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Die Kirche San Spirito in Sassia lag nur einen Steinwurf vom Vatikan entfernt. Auf alten Fundamenten aus dem achten Jahrhundert ruhend, war sie vor wenigen Jahren erneuert worden, und nun wurde ihr Innenraum neu gestaltet. Antonia stand auf einem verschachtelten Gerüst und überwachte das Einsetzen eines neuen Fensterteils, als Sandro die Kirche betrat. Nervös dirigierte sie die Männer nach links und rechts und oben und unten, und nie konnte es ihr langsam oder schnell genug gehen, egal, was die Männer taten. Die Arbeit eines Monats stand auf dem Spiel, denn das frisch fertiggestellte Fensterstück war während des Prozederes des Einsetzens in das Mauerwerk so anfällig wie nie davor und nie mehr danach.
Sandro verhielt sich still. Er wollte nicht, dass seine Anwesenheit Antonia ablenkte, und betrachtete aus einer Nische heraus die Arbeit der Frau, die er liebte. Wie erfrischend ihre Fenster waren! Sie stellte den Namenspatron der Kirche, den Heiligen Geist, als einen Jüngling dar, ein wenig launisch zwischen Heiterkeit und Nachdenklichkeit schwankend, voller Ideen, deren Umsetzung nicht gelang, voller Elan auch, der immer wieder durch menschliche Zuwiderhandlung gebremst wurde. Das war Antonias Stärke: den Figuren der Heiligen Schrift ein um einen Aspekt erweitertes Antlitz zu geben, ihnen gleichsam die Bärte abzuschneiden, ohne die Figur als solche anzutasten. Aus Sündern wurden keine Heiligen, aus Ungerechten keine Gerechten. Aber sie zeichnete sie von einer anderen Perspektive, und sie ging dabei mit einem Maß an Mut vor, das niemals in Infamie umschlug. Die Gestalten ihrer Fenster, auch die göttlichen, waren ohne Pathos, so als wohnten sie um die Ecke, aber sie waren nie gewöhnlich.
Als das Fenster endlich an seinem Bestimmungsort angekommen war und die Helfer das Gerüst verlassen hatten, trat Sandro aus seinem Versteck und blickte nach oben. Antonia kniete auf den Brettern und befreite das Glas von Staub. Die Morgensonne fiel herein und tauchte sie in das Licht ihrer eigenen Schöpfung: Blau-, Rot- und Violetttöne überzogen ihren Körper, teilten ihr Gesicht in bunte Parzellen.
Als sie Sandro sah, winkte sie, und er winkte diskret zurück. Diskret deshalb, weil Maler, Bildhauer und deren Gehilfen in der Kirche waren, denen eine euphorische Begrüßung aufgefallen wäre. Mit Handzeichen gab er Antonia zu verstehen, dass sie herunterkommen sollte, und mit Handzeichen antwortete sie, er solle heraufkommen. Sie setzten sich schließlich beide in Bewegung.
Wer in einem Jesuitengewand steckte, für den war jede Leiter eine Herkulesaufgabe und jede Plattform ein Seil, auf dem es zu balancieren galt. Man sah nicht, wohin man trat, und ständig blieb man irgendwo hängen. Sandro hatte erst ein Stockwerk des Gerüsts erklommen, als sie sich trafen.
»Du siehst aus, als hättest du stundenlang ein Kalb tragen müssen«, scherzte sie.
»Genauso fühle ich mich auch. Was beweist, dass Mönchen entgegen landläufiger Meinung der Aufstieg gen Himmel schwerer fällt als anderen Menschen.«
Sie klopfte ihm Staub von den Schultern, den er sich beim Hochklettern eingefangen hatte. Früher wäre sein erster Reflex gewesen, sich verstohlen umzublicken, ob niemand sie dabei beobachtete, doch heute blieb dieser Reflex aus. Er wusste, dass Antonia sich nichts dabei dachte, ihn zu berühren, überhaupt Männer zu berühren. Der Streit, der sie und ihn vor zwei Monaten »entzweit« hatte - das Wort traf es nicht ganz, denn sie waren ja nie »zusammen« gewesen -, hatte sich daran entzündet, dass er sich jeder Annäherung entzogen hatte. Damals hatte er noch nicht gewusst, was er wollte. Auch wenn die Lage heute eine andere war und er sich nichts mehr wünschte, als Antonia ganz nahe zu wissen, wäre es ihm lieber gewesen, liebkost zu werden, wenn er dabei keine Kutte trug. Zärtlichkeit und Jesuitenrobe - das passte für ihn noch immer nicht zusammen.
Doch Antonia zuliebe - und seinem Ziel zuliebe, sie für sich zu gewinnen - ließ er sich nichts anmerken und brachte sogar ein Lächeln zustande, das sie offenbar für aufrichtig hielt.
»Du bist guter Laune«, sagte sie. »Dein hübsches Lächeln sieht man selten.«
»Ach, weißt du .« Das Lob machte ihn verlegen. »Es hat einen Mord gegeben, mit dessen Aufklärung ich beauftragt wurde.«
Sie sah ihn verwundert an, und da begriff er, was er gesagt hatte.
