Schweitzer Fachinformationen
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An einem sonnigen Morgen im Mai landete Marcel Klein, der berüchtigte Filmkritiker, am Flughafen von Nizza. Als er das Terminal verließ, war weit und breit kein Taxi zu sehen. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Mit einer Mappe fächelte er sich Luft zu. Trotz des herrlichen Wetters war er angespannt, ja geradezu gereizt, als könnte er bereits jetzt den Sturm spüren, der sein Leben bald in Schutt und Asche legen würde. Endlich kam ein Wagen. Marcel stieg ein. Während der ruckeligen Fahrt nach Cannes blätterte er in seinem Notizbuch - er sollte sich Fragen für ein Interview ausdenken, aber er war zu müde. Seit fünf Uhr früh war er auf den Beinen, noch dazu hatte er im Flugzeug seinen Fensterplatz aufgegeben, damit eine gestresste Mutter bei ihrer Tochter sitzen konnte. Den Anflug von Selbstlosigkeit hatte er sofort bereut. Ein guter Journalist sollte knurrig sein, wie er fand. Je knurriger, desto besser, das zeichnete den Profi aus. Dabei war Marcel Klein im Grunde nur ein Mensch, der die Kunst des Glücklichseins nie erlernt hatte.
Unerträglich, diese Hitze. Das Fenster klemmte. »On ne peut pas ouvrir la fenêtre?«, rief er dem Taxifahrer zu. Der Mann ignorierte ihn, fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit in eine Kurve. Marcel fluchte leise. Als das Taxi endlich vor dem Hôtel de Provence anhielt, zahlte er und ging mit seiner Reisetasche durch den malerischen Vorgarten auf den Eingang zu.
Dann sah er sie. Sie trat aus dem Hotel in die Sonne und schaute sich suchend um, hielt eine Hand über ihr Gesicht. Blasser Teint, schwarzes Haar, das ihr in dichten Locken auf die Schultern fiel. Sie war schlank, für Marcels Geschmack sogar ein wenig zu schlank. Was ihm jedoch auf Anhieb gefiel, war die Melancholie, die sie umgab. Wie die meisten Männer fand er den Schmerz schöner Frauen unwiderstehlich.
Sie schulterte ihre Handtasche und ging wieder hinein. Als Marcel das klimatisierte Foyer betrat, füllte sie gerade am Empfangsschalter ein Formular aus. Marcel stellte sich an, in der stillen Hoffnung, sie möge sich umdrehen. Er hatte Sehnsucht nach ihrem Gesicht. Doch sie drehte sich nicht um. Als sie fertig war, ging sie mit ihrem Rollkoffer zum Aufzug und verschwand. Er schaute ihr so lange hinterher, bis ihn der Mann an der Rezeption fragte, ob er ihm helfen könne?
Natürlich. Désolé.
Beim Einchecken gab es ein kleines Problem - Marcels Zimmer war noch nicht bereit. Er könne aber sein Gepäck hier abstellen und sich solange ins Bistro setzen. Vielleicht etwas frühstücken?
Marcel nickte und ließ sich den Weg zur Toilette in der Lobby zeigen. Beim Händewaschen schaute er in den Spiegel und war enttäuscht. Er hatte mal gut ausgesehen, aber jetzt? Sein Haarwuchs nahm ab und seine Taille zu. Früher hatte man ihn mit George Clooney verglichen, aber das kam nur noch selten vor. Immerhin hatte er Stil. Heute trug Marcel einen hellen Anzug mit einem schwarzen Hemd und - statt einer Krawatte - einen Schal, den er jetzt dandyhaft über die Schulter warf. Dazu seine Ray-Ban und den Strohhut, mit dem er die Stirnglatze zu verbergen suchte.
Er ging ins Bistro des Hotels. Der Kellner, ein hochgeschossener Mann mit gepflegtem Vollbart, wies ihm den letzten freien Platz zu, einen Zweiertisch auf der Terrasse, im Schatten einer rotweißen Markise. Marcel gab seine Bestellung auf und schaute dem Kellner missbilligend hinterher. Er mochte keine Bartträger. Sein Vater hatte einen Bart gehabt. Gelegentlich hatten darin Eidotter oder andere Essensreste geklebt.
Er blickte auf seine Tissot. In anderthalb Stunden wurde er im Carlton erwartet. Ein neuer Actionfilm mit John Travolta in der Rolle eines Rennfahrers, der in ein Mordkomplott verwickelt wird. Das Übliche eben. Marcel musste hin, obwohl es bei Pressekonferenzen eigentlich nie viel zu holen gab. Man war dort nur ein Ferkel am Trog, umringt von Kollegen, die alle um dieselben Bröckchen wetteiferten. Aber wenigstens gab's da was zu essen. Das war einer der Pluspunkte des Jobs, man konnte sich gelegentlich auf Kosten anderer durchfuttern. Übermäßig viel verdiente man nicht. Und damit war Marcel wieder bei der unerfreulichen Mahnung, die gestern ins Haus geflattert war. Er war mit der Abzahlung eines Kredits im Rückstand, eine Nichtigkeit, aber seine Bank war in letzter Zeit so pingelig. Er überlegte, ob er seine Mutter um eine Finanzspritze bitten sollte, aber sie würde ihm nur wieder Vorwürfe machen. Sie wusste immer alles besser. Also beschloss er, das Thema erst mal beiseitezuschieben. Im Verdrängen unbequemer Wahrheiten war er ein Meister.
