnerte mein Ständer mich doch daran, dass ich noch immer ein tauglicher Mann war.
Aus diesem Grund saß ich also an jenem Freitagnachmittag Anfang September bei Karin Vallberg Torstensson und versuchte, einen Sinn in diesem farblosen, öden und sexfreien Leben in Schweden zu finden.
»Ich kann Indien sozusagen nicht mehr aus meinem System löschen«, sagte ich zum ungefähr fünfunddreißigsten Mal im Laufe meiner bisherigen Behandlung, und jetzt seufzte sie unüberhörbar. Das war sicher völlig unprofessionell, aber ich konnte sie verstehen. Wenn ich KVT-Therapeut wäre, hätte ich mich auch nicht in Behandlung haben wollen.
»Normalerweise bin ich nicht so direkt, aber ich muss Sie trotzdem fragen«, sagte sie und zögerte kurz. »Warum sind Sie eigentlich überhaupt zu mir gekommen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Haben Sie überhaupt ein Interesse daran weiterzukommen?«
»Sie meinen, mich aus der Traktorspur zu befreien?«
»Ganz genau.«
»Warum glauben Sie, dass es nicht so wäre?«
»Weil Sie es nicht einmal versuchen.«
»Aber ich möchte es wirklich.«
»Sicher?«
»Ja!«
Karin Vallberg Torstensson holte tief Luft und strich sich eine ihrer hübsch ergrauten Haarsträhnen hinters Ohr. In der Ferne ertönte ein Martinshorn. Ich sog den Duft ihres Parfüms ein, das eine schwache Zitrusnote hatte, und ließ meinen Blick in dem kleinem Raum umherschweifen, bis zu dem Schreibtisch, auf dem neben dem Computer auch ein geordneter Papierstapel und eine eingerahmte Fotografie von Frau Torstensson zusammen mit einem bebrillten Mann in meinem Alter zu finden waren. Sie lachten, umarmten einander und sahen in die Kamera. Dieser Mann war mit größter Wahrscheinlichkeit Herr Torstensson. Obwohl ich insgesamt mehr als sieben Stunden in diesem Zimmer verbracht hatte, bemerkte ich das Foto heute zum ersten Mal. Das bedeutete entweder, dass es erst seit Kurzem dort stand oder dass die Therapie erste Erfolge feierte. Denn so war es ja: Ich hatte innegehalten, den Duft inhaliert, den Geräuschen gelauscht, mich umgesehen, meine Umgebung wahrgenommen. Bedeutete das, dass ich auch präsent war?
»Okay. Wollen wir einen letzten Versuch unternehmen, Indien aus Ihrem System zu löschen?«
»Äääh .«
»WOLLEN WIR EINEN LETZTEN VERSUCH UNTERNEHMEN, INDIEN AUS IHREM SYSTEM ZU LÖSCHEN?«
Ich nickte.
»Dieser Yogi, von dem Sie immer sprechen. Warum würde er Ihr Problem denn Ihrer Meinung nach lösen können?«
»Weil er es beim letzten Mal auch getan hat.«
»Und er wird also heiraten, und Sie sind als Ehrengast zu seiner Hochzeit in Südindien eingeladen, die aus irgendeinem Grund verschoben wurde.«
»Wegen der Sterne«, erwiderte ich.
»Der Sterne?«
»Ja, die Hochzeit war zunächst für den 8. September geplant, aber weil man die Horoskope von Yogi und seiner künftigen Frau falsch berechnet hat, müssen sie erst geändert werden, bevor man ein neues Hochzeitsdatum festlegen kann. In Indien ist es wichtig, dass die Trauungszeremonie genau an dem Tag stattfindet, an dem die Sterne die richtige Himmelsposition haben.«
»Aha. Haben Sie denn Informationen darüber, wann das ungefähr der Fall sein wird?«
»Das wird sich wohl noch mindestens ein paar Monate hinziehen. Und dann werde ich mir wahrscheinlich nicht freinehmen können.«
»Und deshalb sind Sie niedergeschlagen?«
»Ja.«
»Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass Yogi durch seine Hochzeit ziemlich beschäftigt sein wird? Und vielleicht nicht alle Zeit der Welt für Sie haben wird, wenn Sie in Indien sind?«
»Er ist nicht wie andere Menschen. Er ist wie Hanuman, nur als Mensch.«
»Hanuman?«
»Der Affengott, der Gott der Freundschaft und Loyalität.«
Karin Vallberg Torstensson wirkte ratlos. Rein therapeutisch gesehen waren wir wohl Lichtjahre von jener KVT-Therapie entfernt, für die sie Expertin war. Aber gleichzeitig war sie eine kluge Frau und sah offenbar ein, dass ich diese Rettungsleine zu diesem Zeitpunkt brauchte.
»Ich verstehe. Wollen wir nicht Folgendes sagen, Göran - dass wir ganz einfach den Lauf der Sterne am Firmament abwarten und das Hochzeitsdatum, zu dem sie uns führen. Es ist durchaus möglich, dass Sie sich dann auf Ihre Reise begeben werden. Aber bis dahin können Sie mit Ihrer Liste arbeiten. Hier und jetzt. Haben Sie sie dabei?«
Ich nickte erneut, zog das zusammengefaltete A4-Blatt aus der Innentasche meines braunen Cordsamt-Jacketts und öffnete es. Es war eine erbärmliche Liste. Vielleicht nicht in erster Linie wegen dem, was darauf stand, sondern eher wegen dem, was fehlte. Ich hatte die...
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