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20. Juli 2019 - Mittwoch Niederlande, Texel, Den Hoorn, Paal 12
Die Wahrheit über den Fall Kees Popinga.
Der Arzt sah erstaunt auf und schien sich zu fragen,
warum sein Patient nicht mehr geschrieben hatte.
Da fühlte sich Popinga veranlasst,
mit einem gezwungenen Lächeln zu murmeln:
»Es gibt keine Wahrheit, oder?«
Georges Simenon
Der Mann, der den Zügen nachsah
Der Wind strich sanft über die letzte Seite des Buches, und der Mann in dem bordeauxroten Trikot mit dem Rückenaufdruck Figo hob den Kopf. Seine Augen folgten einer segelnden Möwe, die am Himmel als weißer, ständig schrumpfender Punkt mit dem Blau des Meeres und dem des Firmaments verschmolz. Aus seinem rechten Augenwinkel tauchte ein orangefarbener Blitz auf, der schnell Konturen annahm. Zwei braun gebrannte Männer jagten mit dem Schlauchboot der Rettungswacht parallel zum Strand auf den seichten Wellen entlang und verschwanden mit schäumender Heckwelle Richtung Paal 11.
»NEIN!«
Ein Kinderschrei riss ihn aus seiner Betrachtung.
»PAPRIKA!«
Libuda warf den Kopf herum. Eine Möwe hatte die handtellergroße Puppe des kleinen Mädchens im Schnabel und hob damit soeben ab. Das Buch fiel in den Sand, als Libuda aufsprang und auf das räuberische Vieh zustürzte. Die Möwe aber drehte mit tief hängendem Kopf ab nach rechts.
»Hey, du Mistvieh! Lass los!« Der Sand bremste seinen Antritt. Er versuchte es mit einem imponierenden Sprung. Die Möwe trat die Flucht an Richtung offenes Meer. Er stoppte, denn wenn der geflügelte Strandräuber die Puppe über dem Meer fallen ließ, war alles verloren. Offensichtlich aber war der Möwe das Plastikwesen mit dem bunten Kleidchen in ihrem Schnabel zu schwer, denn sie kam zurück. Da aber hatte sie Libuda wohl unterschätzt. Er war nämlich punktgenau zu der Stelle am Strand gestartet, welche die Möwe anvisierte. Und nun kam ihm die Gier ihrer Artgenossinnen zu Hilfe. Sein Interesse an der Beute hatte ihren Instinkt geweckt, und sie versuchten nun, ihrer gefiederten Schwester mit Gekrächze die Puppe in der Luft abzujagen. Die Möwe konnte sich gegen die Schnabelhiebe nicht verteidigen, also ließ sie die Beute los. Sie fiel genau vor Libudas Füße. Er packte sie und rannte los, nun die gesamte krächzende, flatternde Meute im Nacken. Mit einem Satz landete er neben der grün-roten Strandmuschel und zog den Kopf ein.
Da aber sprang ihm schon Frauke, mit dem Sonnenschirm bewaffnet, zu Hilfe.
»Ksch! Ksch!« Ganz die zu allem entschlossene Mutter, verscheuchte sie die weißen Räuber der Lüfte. Die krähten noch ein paarmal beleidigt und drehten dann ab.
Die kleine Puppenmutter wischte sich schnell noch ein paar Tränen ab, dann strahlte sie Libuda an. Ihm lagen schon Worte der Bescheidenheit auf der Zunge, wonach es doch selbstverständlich gewesen sei und er gerne für sie seine Haut riskiert habe, da aber streckte sie nur fordernd eine Hand aus. Immerhin lächelte sie ihn an.
»Marie! Du könntest dich wenigstens bei deinem Patenonkel bedanken!«, mahnte Frauke, die soeben den Sonnenschirm neu justierte.
»Danke, Patenonkel«, nuschelte Marie.
»Du sollst doch nicht immer Onkel zu mir sagen! Außerdem habe ich das doch .«
»Okay, dann is' ja gut, Libuda.« Und damit hatte Marie sich bereits weggedreht und tauchte wieder in die Welt ihrer Puppen ein. Aufgrund ihrer Vielzahl waren bereits alle vertrauten Vornamen vergeben, darum waren jetzt, nach dem Obst, eben die Gemüsenamen dran. So war die gerade wieder aus der Entführung befreite »Paprika« die beste Freundin von »Gurke« und »Tomate«.
»Dafür gebe ich unserem Helden jetzt einen Kaffee aus«, säuselte Frauke und streckte ihr schwarzes Bikinioberteil hervor. Libuda verfing sich einen Augenblick zu lang in ihrem Ausschnitt, und Frauke grinste zufrieden. Matteo, ihr Mann, hatte mal nach ungefähr fünf großen Bier gesagt, dass sie es liebe, Libuda ein wenig zu verunsichern.
»Matteo, gibst du mir mal das Geld?«
Matteo D. Buck, kurz MdB, Maries Vater und Libudas bester Freund, runzelte die buschigen Augenbrauen, wandte den Blick aber nicht von seinem Buch ab. Immerhin legte er den obligatorischen Stift aus der Hand, schraubte ihn zu und wühlte dann blind in der Tasche neben sich nach dem Baren.
