Prolog
Der Wind kam aus Nordwest, hart und kühl, und trug Salz in die Nase. Tammo Feddersen setzte den Stock in den Sand, ließ ihn kurz einsinken und zog ihn wieder hoch. Die Handfläche kannte den Griff seit Jahren, die Schwielen hatten sich darum gelegt wie ein zweites Holz. Er war früh los, wie immer. Das Licht über der See war noch flach, ein bleicher Streifen, der die Kanten der Dünen anhob. Zwischen Kampen und Wenningstedt lag der Strand fast leer. Spuren von Möwenfüßen, ein verwehter Abdruck eines Fahrradreifens, sonst nur Sand, der atmete. Er hörte sein eigenes Atmen, den gleichmäßigen Takt der Brandung, den kurzen Pfiff eines Austernfischers hinter ihm, irgendwo über dem spärlichen Strandhafer.
Er blieb stehen, stützte sich auf den Stock und spähte nach Westen. Die Sonne stand knapp über der Linie, die das Meer von der Luft trennte. Sein Nacken zog, das alte Ziehen nach Nächten, in denen der Wind über die Reetdächer trommelte. Er wandte den Blick nach Norden, die dunklen Silhouetten von Kampens Häusern im Rücken, die sanfte Wölbung der Dünen vor sich. Eine Stelle im Sand sah anders aus. Nicht nur flachgedrückt, sondern geordnet, als hätte jemand den Wind gebeten, dort aufzuhören.
Er ging darauf zu. Die Schuhe knirschten auf versteiften Sandflächen, die die Nacht noch festgehalten hatte. Ein Stück braunes Glas blitzte, als der erste Sonnenfleck es streifte. Er hob es nicht auf. Daneben lag die Form eines Körpers, halb in eine Mulde gesunken, nicht wie jemand, der hier eingeschlafen war. Das Kinn schräg, das Gesicht der Sonne zugewandt, die Hände an den Seiten, die Finger leicht geöffnet, als hätten sie eben etwas fallen lassen.
Er hielt den Stock quer, als wolle er etwas abfangen, das nicht herkam. Seine Augen hielten sich nicht am Ganzen fest, sie zählten. Knöchel. Hemdknöpfe. Ein tiefer Faltenwurf im Mantel, der nicht passte. Er roch Whisky, Torf und süß. Keine frische Schärfe, sondern abgestanden, eine Nacht alt. Der Sand um den Kopf war glatt gestrichen. Der Sand an den Schultern war gestaucht, als hätte jemand gedrückt und dann die Hände wieder weggenommen. Kein Zufall, keine Laune der Böe.
Er machte einen Schritt näher, dann noch einen, bis er die Zehen sah. Keine Schuhe. Das ließ ihn den Stock fester fassen. Die Füße selbst trocken. Keine feinen Rinnspuren aus Sand, die das weiche Wasser hinterlässt, wenn es über Haut läuft. An den Fußsohlen klebte feiner Staub, nicht die groben Körner vom feuchten Saum. Die Flut hatte in der Nacht hoch gestanden, er kannte die Tabellen im Kopf. Wenn die See hierher gekommen wäre, wären die Füße nicht so.
Er beugte sich, so weit sein Rücken es zuließ. Die Haut hatte diesen grauen Ton, den man nicht verwechselt. Die Lippen leicht geöffnet, als wäre ein Wort stecken geblieben. Das Gesicht kannte er. Er kannte es von Lesungen, aus der Zeitung, von Fotos an Hotelfoyers. Johannes Falkenberg. Der berühmte Sohn der Insel. Sorgfältig unrasiert, die Haare zu lang, die Stirn vom Leben gezeichnet und vom Wind geglättet. Tammo spürte, wie sich etwas in seiner Brust straffte. Kein Mitleid, kein Schrecken. Eher der nüchterne Schmerz, der kommt, wenn man den ersten großen Fisch des Tages verliert, weil die Leine reißt. Nur dass hier nichts mehr zu retten war.
