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Was machte sie in Havana?
Was machte sie in Havanna?
Eine einfache Frage, auf die es dennoch keine einfache Antwort gab. Sie stellte sich vor, wie sie einem Bekannten aus ihrem früheren Leben in Upstate New York über den Weg lief. Auf der Plaza de la Catedral oder dem Paseo del Prado, wo dieser Mensch gerade Fotos schoss. Er würde von seiner Kamera aufblicken, ihren Namen rufen und winken. Sie würden etwas über Zufälle sagen, wie klein die Welt doch sei, und wenn schließlich die unvermeidliche Frage kam: Was machte sie in Havanna?, hätte sie keine Ahnung, was sie als Erklärung vorbringen sollte.
Sie könnte sagen: Ich bin nicht die, für die du mich hältst.
Sie könnte sagen: Ich erlebe gerade eine Realitätsverschiebung.
Sie war zum alljährlichen Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films nach Havanna gekommen. Sie war gekommen, um den Regisseur des ersten Horrorfilms zu treffen, der jemals in Kuba gedreht worden war. Sie war gekommen, um all das zu tun, was ihr Mann tun wollte, aber nicht mehr tun konnte. Stolz erhob sich das offizielle Festivalhotel über dem Stadtteil Vedado. Eine ovale, von Königspalmen gesäumte Zufahrt führte die Besucher zum Eingang; an der Rückseite thronte eine große Terrasse über dem Meer. Auf einem Hügel gelegen, war dieses Hotel mit seinen weithin sichtbaren Türmen ein Wahrzeichen der Stadt. Ihr eigenes Hotel befand sich an einer abschüssigen Straße in der Nähe der Universität. Sie nannte es das dritte Hotel, weil sie im Flughafentaxi die Adresse falsch angegeben hatte, im verkehrten Stadtteil abgesetzt worden war und in zwei Hotels nacheinander die Portiers beknien musste, ihr den Weg zu ihrem eigentlichen Ziel zu beschreiben.
In der Lobby des Festivalhotels erstreckte sich das Gemälde eines Waldes über eine ganze Wand. Während eines Empfangs an ihrem ersten Abend stand sie plötzlich vor diesem Wald. Sie spähte in die Dunkelheit und stellte sich vor, welche Geheimnisse er wohl barg. Sie rieb über die grünen Blätter. Die Farbe war glatt, die Baumspitzen schimmerten golden. Sie leckte an einem der Bäume und schmeckte Kreide, ein wildes Gefühl.
Wie viele Drinks?, fragte der Festivalvertreter, der sie aus der Lobby in die Nacht hinausführte, auf Spanisch, in scharfem, geringschätzigem Tonfall. Es war ein junger Mann in einem sandfarbenen, an den Schultern etwas zu weiten Blazer und einem weißen T-Shirt mit aufgedrucktem Festivallogo; ein laminiertes Namensschild schlug leise gegen seine Brust. Sie registrierte die Härchen auf seiner Oberlippe und die sanfte Rundung seiner Ohrläppchen.
Siete. Sieben.
In den Straßen war es dunkel, die Luft heiß und satt.
Und wie heißt du?, fragte er. In welchem Hotel wohnst du?
Während sie noch wie angewurzelt auf dem Bürgersteig stand, schlenderte ihr Geist bereits durch die meeresdunklen Straßen, vorbei am WLAN-Hotspot, einem Halbrund aus Beton, wo über Handys gebeugte Menschen in der Dunkelheit saßen, und dann weiter, zurück ins dritte Hotel und dort die steile Treppe hinauf. Die Rezeption unterstand Isa, einer Frau in den Zwanzigern. Beim Einchecken hatte Isa ihren Namen und ihre Passnummer mit makelloser Handschrift in ein schwarzes Buch eingetragen; die Buchstaben erinnerten an winzige Häuschen. Isa hatte ihr dringend davon abgeraten, den Aufzug zu benutzen - beim letzten Versuch eines Hotelgasts hätten sich die Türen so verklemmt, dass sie mit Fleischerhaken aufgestemmt werden mussten. Das Zimmer lag im fünften Stock, wo die Räume in einem Oval um die zum Dach führende Wendeltreppe aus Metall angeordnet waren. Am Fuß der Treppe standen Topfpflanzen, die grünen Gesichter nach oben gewandt, wie Menschen, die eine Segnung erwarten. Nach einem prüfenden Blick auf den Aufzug war sie zu dem Schluss gekommen, dass vermutlich die Türriegel erneuert werden mussten. Solche Details zu erkennen war seit Jahren ihr Job, und nun flogen ihr hier in Havanna die Urlaubstage wie Vögel aus den Händen.
Sieben, antwortete sie wieder, diesmal allerdings auf Englisch: Seven. Ihre Hände waren schweißnass. Die Zähne taten ihr weh.
Bisher hatte sie jedem, der sie nach ihrem Namen fragte, etwas anderes gesagt. Laurie. Ripley. Sidney. Sie hatte sich als Filmkritikerin einer Zeitung ausgegeben. Als Hochstaplerin herumspazieren, das konnte sie hier, denn wer sollte ihr widersprechen? Unbegleitet zu reisen hatte durchaus seinen Reiz. Nach ihrem Alter hatte noch niemand gefragt, aber wenn, dann hätte sie die Wahrheit gesagt, siebenunddreißig. Vermutlich machten es manche Frauen eher umgekehrt: richtiger Name, falsches Alter.
Ich heiße Arlo, sagte der junge Mann. Ich bin Dokumentarfilmer, und du kannst von Glück sagen, dass du gerade nicht gefilmt wirst.
