Schweitzer Fachinformationen
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Der eisige Wind blies auf dem Deich heftiger als gedacht. Die Sonne hatte sich den ganzen Tag nicht sehen lassen. Jetzt, am späten Nachmittag, war die Temperatur noch einmal um ein paar Grad gefallen. Minus zehn Grad! Und in drei Wochen war Ostern!
Vom Meer sprühten immer wieder frostige Gischttropfen herüber und trafen Krumme wie kleine Nadelstiche im Gesicht. Aber er liebte es. Aus dem Grund war er vor ein paar Jahren von Berlin an die Nordsee gezogen.
Hier am Meer war Wetter noch Wetter. Er mochte Sonnenschein, aber ebenso gut gefielen ihm Sturm und Regen. Zu Hause, beim Essen oder vorm Fernseher, hatte er seine tägliche Routine, von der er nur ungern abwich. Aber beim Wetter war er ein Rebell. Es war eine Leidenschaft, die er erst nach dem Umzug nach Nordfriesland entwickelt hatte. Damals, als er noch in einer kleinen Wohnung in Neukölln gehaust hatte, war er vor jedem Schauer in die U-Bahn geflüchtet. Er hatte nie ein Fahrrad benutzt. Mit fünfundfünfzig Jahren hatte er sich darauf eingestellt, dass nichts mehr kam außer Alter, Rente und Tod.
Doch jetzt ging er über den Deich an Eiderstedts nördlicher Küste, blickte mit vor Kälte glühendem Gesicht über die aufgewühlten Wellen des Heverstroms hinüber nach Pellworm. In die andere Richtung bot sich ihm das wunderbare Panorama des winterlichen Eiderstedt. Einsame Höfe, Birkenreihen neben langen Wassergräben, weite Felder. In der Ferne ragte ein Kirchturm aus dem blassen Nebel. Was für ein Anblick!
»Wollen wir nicht endlich nach Hause?« Marianne scheuchte ihn aus den Gedanken. »Ich spür meine Füße kaum noch.«
Krumme sah seine Freundin überrascht an. Wie er trug sie einen dicken Mantel, Schal und Handschuhe. Aber anders als er wirkte sie gar nicht glücklich.
»Wir sind doch erst eine Stunde unterwegs«, erwiderte er.
»Eben. Eine Stunde in der Eiseskälte.«
»Du bist doch die Nordfriesin? Ich dachte, euch macht das Wetter nichts aus?«
Sie hustete. »Von wegen. Wenn jemand bei dieser Kälte unterwegs ist, dann nur Touristen. Wir Einheimischen bleiben schön zu Hause. Und machen es uns mit Kaffee und leckerem Kuchen gemütlich. Oder mit einem heißen Grog«, fügte sie mit sehnsüchtigem Lächeln hinzu und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase.
Krumme musterte sie. Auch sie hatte von der Kälte gerötete Wangen. Ihre Wollmütze saß schief auf dem Kopf und konnte ihre strubbeligen blonden Haare im stürmischen Wind kaum bändigen. Marianne war nur ein paar Jahre jünger als er. Aber in Momenten wie diesen sah sie aus wie ein Teenager. Krumme lächelte.
Er zeigte zu dem riesigen Mischlingshund, den sie an der Leine hielt. »Was ist mit Watson? Ihm scheint's zu gefallen.«
Tatsächlich schaute der Hund freundlich hechelnd Richtung Meer. Die Windböen schienen ihm nicht das Geringste auszumachen.
»Der hat ein dickes Fell. Ich nicht«, sagte sie trotzig mit zitternder Stimme.
Krumme nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. »Schon gut. Ist wirklich kalt. Gehen wir nach Hause.«
Marianne lächelte erleichtert und gab ihm dankbar einen Kuss auf die Wange. Dann hielt sie ihm Watsons Leine hin. »Hältst du ihn mal kurz?«
Sie kramte nach einem Taschentuch. »Schon verrückt, dieser Kälteeinbruch. Und Weihnachten haben wir noch draußen auf dem Balkon in der Sonne gesessen.«
Krumme nickte. »Mit dir, mein Freund.« Er klopfte Watson auf die mächtige Flanke.
Doch der Hund hatte nur Augen für die kleine Herde Schafe, die, ein paar Meter vom Meer entfernt, mit den Köpfen vorweg hinter einigen Heuballen Schutz vor dem stürmischen Wind gesucht hatte.
»Meinst du, er will eins fressen?«, fragte Krumme.
»Sehr witzig.« Marianne verdrehte die Augen. Er grinste. Natürlich wusste er, dass Watson absolut harmlos war und keinem Schaf etwas antun würde.
Oder doch? Plötzlich spürte Krumme einen heftigen Ruck im Arm. Der riesige Hund riss sich los und sprang mit langen Schritten davon. Krumme konnte die Leine mit seinen dicken Fäustlingen nicht halten.
»Watson!«, rief er erschrocken. »Bleib hier!«
Aber der Hund beachtete ihn nicht. Stattdessen lief er den Deich hinab Richtung Schafe und der tosenden Nordsee.
»O Gott, nein!«, stammelte Krumme in Erwartung eines Massakers. Aber Watson wollte gar nichts von den Tieren. Laut bellend sprang er mit hin und her schwingendem Schwanz und weit heraushängender Zunge um die Tiere herum. Die rannten aufgeregt blökend davon, blieben aber schon nach ein paar Metern wieder stehen, schauten irritiert zu Watson und versuchten bei der Gelegenheit, etwas von dem vereisten Deichgras zu futtern.
