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Trondheim, Norwegen, Dezember 1945
»Und Sie sind sich ganz sicher?«, fragte Kristine, während die Enttäuschung drohte, sie in die Knie zu zwingen. Sie streckte die Hand aus, um sich damit am hölzernen Tresen festzuhalten.
»Wenn ich es Ihnen doch sage«, erwiderte der Postangestellte ungehalten. »Es gibt keinen Postverkehr nach Deutschland.«
»Wissen Sie denn wenigstens, wann er wieder aufgenommen wird?«
Der Postangestellte musterte Kristine mit einem argwöhnischen Blick, als überlege er, ob er allein mit ihr fertig würde oder sich Hilfe holen musste.
»Bitte, es ist wirklich wichtig.« In Kristines Stimme hatte sich ein Flehen geschlichen, als bäte sie für ihr hungerndes Kind um ein Stück Brot.
»Was haben Sie überhaupt mit Deutschland zu schaffen? Sind Sie nicht froh, dass wir diese Unholde endlich los sind? Wobei so ganz stimmt das ja leider nicht. Es sollen sich noch immer einige von ihnen im Land befinden. Sie sind zwar eingesperrt, aber das ist auch das einzig Gute, was mir dazu einfällt.« Der Postangestellte zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. Nachdem er das Tuch zusammengefaltet und wieder in seiner Hosentasche verstaut hatte, schürzte er die Lippen, erstaunt, Kristine immer noch vor seinem Schalter stehen zu sehen. »Ich weiß nicht, wann man wieder Post nach Deutschland schicken kann. Und, ehrlich gesagt, ist mir das auch herzlich gleichgültig.« Seine Stimme hatte sich erhoben, sodass die Menschen in der Schlange hinter Kristine neugierig die Köpfe reckten.
»Bestimmt ist ihre Tochter eines dieser Deutschenflittchen, von denen es leider viel zu viele gibt«, murmelte eine Frauenstimme.
»Nun zumindest diese sind wir losgeworden. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist sie ihrem Liebhaber nach Deutschland gefolgt«, sagte ein Mann mit einem zufriedenen Schnauben.
»Ja, was würde ich dafür geben, wenn wir alle von ihnen loswürden und ihre Bastarde gleich mit«, meldete sich eine dritte Stimme zu Wort.
Kristine gab vor, die abfälligen Kommentare nicht zu hören. Doch auch wenn sie äußerlich unbeteiligt wirkte, hatten die Worte in ihrem Inneren ein Beben hervorgerufen, das in ihr einerseits den Wunsch auslöste, so rasch wie möglich aus dem Postamt zu fliehen, um gleich darauf das Verlangen zu verspüren, den hinter ihr Stehenden ihre Wut ins Gesicht zu schleudern.
»Ich verstehe das nicht«, ließ sich die Frau direkt hinter Kristine vernehmen. »Wie kann sie noch weiter zu ihrer Dirne von Tochter halten? Als anständige Norwegerin sollte sie froh sein, dass sie sie los ist. So etwas wirft nur schlechtes Licht auf die Familie.«
»Nun, vielleicht ist sie keine anständige Norwegerin«, antwortete ein Mann. »Wer im Dezember 1945 immer noch den Kontakt nach Deutschland sucht, muss ein ganz Hundertprozentiger sein. Wer weiß, wen sie während der Besatzung alles beglückt hat.«
Die letzte Bemerkung war zu viel für Kristine. Mit einem Ruck drehte sie sich um, um sich einer Front aus ausdruckslosen Gesichtern gegenüber zu finden. Sie öffnete den Mund, nur um ihn sogleich wieder zu schließen.
Es hatte keinen Zweck. Sie waren zu viele. Und zudem zu fest in ihren Meinungen verwurzelt, um auch nur einem einzigen ihrer Einwände gegenüber zugänglich zu sein.
Dabei war es doch ganz leicht. Sie war eine Mutter, die ihre Tochter liebte. Und natürlich ihre Enkeltochter. Sollten Mütter ihre Liebe etwa vom Verhalten ihrer Kinder oder, noch schlimmer, von äußeren Umständen abhängig machen?
Kristine hätte dies den Menschen vor ihr gerne erklärt. Aber die vergangenen Jahre hatten sie mürbe gemacht, ihren Kampfgeist nach und nach ausgehöhlt, wie Wellen, die sich an den Klippen brachen und dabei jedes Mal ein kleines Stück mehr von ihnen forttrugen. Daher schwieg sie und verließ das Postamt. Auf der Straße angekommen, blieb sie stehen, um tief durchzuatmen. Doch es war, als wäre ihr Brustkorb von eisernen Bändern eingeschnürt.
Wie mochte es Ingrid und Eva wohl gehen? Waren sie von Georgs Familie freundlich aufgenommen worden? Wo waren sie untergebracht? Die Bilder aus der Wochenschau ließen nichts Gutes erahnen. Wenn wenigstens der Postverkehr endlich wieder aufgenommen würde! Die Sorge würde sie noch umbringen. Sie wusste nicht einmal, ob die kleine Familie überhaupt in Hamburg angekommen war. Im Spätherbst konnte die See rau sein. Es war durchaus möglich, dass das Schiff untergegangen war.
»Entschuldigung«, unterbrach eine junge Frau, die einen kleinen Jungen auf dem Arm trug, die angstvolle Trübnis von Kristines Gedanken.
»Ja, bitte?«
Die junge Frau räusperte sich. »Ich war auch drinnen im Postamt.« Eine Pause folgte.
Kristine sah die Frau in einer Mischung aus Misstrauen und Neugier an.