Ihr richtiger Name war Clare. Sie war noch nie in Havanna gewesen, und als sie aus dem Flugzeug stieg und das Rollfeld betrat - es war der zweite Dezember, und sie befand sich in einem Delirium, in dem jede Fläche aussah, als würde sie gerade zu schmelzen beginnen -, hätte sie ein heißer Windstoß fast umgeworfen.
Aber das alles war nicht das, was so schwer zu erklären war.
Nach Havanna musste man einmal umsteigen, für den Anschlussflug in einer sehr kleinen Maschine. Beim Landeanflug hatte sie unter sich das brandende Meer erwartet, stattdessen grüne Felder, so weit das Auge reichte, wellige Nebelschwaden über dem Gras. Zwei Minuten und dreizehn Sekunden lang ging sie fest davon aus, dass der Pilot aus einem unerklärlichen Grund das Flugzeug auf dem Boden aufprallen lassen und sie alle töten würde. Sie wusste die exakte Zeitspanne dieses Gefühls, weil sie es mit der Uhr gestoppt hatte.
In Havanna sah sie dann kaputte Straßenlaternen und prachtvolle Boulevards, Bäume, die sich so weit zueinander neigten, dass sie einen schattigen Parcours bildeten, einen Mann, der auf dem rosafarbenen Granitpflaster des Prado zwei silbergraue Huskys im Hundegeschirr spazieren führte, und Inlineskater, die mit nacktem Oberkörper an den Hunden vorbeischossen. Sie sah Überwachungskameras, deren Befestigungsstangen sie an die Hälse weißer Kraniche erinnerten, eine Stadtteilbibliothek, an der ein Schild mit der Aufschrift Muerte al Invasor angebracht war, und einen Dackel in olivfarbener Revolutionärsuniform, der an einen Stuhl gekettet war. Tagsüber war die Stadt ein völlig anderer Ort als bei Nacht. Sie stieß auf Huldigungen an Künstler aller Nationen: das Kulturzentrum Bertolt Brecht, eine Mozart-Büste, einen Victor Hugo gewidmeten Park. Meilenweit sah sie kein einziges Lebensmittelgeschäft, dafür aber ein Dutzend Läden, wo man Pizza, Obst oder Eis kaufen konnte. Hoch aufragende brutalistische Bauten fraßen sich durch koloniale Häuserblocks voller Säulen, Bögen und Balkone. Vom Zerfall bedrohte Gebäude grenzten an Hotels mit Türstehern vor dem Eingangsportal. An der Plaza de San Francisco saßen sonnenverbrannte Familien auf Caféterrassen, Kleinkinder heulten in ihren Hochstühlen, und darüber kreiste unablässig ein Taubenschwarm. In Havanna sah sie zum ersten Mal seit fünfunddreißig Tagen ihren Mann wieder.
Sie sollte eine Woche hier verbringen. Eigentlich hatten sie die Reise gemeinsam geplant, und so war alles für zwei gebucht: zwei online erstandene Visa, im Flugzeug neben ihr ein leerer Sitz, zwei Stapel Eintrittskarten für die Filme. Was sie nicht brauchte, verwahrte sie in einer Schublade im Hotelzimmer. Beiseitegelegt für jemanden, der noch nicht da war, sagte sie sich.
Mit einem schlimmen Kater irrte sie an ihrem ersten Festivaltag durch Sitzungsräume, in denen Presseevents stattfanden, um sie herum Menschen mit laminierten Namensschildern, Menschen, die so aussahen, als wüssten sie, was sie taten. Der Regisseur, den sie suchte, hieß Yuniel Mata. Im Flugzeug hatte sie eine Liste von Fragen an ihn notiert und im Hotel vor dem Badezimmerspiegel die Begrüßung geübt. Hallo, hatte sie in ihrem besten Spanisch zu ihrem Spiegelbild gesagt, mein Mann war ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit. Yuniel Matas Film hieß Revolución Zombi. Er hatte ihn komplett digital und komplett in Havanna gedreht, und das alles für zwei Millionen Dollar - was ihr Mann, ein Professor der Filmwissenschaften, bemerkenswert fand. Sein Spezialgebiet war Horror. Ihr war das immer wie ein selbst ausgedachter Beruf vorgekommen, und wenn sie auf Partys zu viel getrunken hatte, ließ sie das die gemeinsamen Freunde auch wissen. Dieses Festival war die Welt ihres Mannes, und sie hatte nicht geahnt, dass es so schwer sein würde, sich darin zurechtzufinden.
An ihrem zweiten Tag nahm sie in einem mit Kronleuchtern und blutrotem Teppichboden ausgestatteten Sitzungsraum an einem Pressegespräch mit Yuniel Mata und zwei Produzenten teil. In einer Ecke stand ein künstlicher Weihnachtsbaum, in dessen Zweigen silberne Kugeln leuchteten. Sie musste sich extrem konzentrieren, um dem Gespräch folgen zu können; im hinteren Teil ihres Schädels baute sich ein unerträglicher Druck auf. Während des Studiums hatte sie ein Semester in Madrid verbracht, gefolgt von einem grässlichen Sommer in Salamanca als knapp gehaltenes Kindermädchen einer betuchten Familie. Ihr Spanisch war zwar noch brauchbar, aber immer wieder taten sich unerwartete Verständnislücken auf; Leerstellen, wo ein Wort, ein Gedanke hätte sein sollen.
Laut Programm sollte auch die Hauptdarstellerin, Agata Alonso, an der Runde teilnehmen. Ihre Kurzvita verriet, dass die gebürtige Kubanerin derzeit in Spanien lebte und durch eine Rolle in einer beliebten spanischen Soap bekannt geworden war. Revolución Zombi war ihr erster Spielfilm. Am Vorabend hatte Clare zufällig...
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