Krumme jagte Watson hinterher, rutschte auf dem gefrorenen Boden aus und landete auf dem Hintern. Fluchend rappelte er sich wieder auf. »Watson, verdammt! Bei Fuß, kommst du wohl her!« Er versuchte, nach der Leine zu greifen, die der Hund hinter sich herumwirbelte. Ohne Erfolg. Von seinen Fesseln befreit war Watson viel zu aufgeregt, um sich von ihm einfangen zu lassen. Oder war für ihn alles nur ein Spiel?
Doch auf einmal schien sich der Hund nicht mehr für ihn oder die Schafe zu interessieren. Er blieb stehen, schnüffelte in der kalten Seeluft und lief dann den Deich hinauf. Krumme versuchte, sich im Hechtsprung auf ihn oder wenigstens die Leine zu werfen. Aber wieder landete er nur im Schnee. Er stöhnte und sah dem Hund hinterher.
Watson verschwand bereits über der Deichkrone. Schimpfend nahm Krumme die Verfolgung auf, hielt sich das Knie, das er sich beim Sturz gestoßen hatte. Dieser verdammte Hund! Er hatte ihn wirklich gern. Aber warum hörte er nicht auf ihn? Bei Marianne reichte ein kurzer Pfiff, und er stand stramm.
Aber dieses Mal klappte es selbst bei ihr nicht. Krumme beobachtete, wie sie ebenfalls den Deich hochlief.
Oben angekommen sah Krumme, dass Watson stehen geblieben war und mit angelegten Ohren in die verschneite Marsch hinabblickte. Selbst bei dem lauten Wind konnte er hören, wie der Hund zu knurren begann.
»Alles in Ordnung, Kumpel?«, erkundigte er sich besorgt, als er endlich neben ihm stand. Speichel troff aus Watsons gewaltigem Maul, die Augen funkelten. Er sah aus wie ein scharfer Wachhund, der sich jeden Moment auf einen Einbrecher stürzen wollte. Krumme konnte sich nicht erinnern, ihn je so furchterregend gesehen zu haben.
»Scheint was gewittert zu haben«, meinte Marianne.
»Aber was?« Krumme schaute hinunter auf die von Gräben durchzogenen winterlichen Wiesen. Er konnte nichts Bedrohliches erkennen. Watson schon. Plötzlich ließ er ein wütendes Bellen hören. Krumme zuckte erschrocken zusammen und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
Marianne hatte keine Angst. Besorgt ging sie neben dem Hund in die Knie. »Was ist denn da?«, fragte sie und tätschelte ihm den Kopf.
Es war kaum zu glauben. Von einem Moment zum anderen war Watson wieder ganz der Alte. Mit braunen Teddybäraugen schaute er Marianne überrascht an - und leckte ihr dann mit seiner handtuchgroßen Zunge über das Gesicht.
»Wie machst du das nur?« Krumme schüttelte den Kopf.
Marianne richtete sich auf und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat er ein Kaninchen gesehen?«
»Kaninchen? Er sah aus, als wenn er den Teufel persönlich gewittert hätte!«
Marianne lächelte und begann, den Schnee von seinem Mantel und seiner Hose zu klopfen. Auch Watson wollte mit seiner langen Zunge helfen, aber Krumme schob ihn verärgert zur Seite. »Jetzt komm mir nicht so, ich bin sehr böse auf dich! Läufst einfach davon!«
Marianne lachte. »Du vergisst immer, dass er ein Hund ist. Du kannst ja gerne mit ihm plaudern und Quatsch machen .«
»Quatsch?«, unterbrach Krumme sie und zeigte auf seine verdreckte Kleidung. »Sehe ich aus, als wenn ich gerne Quatsch mache?«
». aber wenn du was von ihm willst, braucht er klare Kommandos.«
»Du meinst pfeifen? Kein Problem!« Krumme zog seinen Fäustling aus und versuchte, auf zwei Fingern zu pfeifen, brachte aber nur ein leises Fiepen hervor. Watson bemerkte es gar nicht, sondern beobachtete stattdessen hechelnd die Schafe, die zu dem Heuballen zurückgekehrt waren.
»Liegt an der verdammten Kälte«, brummte Krumme. »Eigentlich kann ich das.«
Marianne lächelte und streichelte ihm zärtlich über die Wange. »Komm, lass uns nach Hause fahren.«
Krumme gab seinen Widerstand auf. Arm in Arm und mit Watson an der Leine stemmten sie sich gegen den Ostwind an, als sie zurück zu Mariannes Golf gingen. Es kostete sie einige Mühe, den großen Hund in den kleinen Wagen zu schieben.
Schließlich fuhren sie los, am Deich entlang, dann vorbei am südlichen Husumer Hafen mit den großen Speicherhäusern und weiter in die Innenstadt. Bevor sie wieder in ihr Haus in der nördlichen Altstadt zurückkehrten, mussten sie Watson noch bei seiner Besitzerin Anette abgeben. Die junge Schauspielerin bereitete sich gerade wieder einmal auf ein Vorsprechen vor und war dankbar, dass Marianne und Krumme sich um Watsons Auslauf kümmerten. Kein Problem für die beiden. Der Hund war ihnen mittlerweile so ans Herz gewachsen, dass sie sich freuten, wenn sie ihn mit auf ihre Spaziergänge nehmen konnten.
Als sie ihr gemütliches Haus betraten, seufzte Marianne erleichtert auf. Endlich die eiskalten Füße aufwärmen! Sie waren noch ganz taub. Die Winterschuhe, die sie im Schlussverkauf erstanden hatte, taugten nichts. Krumme bot an, ihr eine Wanne mit warmem Wasser zu holen.
»Du bist ja süß«, sagte sie...
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