Schweitzer Fachinformationen
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"Lieber Joachim,
Wie geht es dir in der Hauptstadt? Ich hoffe gut. Ich kann dich mir kaum vorstellen, als hochrangiger Bürokrat in der grossen Stadt. Ich sehe dich immer noch als den eifrigen jungen Mann, der damals bei mir studierte. Wie viele Jahre ist es her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben? Zu viele. Ich selbst bin nun seit geraumer Zeit nicht mehr als Professor tätig, sondern arbeite an einem wissenschaftlichen Projekt für die Regierung. Ich will dir gerne alles darüber erzählen, denn ich werde in zwei Tagen in die Hauptstadt reisen. Das heisst wenn dich dieser Brief pünktlich erreicht, nur noch in einem Tag.
Ich wurde von einem gewissen Herrn Patrick Hofmeister eingeladen der Geschäftliches besprechen möchte. Er kommt sogar für die Zugfahrt auf. Du siehst also, es ist für mich nicht ruhiger geworden, ganz im Gegenteil, ich habe mehr zu tun als je. Deshalb freue ich mich auch auf ein Paar Tage weg von Severinstadt, um endlich etwas Ruhe zu haben. Obwohl ich gehört habe, die Hauptstadt sei alles andere als Ruhig. Ich war nur wenige Male dort, zuletzt vor ein Paar Jahren, und es soll sich viel geändert haben. Ich bin im Hotel Biedermann untergebracht, suche mich doch bitte morgen am Nachmittag dort auf. Ich werde in der Wirtschaft am Tresen auf dich warten.
Herzliche Grüsse und bis bald,
Ewald Baumgartner"
Joachim nahm gemächlich einen Schluck Tee, während er den Brief von seinem alten Freund Professor Baumgartner las. Ein ungewohntes Lächeln hatte sich beim Lesen auf seinem Gesicht ausgebreitet. Professor Baumgartners baldiger Besuch war eine erfreuliche Nachricht, eine willkommene Abwechslung in Joachims Alltag. Obwohl seine Arbeit eine bedeutende Berufung für ihn war, konnte sie trotzdem eintönig werden.
Joachim war ein junger Bürokrat in der Hauptstadt, kaum über 30 Jahre alt, aber mit einer, für sein junges Alter, ziemlich erfolgreichen Karriere hinter sich. Er war ein ansehnlicher Mann, von durchschnittlicher Statur und schmächtigem Körperbau. Seine halblangen Haare entsprachen nicht mehr ganz der Mode, aber er war auch nicht die Art von Person die jeder neuen Tendenz gedankenlos nachging. Zwischen seiner ausgeprägten Nase und etwas prominenten Augenbrauen waren zwei stahlblaue Augen mit eifrigem Blick zu erkennen. Zusammen mit seinem spitzen Kinn konnten sie ihm gelegentlich eine starke Präsenz verleihen konnte, sofern er die genügende Selbstsicherheit aufbrachte. Joachim sass an seinem Schreibtisch und legte den Brief nieder, schaute sich dann in seinem Büro um.
Weit hast du es gebracht. Dein eigenes Büro in der Hauptstadt, mit Heizofen und elektrischem Licht. Vor zehn Jahren hättest du dir das kaum vorgestellt, du in dieser hohen Position. Wie hast du damals im gemeinschaftlichen Arbeitsraum auf die hohen Bürokraten aufgesehen, voller Hochachtung und Neid. "Wie die werde ich auch mal sein", hast du dir jedes mal eingeredet. Und jetzt bist du hier. Und doch fehlt dir etwas. Du dachtest dies würde dich schliesslich erfüllen, doch du fühlst dich genau so leer wie zuvor, nur warm und gemütlich sitzt du jetzt. Doch von warm und gemütlich lebt der Mensch nicht. Diese grosse Stadt, so voller Leute... und alle so einsam, in diesem Ameisenhaufen.
Joachim widmete sich weiter seiner Arbeit. Der Regen klopfte an das Fenster seines Büros und liess die Fensterscheiben leicht klirren. Die dunklen Sturmwolken vermischten sich mit dem schwarzen Rauch, den die unzähligen Schlote der Hauptstadt ausspien, was den Tag fast so dunkel wie die Nacht erscheinen liess. Joachim bediente sich seiner elektrischen Lampe um mit seinen Notizen gemütlich fortfahren zu können. Das Gebäude war erst vor knapp über einem Jahr mit dieser modernsten aller Erfindungen, dem elektrischem Licht, ausgestattet worden. Wahrlich eine eindrucksvolle Errungenschaft der modernen Zivilisation. Was würde der Mensch wohl als nächstes erfinden?
