Schweitzer Fachinformationen
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Im Deckel des Soja-Puddings, der heute meine Hauptmahlzeit gewesen ist, steht: Von Menschen hergestellt, die ein gutes Bewusstsein pflegen. Ökoalarm! Selbstgerechte, ungeschminkte, übergewichtige Damen, die Kunst machen, vermutlich Scherenschnitte, und Weltmusik hören, die voll bewusst in ungeheizten Häusern verkehren und Sojamus reiben between ihren nackten Schenkeln.
Muss den Soja-Pudding erbrechen.
Draußen schwanken, gepeitscht vom Regensturm, Ampeln oder Erhängte an Drähten. Kein Passant. Es gibt kaum noch Licht, die Sonne ist vielleicht schon aus.
Die Luft: Feuchtigkeit und Schimmelgeruch.
Dass es, wenn es nicht nieselt, regnet und die Sonne nicht mehr zu sehen ist, daran haben sich alle gewöhnt. Sicher, es gibt mehr Selbstmorde und Depressive, die meist zügig Selbstmord begehen, doch wer soll es ihnen übel nehmen - man trennt sich leicht von Sachen, um die man nicht gebeten hat. Wer glücklich ist in dieser Welt, muss geisteskrank sein. Ich weiß nicht, was erstrebenswerter ist: die Erbärmlichkeit des Lebens, den Untergang der Welt, die Attentate und Kriege, den Hass und Neid auszublenden und sich trotzdem an vereinzelten Blumen zu erfreuen, sich immer zu sagen: Was nützt es, wenn ich leide, ich sterbe eh bald und kann es nicht ändern. Oder die ganze Katastrophe tatsächlich wahrzunehmen. Was immer auch bedeutet: Glück liegt nicht drin.
Täglich überprüfe ich, ob mir Schwimmhäute wachsen. Das nicht. Dafür ist das Alter eingetreten, es scheint identisch mit dem Alter der Welt, die ihrem Ende entgegenzutaumeln scheint, bevor sie einen Neuanfang wagt als Wüste am Meer, mit Kakerlaken und Ratten, die viel Zeit haben, ehe sie sich Hütchen aufsetzen und unsere Fehler wiederholen.
Langsam schleppe ich mich in die Küche, vielleicht ist da etwas passiert in der letzten Stunde. Seltsam, dass nein. Ich schaue aus dem Fenster nach umgefallenen Rentnern. Gestern lag dort eine. Eine gestürzte Dame.
O-Ton alte Dame ES ist eben so passiert. Meine Güte, solche Dinge passieren halt, und am Ende sagt man Leben dazu. Kein Grund, sich aufzuregen. Alles wird alt: Bäume, Tiere, Insekten, Häuser, Autos, alle Dinge auf der Welt werden alt, die Welt wird auch alt, und dann sterben die Dinge, wechseln die Beschaffenheit, Fleisch und Knochen werden Staub und Moder und zerfallen in Atome, die sich neu zusammenfinden, zu etwas anderem. Vielleicht werde ich bald ein Computer. Die Idee gefällt mir nicht wirklich, denn noch sind meine Atome in Form, wenn auch in schlechter. Vor Kurzem war ich noch in prächtiger Verfassung. Ich war vierzig oder älter, fühlte mich wie immer, die Form war fest, und ich verstand nicht, warum Leute SIE zu mir sagten. Vor Kurzem erst hatte ich mit meinen Freundinnen in einer WG neben einem Altersheim gewohnt. Wenn ich mit der Straßenbahn nach Hause gefahren bin, saßen darin oft alte Frauen. Sie waren immer alleine. Ich schaute in die Gesichter der alten Frauen, und es war gut zu erkennen, wie sie als junge Mädchen ausgesehen hatten. Ich konnte mir in solchen Momenten vorstellen, wie es ist, alt zu sein. In so einem fremden Körper, der von niemandem berührt und beachtet würde. Den man zu Bett legt und wieder entnimmt, gänzlich ohne Bestimmung. Und manchmal wurde mir ganz übel vor Angst, das könnte auch mir passieren, irgendwann weit weg. Dann stieg ich aus der Bahn, ging in meine WG, lachte mit den Freundinnen und wusste, dazu würde es nie kommen. Bis ich so alt wäre, hätte man ein Mittel gegen den Verfall erfunden. Überraschend ist: Das Mittel hat keiner entdeckt. Und so stehe ich nun jeden Tag am Fenster in einem Altersheim. Zu mehr hat es eben doch nicht gereicht, obwohl ich immer gedacht habe, nie würde ich in so ein Heim gehen. Ich hatte auch gedacht, ich wäre bestimmt nicht allein im Alter, es würde schon noch eine große Liebe kommen, eine Familie, oder zumindest zöge ich mit vielen Freunden in ein schönes Haus am Meer. Die Freunde sind tot. Und die große Liebe ist nie gekommen. Alle Männer meines Alters hatten plötzlich junge Grafikerinnen als Freundinnen und erzählten, dass die Mädchen echt weit seien für ihr Alter und sie sich nicht hätten aussuchen können, wo die Liebe hinfiele. Dann bin ich mal gestürzt, das Hüftgelenk ist schlecht zusammengewachsen, und ich bekam eine Lungenentzündung. Über Nacht mussten mir Menschen beim Einkaufen helfen und beim Ankleiden, meine Hände zitterten, und jeder Schritt schmerzte. Innen, innen war ich noch jung, aber trotzdem stand ich jeden Tag am Fenster. In diesem Heim. Ich habe dort ein kleines Zimmer mit Kochnische, und zum Einkaufen fahre ich mit der Straßenbahn. Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre jung und würde mich Alte da sitzen sehen. Na ja, und heute habe ich mich in meinem Zimmer umgesehen, die Kochnische, die Saftpresse, die Mikrowelle, wie die Dinge so abgestaubt darauf warten, Erbmasse zu werden, und ich begann zu lachen. Ich lachte, bis mir Tränen über die Wangen liefen. Ich muss doch verrückt sein, dachte ich. Ich werde doch nicht als gottverdammter Computer enden, auf dem pickelige Jungs Tiersexseiten anschauen. Ich packte eine leichte Reisetasche, ging aus dem Haus, hob mein Geld vom Konto und wollte gerade los, irgendwohin. Und da bin ich hingefallen.