Jetzt bekam er seinen Espresso. Allerdings nur lauwarm. Auch das noch. War heißer Kaffee zu viel verlangt? Er war schließlich nicht irgendwer. Er war der »Große Klein«. Der »Promi-Flüsterer«. Vor allem war er Perfektionist. Die Fehler anderer waren unverzeihlich. Er schaute sich nach dem Kellner um.
In dem Moment trat die schöne Fremde auf die Terrasse. Sie hielt nach einem Sitzplatz Ausschau. Das Sonnenlicht ließ ihre Augen tiefgrün auf?leuchten. Ihre Blicke trafen sich. Einer Eingebung folgend deutete er auf den freien Stuhl an seinem Tisch. Als sie auf ihn zukam, erhellte ein Lächeln ihr Gesicht.
»Cette place serait-elle libre, Monsieur?«, fragte sie höf?lich.
»Oui«, sagte Marcel. Seine Schläfen pochten. »Oui, of course, bien sûr. Yes.«
»Merci.«
Sie setzte sich mit einer leichten, fließenden Bewegung. Marcel selbst war ungeschickt und daher neidisch auf anmutige Menschen. Sie trug einen schlichten weißen Rock und eine marineblaue Bluse, die oben aufgeknöpft war. Marcel sah in ihrem hübschen Ausschnitt ein kleines, silbernes Kruzifix aufblitzen, auf das er innerlich so reagierte wie ein Vampir in einem Gruselfilm.
Sie hängte ihre Handtasche über die Stuhllehne und überkreuzte die Beine. In ihrer Linken hielt sie ein Festivalprogramm. Marcel schätzte sie auf Ende dreißig oder Anfang vierzig. War sie beim Film? Oder bloß eine Zivilistin?
»Il y a du monde, ce matin«, sagte sie mit einem Blick über die Gartenterrasse - viel los heute Morgen.
Marcel mochte den tiefen Klang ihrer Stimme. »Oui«, erwiderte er.
Sie schauten einander kurz an, dann wandte Marcel den Blick verlegen wieder ab. Dabei war er an sich nicht schüchtern. Er stand gerne im Mittelpunkt.
»Le festival, c'est populaire«, sagte er. Es war ihm peinlich, Französisch zu sprechen. Sein Vater hatte in Straßburg gelebt, und obwohl Marcel in seiner Kindheit dort viel Zeit verbracht hatte, war ihm die Sprache fremd.
Dann sagte sie: »Votre français est horrible.«
»Sorry. Désolé.« Marcel errötete ein wenig.
»Allez, je vous pardonne.« Sie lachte, glockenhell und gut gelaunt. Dann fragte sie ihn, woher er komme. Aus Amerika?
Marcel schüttelte den Kopf. »Allemagne. Berlin.«
Ihr Blick erhellte sich. »Ah, oui?«
Diese Reaktion überraschte ihn. In der Regel rief sein Outing als Deutscher keinen übermäßigen Enthusiasmus hervor.
Die Fremde blickte ihn nun unverwandt an: »Dann können wir Deutsch sprechen«, sagte sie mit einem charmanten Akzent. Sie sei Lehrerin am Lycée. Deutsch und Englisch, Letzteres aber nur für die Unterstufe. Ihr Spezialgebiet sei eben Deutsch. Sie liebe die Sprache, vor allem wegen Wim Wenders, dessen Filme sie sehr bewundere.
»Ach? Und woher kommen Sie?«, fragte Marcel, der das Thema wechseln wollte.
Aus Metz kam sie. Und sie freute sich über jede Gelegenheit, ihre Deutschkenntnisse an Eingeborenen auszuprobieren. Sie hielt ihm die Hand entgegen: »Héloïse Becker.«
»Marcel Klein«, sagte er.
Mit gespielter Formalität schüttelten sie einander die Hände. Héloïses Finger waren kalt. Marcel merkte, dass er eine Erektion bekam. Er räusperte sich, schlug unauf?fällig die Beine übereinander und bemühte sich, an unangenehme, langweilige Dinge zu denken: Eidotter, bärtige Männer, Wim Wenders.
»Was machen Sie hier in Cannes . Monsieur Klein?«
Er quittierte das Filmzitat mit einem anerkennenden Lächeln: Monsieur Klein mit Alain Delon und Jeanne Moreau, aus den Siebzigern. Es ging um Betrug und Doppelmoral. Solche Filme machte heute keiner mehr.
Er zuckte die Achseln. »Ach, nichts Besonderes«, erwiderte er. Er müsse einfach nur viel arbeiten: »Und Sie können ruhig Marcel zu mir sagen.«
Dann schwieg er - ein Schachzug, um sie aus der Reserve zu locken. Bei Interviews war er ein alter Hase.
»Und was arbeiten Sie . Marcel?«
»Je suis journaliste.«
»Ah, oui?« Ihre Miene erhellte sich. Wenn die Leute »Journalist« hörten, dachten sie immer an Tim und Struppi. »Vous écrivez sur .« Ihre Stimme brach mitten im Satz ab, dann sprach sie auf Deutsch weiter: »Sie schreiben über das Festival? Über Film?«
»Oui, c'est ça.«
Er nippte an seinem inzwischen kalten Kaffee. Vor allem, damit seine Finger etwas zu tun hatten, und weil seine Erektion nur langsam nachließ. Er überlegte, ob er sich später auf dem Hotelzimmer einen runterholen sollte. Das wäre strategisch klug. Wer will schon vor John Travolta mit einem Ständer auf?tauchen?
»Und was schreiben Sie?«, fragte Héloïse.
»Na ja, so . Filmkritiken, Kolumnen, Features und so weiter. Aber in den letzten Jahren habe ich mich vor allem auf Interviews spezialisiert.«
Ihr Blick machte ihn nervös. Marcel fand...
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