Seit einigen Tagen war Joachim mit der Generalinventarisierung für den Kreis 31 der Hauptstadt beschäftigt, welche monatlich vorzulegen war. Die verschiedenen Versorgungsmängel waren schon seit längerer Zeit zur Norm geworden, doch Joachim konnte trotzdem noch eine angemessene Verteilung zusammenzustellen. Auf dem Papier zumindest passte alles, und Papier ist bekanntlich geduldig. Wenig mehr als ein Jahr war es her, dass Joachim zum Abteilungsleiter für Rationierung und Inventarisierung des Grundbedarfs befördert worden war. Seine Arbeit hatte einen direkten Einfluss auf die Bürokratieverwaltung der Industrie. Diese Position war schon lange Joachims grosse Ambition gewesen. Zuvor hatte er viele Jahre als niederer Beamter in der selben Verwaltung vom Kreis 31 geschuftet, seit seinem Studienabschluss. Das Studium zum Beamten war in der Mittelschicht eine angesehene Laufbahn, die eine solide Anstellung in der Verwaltung mit sich führte. Die Regierung hatte diese Laufbahn während der Epoche des Übergangs eingeführt, als die Bürokratie umfunktioniert wurde, von der Monarchie zu der heutigen Technokratie. Um gegen die zuvorigen, chaotischen Zustände vorzugehen, war entschieden worden, dass die Verwaltung stark ausgebaut werden sollte. Vor allem junge Leute aus den mittleren Gesellschaftsschichten wurden angeworben, um sich dieser Aufgaben anzunehmen. Die aristokratischen Oberschichten waren sich zu fein um sich mit solchen banalen, unwürdigen Aufgaben auseinanderzusetzen, und die Arbeiter und Bauern hingegen waren ungebildet, die meisten konnten kaum lesen und schreiben. Mit diesen neuen Aufstiegsmöglichkeiten hatte sich die Technokratie bei der Mittelschicht sehr beliebt machen können, was ihren Machtanspruch festigte.
Als Joachim mit dem letzten Formular fertig war legte er seine Feder auf den Tisch und erhob sich um dann aus dem stehen nochmals seine Arbeit zu betrachten. Es schien so weit alles sachgemäss. Er schlenderte am Schreibtisch vorbei zum kleinen Heizofen, auf dessen Oberfläche sich die Teekanne warm hielt. Joachim goss sich eine Tasse Tee nach, den er sich nun verdient hatte, und starrte aus dem Fenster. Der Mann mit einem dunklen Mantel und Hut fiel ihm nicht auf, obwohl dieser von der gegenüberliegenden Strassenseite direkt in Joachims Büro schaute. Der Regen schien nicht nachzulassen, und auch so war es wohl vergebens, heute noch auf etwas Sonnenschein zu hoffen. Die Sonne war mit der Zeit zu einer Seltenheit geworden, seitdem sich die rauchenden Schornsteine massenweise vermehrt hatten. Auch ohne Regen verdeckte der Rauch meistens den Himmel, selten waren die Tage, an denen starke Windböen diese Rauchdecke öffnen konnten. Es war der Preis den die Hauptstadt dafür bezahlte, an der Vorfront des technologischen Fortschrittes zu sein.
Anstatt der Sonne erhellten dann eindrucksvolle elektrische Strassenlaternen die Strassen und Plätze. Diese Laternen, die äusserlich nur wie eine Kugel aus weissen Glas erschienen, enthielten sogenannte Bogenlampen, die mit Elektroden aus Kohle ein blendendes, weisses Licht von sich gaben, welches die ganze Umgebung erhellen konnte. Alle grösseren Strassen und Plätze waren schon seit einigen Jahren mit diesen Geräten ausgestattet worden. Joachim erinnerte sich mit Affekt an die damaligen Zeremonien, bei welchen diese neue Errungenschaft der Bevölkerung vorgestellt wurde. Der Bürgermeister selbst und Vertreter der Regierung waren zumeist anwesend. Lange Reden wurden gehalten, in denen man von einer glorreichen Zukunft sprach, in der nicht nur diese sondern auch andere Bedürfnisse durch den Erfindergeist versorgt werden sollten. Es war als ob der Tumult, der die lange Epoche des Übergangs gekennzeichnet hatte, nun endgültig vergessen werden konnte, und sich alles endlich zum besseren bekehren würde. Das Licht der Strassenlaternen sollte also auch symbolisch den Weg in die Zukunft erleuchten. Joachim bewahrte als Erinnerung eine Photographie einer solchen Eröffnungszeremonie in seinem Büro auf. In der erfreuten Menge, die auf dem Lichtbild zu sehen war, konnte man auch ihn erkennen.
Kaum zwei Jahre nach der Einrichtung dieser elektrischen Strassenlaternen kamen auch schon die ersten Kürzungen, und die Lampen konnten nicht einmal mehr die Nacht hindurch brennen. Zur Zeit als Joachim zum Abteilungsleiter befördert wurde, hatte diese Stelle schon längst ihr Prestige verloren. Die leitenden Beamten, die alle Güter rationieren mussten, wurden als Sündenböcke für die Mängel gesehen, und man sagte ihnen nach, sie würden an sich selbst und ihre Freunde mehr verteilen, als an den Rest der Bevölkerung.
So viel Schweiss, so viel Anstrengung, und jetzt bist du schon wieder nur ein verhasster Beamter. Wo du auch hin willst, du kommst doch immer zu spät. Was auch immer du dir vorsetzt, es kommt doch nicht so, wie du es wolltest. Wie dieses magische Licht der Strassenlaternen das die Zukunft erleuchten sollte. Und was ist daraus schon geworden? Die Welt ändert sich so schnell, und du schaffst es niemals, ein wirklicher Vorreiter zu sein, egal wie sehr du es versuchst.
Das Unwetter machte es keine angenehme Aufgabe, die Wärme des Büros zu verlassen, doch Joachim wollte wie immer persönlich die Verteilungsstelle für Kohlen aufsuchen, um den Stand der Vorräte zu vermerken. Er hätte zwar eine...
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