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Amtsgerichtsrat de Lorche betrat das Schlafzimmer seiner Frau. Er legte den Zylinderhut und die Mappe auf den Tisch neben der Tür und ging auf Zehenspitzen zum Bett.
Frau de Lorche schlief. Ihr Haar, gescheitelt und glatt gekämmt, teilte sich in zwei dicke, ellenlange Zöpfe, deren genaue, symmetrische Platzierung quer über die Schultern und die Brust von gründlichem Ordnungssinn zeugte. Die üppigen Spitzen des Nachtgewandes lagen glatt und wie geleckt da, gleich dem Federschmuck eines Vogels, der sich gut geputzt hat. Ein ungestörter Schlaf vollendete die Symmetrie des Gesichts, das nur von jenem einzigen Fältchen auf der Stirn gezeichnet war. Das Wunder, das Elsa von Battwyhl zur Schönheit von Wadköping gemacht hatte, war ein gediegenes Wunder. Die aschblonde, grazile Frau, die – bei genauem Nachrechnen – den Vierzigern bedenklich nahe sein musste, glich der schlafenden Ursula, der jungfräulichsten unter elftausend Jungfrauen.
Carl-Magnus beugte sich behutsam hinab und berührte mit den Lippen den aschblonden Zopf, der ihm am nächsten lag.
Danach zog er sich zurück und verließ auf Zehenspitzen das Schlafzimmer.
Im Schreibkabinett öffnete er beide Fensterflügel, ließ die Rollgardine herunter und setzte sich auf die Bank in der Fensternische. Er zündete eine Zigarette an, sog den Rauch tief ein und blies ihn sorgfältig hinter der Gardine aus. Nachdem er etwa zwanzig Zigaretten geraucht und sich vier- oder fünfmal zu seiner noch immer schlafenden Frau hineingeschlichen hatte, schlugen die Uhren sieben, die Domkirchenuhr, die Rathausuhr, die Uhr im Schlafzimmer, die im Kabinett, im Wohnzimmer und die vier Uhren im Salon. Über den Platz rasselten Fuhrwerke, Schritte klapperten auf dem Steinpflaster, vorbei war es mit der Ruhe. Carl-Magnus seufzte abgrundtief und zündete sich die einundzwanzigste Zigarette an.
Louis betrat das Kabinett, ein paar Bücher unter dem Arm. Als er seinen Vater erblickte, blieb er unvermittelt stehen, verbeugte sich ein wenig ungeschickt, richtete sich, rot im Gesicht, wieder auf, schlug die Hacken zusammen und machte abermals eine Verbeugung; diese nach allen Regeln der Kunst. Dann sagte er: «Ich wusste nicht, dass du zu Hause bist.»
Der Amtsgerichtsrat nickte. «Ich bin gestern Abend gekommen. Mama hat mir telegrafiert. »
Als Louis ein paar Schritte zur Schlafzimmertür hin machte, hob er die Hand. «Wohin willst du? Mama schläft.»
Der Junge errötete noch mehr. «Heute ist das Examen», murmelte er. «Ich wollte Mama Adieu sagen.»
«Sie schläft», wiederholte der Amtsgerichtsrat.«Soso, Examen. Ich hoffe, dass du dich von dieser Sache hier nicht beunruhigen lässt. Sodass es im Examen schiefgeht. Das ist es nicht wert.»
Louis schüttelte den Kopf. Seine Stimmbruchstimme klang lächerlich rau, dunkel, bedrohlich.«Ich nehme an, dass du diesen Gauner fertigmachst, Papa. So!» Und er machte eine mörderische Geste dazu.
Der Amtsgerichtsrat lächelte; es war ein Lächeln, das durch die Zigarette im Mundwinkel ein wenig schief geriet. «Ich verbitte mir, dass du das Wort ‹Gauner› gebrauchst. Das ist ungezogen. Wenn jemand mich einen Gauner nennen würde, würdest du begreifen, wie ungezogen das ist.»