Da saß sie blutend auf der Straße, die Menschen gingen an ihr vorbei, schauten in den Himmel, der war nicht für sie, und ich fragte die Dame, ob sie jemanden hätte. Sie schwieg lange und flüsterte schließlich leise, als schämte sie sich für das Scheitern ihres Lebens: KEINEN. Sie wurde dann abtransportiert.
Aber das geht mich nichts an. Mein Leben findet in einer unentschlossenen Übergangszeit der Evolution statt. Vermutlich ist dies das Schicksal eines jeden, der sich zwischen zwei Jahrhunderten aufhält. Wir haben sogar ein neues Jahrtausend. Diese Aufregung zum Jahrtausendwechsel. Was für ein Theater. Von Computerzusammenbrüchen und dem Ende des öffentlichen Lebens, großen Katastrophen und Ufos haben sie gefaselt. Vereinzelt waren sie in kleinen, suizidalen Gemeinschaften nach Stonehenge gereist, um sich Schlag zwölf die Lampe auszublasen.
AUS ANGST.
Doch es wurde Schlag zwölf, und wie kleine, verirrte Raketen verpuffte der gewaltige Millennium-Bug, von dem ich nie wusste, was das eigentlich war. Die wirklichen Katastrophen kommen, wie es sich gehört: wenn alle sich in Sicherheit wiegen.
JETZT.
In Tokio soll ein Millennium-Tower gebaut werden. Lese ich in einer der Zeitungen, die jeden Morgen um mich in meinem Bett verteilt sind, in denen ich blättere und versuche, etwas zu verstehen, von dem ich nicht weiß, wozu. Norman Foster hat den Tower entworfen, und er geht so: Er soll 800 Meter aus dem Meer in die Höhe ragen, Wohnungen sollen drin sein und Restaurants, Theater, Kinos und Geschäfte, sodass die Menschen gar nicht mehr aus dem Tower rausmüssen, und, unter uns, wo sollten sie auch hinwollen, da draußen wäre Tokio, wo die Autos im Stau stecken bleiben und die Menschen in Menschen stecken - besser im Turm bleiben, der 300 Milliarden Dollar kosten wird, aber leider fehlt gerade das Geld. Schade. Doch irgendwann wird das Geld wieder da sein, und dann ist Zukunft. Wir werden das nicht mehr erleben, und das ist traurig, denn die Zukunft wird schön.
Bereits vor der Geburt werden die Menschen zurechtgebaut in einem Gen-Baukasten. Ich habe nichts dagegen, denn wenn man sieht, was aus freilaufenden Genen entsteht, kann man diese Entwicklung nur begrüßen. Wunderschön werden die Menschen sein. Von jedem Volk nur das Beste. Vom Asiaten die Haut, vom Finnen den Humor, von den Iren die Haare, ein wenig Schweizer Freundlichkeit und italienische Geselligkeit. Alle werden 200 Jahre alt und sterben nicht an Alterserscheinungen, sondern aus Langeweile. Jeder hat erlesene Talente. Die Eltern können das bestimmen. Milliarden Stars auf der Welt singen wie Andrew Eldritch, malen wie William Turner, tanzen wie Fred Astaire. Die schönen, talentierten Menschen hüpfen in wundervoll designten Millennium-Towern herum, klingeln an den Türen und singen und tanzen sich was vor.
Ansonsten machen sie nichts, weil alles automatisch ist. Am Morgen blicken sie auf die Bucht von Tokio, die künstliche Sonne geht auf, und ein weiterer sorgloser Tag ihres herrrrlichen Lebens beginnt. Mit einem Freudenschrei hopsen sie aus dem Bett, das sie mit einem gut aussehenden Partner teilen, denn teilen tun sie gerne, der Egoismus ist aus den Genen verschwunden. Sie bummeln ein wenig im künstlichen Park, in dem die künstliche Erde duftet, und singen sich etwas vor, dann gehen sie ins Theater, essen Fisch zum Mittag und reden miteinander, was das Zeug hält. Jeder redet mit jedem, jeder hat Mitleid mit jedem, falls einer mal umknickt beim Herumhüpfen, andere Gründe für Mitleid gibt es nicht mehr. Keiner nimmt sich wichtig. Keiner grübelt mehr oder leidet, nur weil er ein Mensch ist und zu blöd zu erkennen, dass das nichts Besonderes ist. Alle sind etwas Besonderes oder nichts, und ihr Job auf Erden ist ins Kino gehen, singen, tanzen, das Meer und die Sonne ansehen und miteinander ein Schwätzchen halten. Das ist wohl nicht zu viel verlangt, denken die schönen Menschen. Sie freuen sich daran, einen Menschen zum Anfassen zu haben, und genörgelt wird nicht. Sehr oft lesen sich die Menschen im Tower aus Büchern vor, denn Bücher lieben sie sehr. Sie küssen Schriftsteller und werfen sie in die Luft, wenn sie ihnen begegnen. Dann gehen...
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