Er schob mit dem Stock die leere Flasche ein Stück vom Körper weg, ohne sie zu drehen. Die Etikettenseite war halb abgelöst, ein Markenname lugte hervor, zu edel für den Sand. Er achtete auf die Mulde unter dem Hinterkopf. Kein Abdruck, der zum restlichen Körper passte. Als ob der Kopf später aufgesetzt worden war. Er trat einen Schritt zurück, ließ den Blick über die Umgebung gehen. Auf dem Kamm der Düne war der Sand unruhig, viele kleine Vertiefungen, die randlos ausliefen. Der Wind macht spitze Muster, Füße machen stumpfe. Hier lagen stumpfe, keine Spitze. Zwei Paar. Eines schwerer. Eines gröber. Er spürte das alte Handwerk in den Augen, das Sortieren nach Form, Gewicht, Richtung. Die See macht auch Spuren, aber anders, in Mustern, die man nicht so lesen kann. Das hier war schlicht. Jemand hatte etwas getragen. Was, konnte er sehen.
Er ging ums Bein herum, ohne dicht heranzutreten. Die Hosenkante hatte Sand aufgenommen, aber nur oben, nicht unten. Die Knie waren sauber. Jemand hatte ihn nicht hierhin laufen sehen. Jemand hatte ihn hierhin gebracht. Er machte den Mund auf, schloss ihn wieder. Die Luft schmeckte nach Kälte und Kaffeeresten aus dem Thermobecher, den er zu Hause stehen gelassen hatte. Er hätte ihn mitnehmen sollen. Sein Bauch knurrte ohne Scham.
Ein weißer Rand unter dem Mantellapel fiel ihm ins Auge. Papier. Er beugte sich ein Stück, hob zwei Finger, ohne zu berühren. Das Papier war nass gewesen und wieder getrocknet. Die Kanten wellig, die Schrift zerrissen in Schlieren. Genug, um den Sinn zu fassen. Vier Worte, nicht glatt, aber lesbar. Er sprach sie leise, nur für sich.
"Die Wahrheit stirbt mit mir."
Er sah wieder auf die Füße. Das passte nicht. Nichts daran passte. Nicht das Gesicht zur Sonne, als hätte jemand es so gewollt. Nicht die Flasche ohne Fingerabdrücke im Sand, nur der Abdruck der Flasche selbst. Nicht die fehlenden Schuhe bei trockenen Füßen. Er scharrte mit dem Stock eine Spur, die die Grenze zwischen nassem und trockenem Sand markierte. Die Linie lag tiefer am Strand. Der Körper lag weiter oben. Wenn die Flut in der Nacht hier war, hatte sie ihn nicht berührt. Hatte sie ihn nicht fortgeholt. Hatte sie auch die Schuhe nicht geholt, wenn sie nicht unten lagen.
Er fuhr sich über die Stirn. "Vader in'n Himmel," murmelte er. "Giff em Ruh. Neem em op, so as he is." Der Wind nahm das an, ohne Antwort.
Eine Möwe stieß herunter, wippte neben der Flasche, als sei sie zunächst an Glas interessiert und erst im zweiten Blick an dem, was daneben lag. Tammo schlug mit dem Stock in den Sand, nicht hart, nur warnend. "Maak dat du wegkummst." Die Möwe sprang zwei Schritte, drehte den Kopf und kreiste dann über der Stelle, nicht aus Hunger, eher, weil Bewegung sie anzog.
"Dat is keen Selbstmord, dat weet ik genau." Seine Stimme war rau, der Morgen machte sie rauer. Er richtete sich auf. Die Knie knackten. Er griff in die Jackentasche, tastete nach dem Telefon, das sein Enkel ihm aufgedrängt hatte. Er mochte das Ding nicht, es war ihm zu glatt, zu schnell, zu leise in seiner Art. Aber es tat, was es sollte.