Louis de Lorche murmelte zwischen zusammengebissenen Zähnen: «Ich nehme an, dass niemand so etwas in meiner Gegenwart sagen wird.»
«Wahrscheinlich nicht», räumte der Amtsgerichtsrat ein. «Aber man soll sich nicht zu sehr auf das Zartgefühl der Leute verlassen.»
Louis starrte seinen Vater mit weit aufgerissenen Augen an, Augen, die rund waren wie die einer Katze.
Nach einem von Rauchwolken erfüllten Schweigen fragte Carl-Magnus: «Triffst du den jungen Markurell?»
Louis nickte und schlug die Augen nieder.
Der Amtsgerichtsrat putzte seinen Kneifer mit der üblichen Sorgfalt. Als er die Gläser anhauchte, verzog er die Lippen zu einem krampfhaften Grinsen. «Du kannst ihm einen Gruß bestellen und ihm sagen, dass es nicht so böse gemeint war. Damals. Als ich ihn bat, unsere Treppen nicht unnötig abzunutzen.»
Louis beeilte sich, zu sagen: «Ich spreche nicht mit ihm. Nach dem, was sich ereignet hat. Sein Vater ist ein Schwindler.»
Der Amtsgerichtsrat fuhr fort: «Sag ihm das. Außerdem kannst du ihn nach Stortofta hinausbitten. Wir werden in der nächsten Woche dorthin übersiedeln. Bitte ihn, ein paar Wochen zu bleiben.»
«Das tue ich nicht», entgegnete Louis de Lorche, rot angelaufen, schwer atmend, beinahe schluchzend. «Das tue ich nicht!»
Der Amtsgerichtsrat zündete sich eine neue Zigarette an, zog die Gardine ein wenig zur Seite und paffte zum Fenster hinaus. Eins von Louis’ Büchern fiel zu Boden, er hob es auf und bog eine Ecke des Deckels sorgfältig zurecht. Schließlich fragte er: «Willst du wirklich, dass ich das Johan sage?»
Carl-Magnus antwortete ruhig und leise: «Ich glaube mich erinnern zu können, diesen Wunsch geäußert zu haben.»
Louis de Lorche schlug die Hacken zusammen und streckte seinen über Büchern krumm gewordenen Rücken. «Wie du willst, Papa. Selbstverständlich.»
Im gleichen Augenblick rief Frau de Lorche ihren Sohn.
Der Junge fragte: «Darf ich hineingehen?»
Der Amtsgerichtsrat nickte.
Sobald die Tür geschlossen war, sprang er auf und begann, leise, aber schnell zwischen Fensternische und Tür hin- und herzugehen. Wie durch ein Wunder veränderte sich sein Gesicht. Die steife, undurchdringliche Wadköping-Maske dumpfer Gleichgültigkeit fiel von ihm ab. Die Augen glänzten, die Muskeln spielten, die Lippen formten rasch Kaskaden ungesagter Worte. Er bewegte sogar Hände und Arme, machte Gesten, begnügte sich nicht mehr damit, seinen Kneifer zu putzen.
Als die Türklinke der Schlafzimmertür heruntergedrückt wurde, sprang er mit einem lautlosen Satz in die Fensternische. Zündete eine Zigarette an.
«Mama bittet dich hereinzukommen.»
Carl-Magnus nickte.
Louis marschierte zum Ausgang, drehte sich um, stand stramm und sagte: «Adieu, Papa.»
«Adieu», antwortete der Amtsgerichtsrat, erinnerte sich der Bedeutung des Tages und fügte hinzu: «Ich sage nicht: Viel Glück. Du weißt aber, lieber Louis, du weißt, wo ich mit meinen Gedanken sein werden.»
Wahrscheinlich wusste Louis, wo die Gedanken des Vaters sein würden, oder zumindest, wo sie nicht sein würden. Unleugbar war die Redewendung aber eine Freundlichkeit. Und der Stimmbruchstimme gelangen trotz aller Beherrschung ein paar wunderschöne Tonleitern mit dem kurzen Satz: «Danke, Papa!».