»Ich habe mich ungeschickt ausgedrückt. Natürlich bin ich nicht guter Laune, weil jemand ermordet wurde. Ich genieße es nur, endlich mal wieder aus dem Vatikan herauszukommen.«
»Schaffst du das denn - zwei Morde?«
»Ich bin ja nicht allein. Da gibt es eine gewisse Glasmalerin .« Er zwinkerte ihr zu. Das letzte Mal, als sie ihm bei der Aufklärung eines Mordes helfen wollte, hatte er anfangs abweisend reagiert, was die Gräben zwischen ihnen noch vertieft hatte. »Hast du eine Zeichnung des Mannes anfertigen können?«
Sie nickte. »Ich habe sie zweimal kopiert. Heute werden drei Huren durch das Trastevere gehen und jedem, den sie sehen, die Zeichnung zeigen. Und morgen nehmen andere Huren ihren Platz ein und übermorgen weitere. Wir werden ihn finden.«
Sie schwiegen eine Weile. Ging ihnen womöglich dasselbe durch den Kopf? Ihr heutiges Beisammensein ähnelte ihrer ersten Begegnung vor acht Monaten. Damals hatten sie auch in einem Kirchenschiff gestanden, eingetaucht in das durch Antonias Fenster gefilterte Morgenlicht, und hatten einander betrachtet. Vom ersten Moment an hatten sie sich zueinander hingezogen gefühlt und sich seither auf verschiedenste Weise beeinflusst. Zuneigung, Trotz und Eifersucht, Sehnsucht und Zerwürfnis, Rückzug und Angriff - wenn das nicht Liebe war.
»Ich muss mich wieder an die Arbeit machen«, sagte sie plötzlich. »Ich liege sowieso schon hinter dem Zeitplan zurück, und für heute Mittag habe ich Signora A versprochen, vorbeizukommen. Ein Schwatz unter Frauen. Deswegen muss ich jetzt leider .«
»Das verstehe ich.« Er wandte sich zum Gehen. »Aber versprich mir bitte, dass du, wenn es bei der Suche nach diesem Mann gefährlich werden sollte .« Er ließ die Bitte in der Mitte des Satzes ausklingen, um sich nicht überdeutlich aufzudrängen.
Sie schenkte ihm einen freundlichen Blick. »Keine Sorge. Milo ist ja auch noch da.«
Diesen Namen hatte Sandro heute Morgen erfolgreich verdrängt, und nun zerstörte er umso heftiger seinen Abschied von Antonia. Was auch immer geschähe, einer würde verletzt werden. Entweder er, weil er Antonia verlieren würde, oder Antonia, weil sie Milo verlöre.
Forlis Kommandantur auf dem Aventino lag eingebettet zwischen duftenden Pinien, bot einen herrlichen Blick auf Tiber, Vatikan und Gianicolo und den Genuss einer lauen Westbrise, die die baldige Mittagshitze erträglicher machen würde. Dieser neue Arbeitsplatz war, wie Sandro fand, kein Vergleich zu dem düsteren Gefängnis, das Forli noch bis vor zwei Monaten befehligt und in dem er ein feuchtes Quartier bewohnt hatte, das wenig besser als die Zellen für die Gefangenen gewesen war. Papst Julius hatte dem Hauptmann, auf Sandros Wunsch und in Anerkennung der Verdienste im Fall der ermordeten Geliebten des Papstes, einen der schönsten Bezirke und Kommandanturen von ganz Rom zugewiesen, und Sandro war froh, zu sehen, dass Forli sich offensichtlich wohlfühlte.
Die Beine auf dem Schreibtisch übereinandergeschlagen, sagte Forli: »Mit Eurem protzigen Amtsraum im Vatikan kann es nicht mithalten, aber mal ehrlich, Carissimi, wer mag schon Monumentalgemälde? Außerdem friert in großen Marmorsälen im Winter der Arsch am Stuhl fest, während meiner von einem gemütlichen Ofen gewärmt wird. Übrigens, wollt Ihr kühlen Wein?«
Bevor Sandro ablehnen konnte, brüllte Forli einen Befehl ins Vorzimmer, und kurz darauf brachte ein Wachmann einen Weinschlauch und zwei Becher.
»Die Schläuche liegen in einem Brunnen hinter der Kommandantur. Der Wein ist dünn und sauer, wie richtiger Wein zu sein hat, und nicht wie die göttlichen Rebensäfte in den vatikanischen Kellern. Probiert und weint. Hier.«
Er drückte Sandro einen randvoll gefüllten Becher in die Hand und stieß mit ihm an.
Sandro nahm einen Mundvoll, was er besser nicht getan hätte, denn sofort bekam er Lust auf mehr. Er stellte den Becher so weit wie möglich von sich weg.
»Ich kann nicht lange bleiben, Forli. Ich bin, wie erwartet, vom Papst mit der Lösung des Falls betraut worden.«
»Schön für Euch. Ich wurde ja wieder ausgeladen.«
»Der Ehrwürdige ist leider wenig kooperativ. Aber dadurch, dass Eure Leute das Collegium bewachen, ist mir schon sehr geholfen.« Sandro machte eine Pause. »Ihr habt mir eine Nachricht in den Vatikan geschickt, dass Ihr mich sprechen wolltet. Nun, ich bin hier.«
»Als Ihr mich gestern Abend weggeschickt habt, ging alles so schnell, dass ich ganz vergessen habe, Euch meinen Bericht zu geben.«
»Falls Ihr die Schlägerei zwischen den Schülern meint, davon hat Angelo mir erzählt, bevor ich das Collegium mitten in der Nacht verließ und zum Papst ging. Angelo ist dann übrigens im Collegium geblieben. Er hat in Johannes' Zimmer geschlafen, damit niemand sich darin zu schaffen macht.«
»Die Schlägerei habe ich nicht gemeint«, sagte Forli. »Allerdings hat sie mich dazu ermutigt, ein paar Fragen zu stellen. Der Augenblick war günstig, und Ihr wart noch bei Loyola.«
»Ich bat Euch doch .«
»Manche Fragen dulden es nicht, vertagt zu werden, Carissimi. Zum Beispiel jene, wo sich jeder Einzelne in der Stunde vor der Messe befunden hat.«
Sandro musste...