»Wenn ihr euch noch fünf Minuten geduldet«, murmelte er, ohne das Buch aus den Augen zu lassen, »komme ich mit in den Strandpavillon. Es sei denn, ihr möchtet lieber ohne mich sein .« Er ließ den Satz im Nichts versanden, sodass man sich das Satzzeichen dazu denken musste: War es eine Frage, eine Feststellung, eine Aufforderung, eine Kritik?
»Na, ich freue mich doch immer, wenn mein Mann das soziale Umfeld mal über seine heilige Literatur stellt!« Frauke gab ihm einen Kuss auf die von einem Urlaubsbart bewachsene Wange.
Libuda ließ sich also noch einmal in den Sand plumpsen. Leider mit dem Gesicht zuerst. Sofort wurde der Sand wie von einem Magneten angezogen, nämlich von seinem schweißverklebten Gesicht. Und schon stach etwas in seinem rechten Auge.
Gerade hatte er ein Sandkorn aus dem Auge befördert, genauer gesagt: mithilfe einiger Tränen unter seiner Kontaktlinse hinausgeschwemmt, da flog eine neue Ladung in seine Richtung.
»Stopp!« Abwehrend hob er die Arme.
»MARIE!« Vorsichtig blinzelte er in die Sonne, die nun von einem Schatten verdunkelt wurde.
»Ja, meneer? Ik ben da.« Sie hatte einen grünen Bikini an, in dessen Oberteil er jetzt, auf den Knien auf seinem Badelaken hockend, einen direkten (sehr unverhohlenen) Einblick hatte. Seine Augen irrten für einen Moment zu lange in dem sonnengebräunten Canyon herum, dann riss er den Kopf hoch.
»Alstublieft«, stammelte er, »mag ik duits praten?« Wie oft hatte er gemeinsam mit anderen Grenzlandbewohnern geklagt, es sei eine Schande, immer noch kein Niederländisch gelernt zu haben, und dass es nun aber höchste Eisenbahn sei und dergleichen mehr, wohl wissend, dass spätestens bei der Rückkehr alles beim Alten blieb.
»Das wäre mir auch sehr recht.« Grüne Augen blitzten ihn an. »Also meneer, woher kennen Sie meinen Namen?«
»Libuda, wer ist die Frau mit dem zu kleinen Badeanzug?«
»Oh, darf ich vorstellen? Marie, mein Patenkind. Marie, das ist .«
»Du hast aber einen schönen Namen!« Und damit streckte sie der fünfjährigen Göre mit der Sandschaufel die Hand entgegen. »Auch Marie .«
»Du aber auch!« Marie strahlte. »Cool, dann kannst du ja jetzt mit uns ins Meer gehen. Libuda ist es nämlich viel zu kalt. Der traut sich nicht.« Und damit zerrte sie an ihm und seiner antiquierten Badehose. Instinktiv zog er ein wenig den Bauch ein. »Kommt, wir rennen zusammen rein!«
Einige Dezimeter weiter rechts unterdrückte ein sehr unrasierter Mann ein Lachen und täuschte sehr dilettantisch vor, immer noch in den Titel von der ZEIT-Bestsellerliste vertieft zu sein.
Direkt neben dem Eingang zum Strandpavillon Paal 12 stand die Staffelei mit dem Bild vom Meer, und gerade tupfte Peter van der Ploeg, der Maler, wieder einen dieser charakteristischen blau-grün-weißen Tupfen dazu, während er mit schief gelegtem Kopf gierig an der selbst gedrehten Zigarette zog. Seine grauen Haare standen wirr ab und starrten vor Salz oder Filz oder beidem. Als Marie behutsam an ihm vorbeihuschen wollte, hielt er sie leicht an der Schulter zurück und drehte sie sanft zu sich herum. Durch seine runde Nickelbrille schaute er ihr direkt in die Augen, dann hielt er den Pinsel hoch, bis er auf gleicher Höhe war, und verglich den Farbton. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, er verbeugte sich leicht und legte die Hand mit dem Pinsel auf sein Herz.
Marie tat es ihm gleich und ging dann rasch weiter ins schattige Innere des Pavillons. Draußen fläzten sich die Touristen in der Sonnenglut, aber Marie wählte drinnen einen Platz neben dem Ofen, der nun, im Sommer, wie ein Fremdkörper im Raum stand, als warte er auf den Winter.
Sie waren ganz allein in dem mit viel Holz, vor allem Treibholz, gemütlich und dabei modern eingerichteten Strandhaus. An den Wänden hingen Bilder des Malers und großformatige Fotografien. Nur ab und zu wieselten junge Frauen und Männer in schwarzen T-Shirts mit der weißen Aufschrift Paal 12 mit leeren Tabletts herein, um kurz darauf mit vollen wieder zu verschwinden. Leise plätscherte ein wenig brasilianische Musik durch die offenen...
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