Hacken zusammengeschlagen, strammgestanden, kehrt marsch!
Der Amtsgerichtsrat warf die Zigarette aus dem Fenster und ging ins Schlafzimmer. Frau de Lorche saß vor der Frisiertoilette und kämmte sich das aschblonde Haar. Die Ehegatten nickten und lächelten einander im Spiegel zu. Carl-Magnus schob den Zylinder zur Seite und setzte sich auf den Tisch neben der Tür; er nahm die Mappe auf den Schoß und blätterte in den Papieren.
«Nun?», fragte Frau de Lorche. «Hast du mit ihr gesprochen?»
«Ich habe mit ihr gesprochen. Von ein Uhr bis drei Uhr. Das war das zäheste nächtliche Strafgericht, das ich je erlebt habe. Frau Markurell ist nicht besonders intelligent.»
«Sie ist hübsch», warf Frau de Lorche ein und lächelte sich selbst zu.
«Ja», pflichtete der Amtsgerichtsrat bei, «sie ist noch immer hübsch. Doch für einen Mann, der den Kelch der Demütigung bis zur Neige leeren muss, bedeutet Schönheit nichts. Ich hätte lieber mit Herrn Markurell gesprochen. Wenn ich nur die geringste Aussicht gehabt hätte, etwas zu erreichen.»
«Nun?», wiederholte Frau de Lorche.
«Tja-ja-ja-ja-ja», murmelte Carl-Magnus und blickte starr in die von Papieren schwellende Öffnung seiner Aktentasche. «Natürlich wird sie tun, was sie kann. Was aber kann sie schon tun? Erstens hat sie nie einen größeren Einfluss auf den Herrn Gemahl ausgeübt, zweitens ist sie dumm, drittens habe ich entdeckt, dass sie abscheulich launisch ist. Offen gesagt: Ich habe Angst. Es besteht ein Risiko. Dass sie eine Indiskretion begeht.»
Der Kamm glitt leise knisternd durch das aschblonde Haar, die Weiße des Arms glänzte im Spiegel, die Lippen entblößten glitzernde Zähne. Und nun konnte man sehen, dass das einzige kleine Fältchen auf der Stirn wirklich ein Lachfältchen war.
«Ich glaube nicht», sagte Frau de Lorche, «dass du Angst zu haben brauchst. Frau Markurell ist vielleicht furchtbar launisch, aber eine Indiskretion wird sie nicht begehen. In dieser Hinsicht. Das tut man einfach nicht. Bei all ihren Launen.»
Der Amtsgerichtsrat streifte sie mit einem raschen Blick. «Ja-ha», sagte er. Und fuhr dann in einem ganz anderen Ton fort: «Es ist etwas Schreckliches, etwas Unwirkliches und Schreckliches. Wie ein Albtraum! So nahe dem Ziel zu sein. Ich stehe sozusagen da mit vergoldeten Fingerspitzen. Tantalusqualen! Ich brauche drei Monate, allerhöchstens sechs. In sechs Monaten muss Frieden sein, in sechs Monaten müssen die Kurse steigen. Dieser verfluchte Balkan16 …»
Frau de Lorche, die letzte Hand an ihr Aschblondes gelegt hatte, erhob sich und fragte: «Na, was meinst du, soll ich etwas Schwarzes anziehen?»
Carl-Magnus’ dunkelgraue Augen nahmen einen merkwürdig hitzigen und schwermütigen Ausdruck an. Er streckte die Arme aus, ließ sie wieder sinken. Murmelte: «Dein Morgenrock kleidet dich vortrefflich!»
Frau de Lorche entgegnete: «Das spielt keine Rolle mehr. Es gilt, gediegen zu wirken. Louis wird im Herbst achtzehn. Ob ich Betty losschicke, mir so eine weiße Spitzenmütze mit lila Bändern zu kaufen? Ich könnte mir denken,...
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