»Es ist nur .« Wieder ertönte ein Räuspern.
»Mama, ich hab' Hunger«, sagte der kleine Junge, den Kristine auf knapp drei Jahre schätzte.
»Ja, mein Schatz, wir gehen gleich.« Es schien, als hätten die Worte ihres Sohnes ihr den nötigen Ansporn geliefert, ihr Anliegen vorzutragen. Denn die junge Frau sprach sogleich weiter. »Ich habe die Bemerkungen der anderen mitbekommen.« Sie hatte den Blick gesenkt, als fürchtete sie sich vor dem, was sie in Kristines Augen sähe. »Und ich wollte sagen, dass ich es bewundere, wie Sie weiterhin den Kontakt zu Ihrer Tochter halten wollen, obwohl diese .« Die Stimme brach kurz. »Obwohl diese sich mit dem Feind eingelassen hat. Ihre Tochter kann sich glücklich schätzen, eine solche Mutter zu haben.« Der Kopf der jungen Frau blieb nach wie vor gesenkt, auch als sie sich nun von Kristine verabschiedete. »Ich wünsche Ihnen und Ihrer Tochter alles Gute. Auf Wiedersehen.«
Sie machte Anstalten, an Kristine vorbeizugehen, wurde von dieser jedoch zurückgehalten. »Warten Sie.« Die junge Frau blieb erstaunt stehen.
»Das waren sehr freundliche Worte.« Nun war es an Kristine, sich zu räuspern. »So etwas ist sehr ungewohnt in diesen Zeiten. Ich möchte Ihnen dafür danken. Sie haben einen unerfreulichen Tag ein bisschen erfreulicher gemacht.«
»Oh«, stieß die junge Frau überrascht hervor. »Das habe ich gerne gemacht. Also dann, alles Gute.«
Sie machte erneut Anstalten zu gehen. Doch Kristine streckte die Hand aus und berührte sanft den Arm der jungen Frau. »Ihr Junge, ist der .« Kristine verstummte, nicht wissend, wie sie ihre Frage formulieren sollte.
Die junge Frau verstand augenblicklich. »Ja, sein Vater ist ein Deutscher.«
Kristine lächelte die junge Frau an. »Er ist ein prächtiger Junge.«
»Ja, das ist er.« Auch das Gesicht der jungen Frau verzog sich zu einem Lächeln und ließ Kristine erkennen, dass sie wirklich noch sehr jung war und nur das Leben seine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen hatte.
»Befindet sich sein Vater noch in Kriegsgefangenschaft?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe schon seit Langem nichts mehr von ihm gehört.«
»Das tut mir leid.« Kristine hätte am liebsten die Arme um die junge Frau geschlungen, denn in deren Augen offenbarte sich eine Verzweiflung, die erkennen ließ, dass hinter dieser schlichten Aussage eine ganze Welt aus Abgründen lag.
»Das muss es nicht«, erwiderte die junge Frau schroff, als wollte sie um jeden Preis verhindern, dass jemand Mitleid mit ihr empfand. »Ich war naiv und dumm. Und nun muss ich für meinen Fehler bezahlen.«
»Ich bin Kristine Bakken«, sagte Kristine, die spontan beschlossen hatte, dass sie diese junge Frau nicht einfach gehen lassen konnte. »Und ich würde mich freuen, wenn ich Sie und Ihren Sohn ins Café Bristol einladen dürfte.«
Die junge Frau biss sich auf die Lippen. »Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Bakken. Aber das können wir nicht annehmen.«
»Ich hab' aber Hunger, Mama.«
»Sehen Sie, Ihr Sohn braucht etwas zu essen. Und Sie würden mir wirklich einen Gefallen tun. Ich habe sonst niemanden, dem ich von meiner Tochter und meiner Enkelin erzählen kann, ohne auf Verachtung zu stoßen.«
»Gut, Frau Bakken. Aber ich bestehe darauf, dass Sie nicht auch noch Ihre Lebensmittelkarten für uns opfern.«
»So viel wird der junge Mann schon nicht essen.« Kristine beglückwünschte sich insgeheim dafür, dass sie vor dem Aufbruch zum Postamt ihre Lebensmittelkarten eingesteckt hatte. Es war der Hoffnung geschuldet gewesen, den Erfolg, einen Brief an ihre Tochter aufgeben zu können, durch einen Besuch im Café Bristol zu feiern.
Der Erfolg war ihr versagt worden, aber wie es aussah, war sie dennoch nicht vergeblich gekommen. Die junge Frau vor ihr brauchte Hilfe. Und sie, Kristine, würde sie ihr gewähren. Wenn es ihr schon verwehrt wurde, Tochter und Enkelin im fernen Deutschland zu unterstützen, konnte sie wenigstens diesen beiden Menschen das Leben ein wenig erleichtern.
*
Hamburg-Rahlstedt, Dezember 1945
»Nein, keine Post ins Ausland«, sagte der Postbeamte und machte eine ungeduldige Handbewegung, als wollte er eine Fliege verscheuchen.
Ingrid umklammerte den Brief in ihren Händen, während ein feines Zittern ihren Körper erfasste, was weniger der Kälte zuzuschreiben war als der Enttäuschung, die sie angesichts der Antwort des Postbeamten wie ein mächtiger Strom durchflutet hatte. Unzählige Male hatte sie vor dem Betreten des Postamtes den einen Satz, »Ich möchte bitte diesen Brief nach Norwegen aufgeben«, wie eine Beschwörungsformel aufgesagt. Ihre größte Sorge war es gewesen, dass...
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