Der Bildschirm ging an, spiegelte für einen Moment sein Gesicht, dann Ziffern. Seine Finger trafen sicher. Als die Verbindung stand, öffnete sich ein Atem in ihm, der Routine folgte.
"Notruf der Polizei Sylt, wo befinden Sie sich?"
"Strand, zwischen Kampen und Wenningstedt. Höhe vom roten Rettungsring, zwei Dünen nördlich. Da liegt einer. Tot."
"Sind Sie allein?"
"Hier? Ja. Möwen und ich."
"Können Sie den Zustand beschreiben?"
"Kalt. Kein Blut, das ich seh. Flasche daneben. Füße trocken. Schuhe wech."
"Berühren Sie nichts. Bleiben Sie vor Ort. Wie ist Ihr Name?"
"Feddersen. Tammo. Ik bleib."
"Wir sind unterwegs."
Die Verbindung stand noch einen Herzschlag, dann brach sie. Er steckte das Telefon weg. Der Morgen schob eine Spur mehr Licht unter die Wolken. Er hörte weiter nördlich einen Hund bellen, dieses helle, ungläubige Bellen eines Tieres, das mehr weiß als der Mensch am anderen Ende der Leine. Er sah die beiden als kleine Punkte, die näher kamen, dann langsamer wurden, als der Hund die Nase hob. Er hob den Arm und winkte sie ab.
"Dreht um. Hier ist nix für euch."
Der Mann am anderen Ende blieb unsicher stehen, eine Gestalt in Laufkleidung, fröstelnd, ohne Mütze. "Ist was passiert?"
"Dreht um," wiederholte Tammo, zeigte nicht auf den Körper, sondern auf den schmalen Pfad, der zurück führte. "Polizei is glieks hier. Ihr wollt nicht in das, was ihr später nicht vergesst."
Der Mann zögerte, dann zog er am Hund. "Alles klar. Wir gehen."
"Gut so."
Als sie weg waren, kehrte die Leere zurück, die vor jeder Ankunft liegt. Tammo stand so, dass sein Schatten den Körper nicht berührte. Er sah nach Spuren, die er nicht selbst hinterlassen hatte. Ein Abrollmuster eines Reifens nahe der Wasserlinie, nur eine Umdrehung. Keine zweite. Kein Zickzack. Ein Halten. Dann Wenden und wieder weg. Er kannte die Stelle, an der die Strandfahrten verboten waren, kannte aber auch die, an denen Verbot nichts bedeutete. Er prüfte die Kante einer Vertiefung mit dem Stock. In der Mulde lagen zwei dunkle Fasern. Wolle. Grau. Etwas, das sich von einer Decke gelöst hatte oder von einem Mantel, der nicht der hier war. Er rührte sie nicht an. Er merkte sie sich, an Ort und Stelle, im Kopf.
Er hielt seine Aufmerksamkeit in enger Bahn. Das half gegen Bilder, die kommen wollten. Ein Körper, der anders liegt. Ein Gesicht, das noch warm ist. Ein junger Mann, den man im Watt fand, als er noch zur See fuhr. Das war lange her, doch das Meer legt nie wirklich ab. Es trägt, es bringt, es nimmt. Er hatte das im Blut, ohne Sprache dafür.
Er hörte Motorengeräusch vom Deich her. Nicht laut, gedämpft. Ein Wagen, der langsam wurde, bevor er Sand sah. Ein zweiter. Er hob den Kopf nicht sofort, blieb bei den Füßen, bei dem, was nicht passte. Als die Schritte sich näherten, hob er die Hand zum Gruß, ohne sich umzudrehen.
"Nicht so dicht ran." Er hob den Stock quer. "Da sind Spuren."
"Herr Feddersen?" Die Stimme kam mit dem Ton eines, der ihn kannte. "Ich bin's, Hauke."
Er drehte den Kopf. Hauke Thomsen stand da, breiter Mann, die Jacke offen, die Mütze tief. Neben ihm ein jüngerer Polizist, den Tammo nicht von früher...