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Der schwarze Mercedes rammte ihre rechte Vorderseite. Der Passat kam von der Spur ab, donnerte gegen einen der Betonpoller neben der Fahrbahn, drehte sich zweimal um seine Achse, rutschte über den regennassen Bürgersteig mitten durch einen Kiosk und krachte schließlich in das Schaufenster eines türkischen Supermarktes.
»Scheißkerle«, stöhnte Piet.
Robert starrte ungläubig auf die zerquetschten Tomaten, Zucchini und Orangen in der kaputten Holzkiste vor sich auf der Motorhaube. Wütend legte er den Rückwärtsgang ein. Die Kupplung knirschte. Als der zerbeulte Passat langsam durch die Trümmer des kleinen Ladens zurück auf den Bürgersteig fuhr, knackten Scherben unter den Reifen.
Durch die Regenschlieren auf der Windschutzscheibe sah Robert, wie Passanten entsetzt in Richtung des zerstörten Supermarktes starrten. Im Laden stand eine Frau mit Kopftuch und hob schreiend die Hände zum Himmel, während eine andere erschrocken ihr Baby an die Brust drückte. Fußgänger riefen panisch um Hilfe und deuteten immer wieder auf den Wagen mit dem blinkenden Blaulicht.
Doch Robert und Piet hatten keine Zeit. Sie mussten weiter, der Mercedes war schon nicht mehr zu sehen. Entschlossen legte Robert den Gang ein und ließ den Motor aufheulen. Mit durchdrehenden Reifen schossen sie zurück auf die Fahrbahn. Tomaten flogen gegen ihre Scheibe, als sie auf der Straße davonrasten.
Sie nahmen die Verfolgung wieder auf. Der Mercedes hatte inzwischen den Mehringdamm nahe dem Halleschen Tor verlassen und raste über die Skalitzer Straße unter der stählernen S-Bahn-Trasse vorbei am Kottbusser Tor in Richtung Treptow. Die Straße war durch den Feierabendverkehr und die vielen Baustellen in Kreuzberg völlig verstopft. Am Görlitzer Bahnhof ging gerade ein Flohmarkt zu Ende. Die Händler hatten ihre Wagen, darunter viele mit polnischen Kennzeichen, in der zweiten Reihe abgestellt und verstauten im strömenden Regen hastig ihre nicht verkauften Waren, als der Mercedes heranrauschte. Wie ein Panzer rammte sich der Wagen den Weg frei. Die Menschen flohen in alle Richtungen, Plastiktüten mit Büchern und Trödel flogen durch die Luft und landeten auf dem nassen Asphalt. Robert riss das Steuer rum, doch zu spät. Der Passat ruckte kurz, als er den kleinen Körper überfuhr.
»Nein!«, schrie Robert entsetzt.
»Nur eine Puppe, Mann! Es war nur eine Puppe.«
Robert blickte zurück und sah den aufgeplatzten Plastikkörper. Ihm war, als würde ihm unter dem blonden Haar ein schwarzes Auge nachstarren. Benommen schüttelte er den Kopf und atmete tief durch.
»Verdammt, wo bleibt die Verstärkung?«, fluchte Piet.
Robert hatte sich wieder nach vorn gewandt und suchte die Straße ab. Wo war der Mercedes? Er konnte ihn nicht mehr entdecken. Fluchend drückte er das Gaspedal durch und jagte den Dienstwagen auf gut Glück weiter durch Kreuzberg.
Als er aufstoßen musste, schmeckte er Zwiebeln und öliges Fleisch. Scheiß Döner! Wieso nur hatte er heute Mittag nichts Richtiges gegessen? Aber er wusste ja, warum: weil er auch diesen Morgen keine Zeit für ein ordentliches Frühstück gehabt hatte und mittags dann völlig ausgehungert gewesen war, hatte er einfach so schnell wie möglich so viel wie möglich runtergeschlungen. Er stöhnte auf und versuchte den Gedanken an das fettige Fleisch zu verdrängen.
Endlich hatte er den Mercedes wieder im Blick. Der Wagen näherte sich jetzt dem Schlesischen Tor. Auch hier hatten Bagger die Straße aufgebrochen, die Autos stauten sich auf dem alten Kopfsteinpflaster. Von beiden Seiten rasten zwei Streifenwagen mit grellem Blaulicht auf die Kreuzung zu. Verstärkung, endlich. Doch bevor sie dem Mercedes den Weg abschneiden konnten, rauschte dieser zwischen ihnen hindurch in Richtung Oberbaumbrücke.
»Na bitte«, grinste Piet, »jetzt haben wir die Dreckskerle da, wo wir sie haben wollen.«
»Bist du dir da sicher?« Robert warf seinem Freund ein Lächeln zu und schaltete noch einmal einen Gang hoch, um Anschluss an den Mercedes zu halten, der bereits die Spree überquerte. Mit aufjaulendem Motor verscheuchte er die Bauarbeiter, die den morschen Straßenbelag auf der Oberbaumbrücke erneuerten und die historischen Brückentürme renovierten.
Piet grinste zufrieden: Auf der anderen Seite der Brücke, noch vor der Mühlenstraße, hatten die Kollegen aus dem Ostteil der Stadt eine Sperre errichtet. Mit ihren Pistolen im Anschlag waren die Beamten hinter ihren Ladas in Stellung gegangen und erwarteten die Flüchtigen, die in ihrem inzwischen recht verbeulten Luxuswagen auf sie zurasten.
»Was, zum Henker?« Ungläubig beobachtete Piet das Geschehen. Der Fahrer des Mercedes schien nicht im Traum ans Aufgeben zu denken. Er beschleunigte. Die schwarze Limousine brüllte wie ein gequältes Raubtier auf und machte einen Satz. Schüsse fielen. Krachend durchbrach der Wagen die Sperre. Wie Spielzeugautos schleuderte er die beiden Ladas zur Seite.
Piet fluchte. Robert schwieg und konzentrierte sich aufs Fahren. Wieder musste er Trümmern ausweichen, um dem Mercedes folgen zu können, der jetzt über die Warschauer Straße und die S-Bahn-Brücke Richtung Friedrichshain fuhr.
Doch die vielen Karambolagen waren schließlich zu viel für den massiven Wagen. Rauch stieg aus der zerbeulten Motorhaube, der Mercedes knatterte wie eine alte Lokomotive über das brüchige Kopfsteinpflaster und verschwand dann links in der Gubener Straße.
»Jetzt haben wir sie.« Mit grimmigem Lächeln lud Piet seine Walther nach. Robert nickte und fuhr an der Spitze einer Kolonne von Streifenwagen in die Gubener, die wie alle Straßen in Friedrichshain auch zwei Jahre nach der Wende noch immer genauso verfallen und heruntergekommen aussah wie am Tag des Mauerfalls. Überall grauer Altbau mit brüchigen Fassaden, dazwischen über hundert Jahre altes Kopfsteinpflaster mit Löchern so groß, dass kleine Kinder sich darin verstecken konnten.
Der Mercedes hatte inzwischen stöhnend und röchelnd seinen Geist aufgegeben. Die beiden Insassen, ein großer Mann mit schütterem Haar und tief liegenden Augen und sein bulliger Begleiter, sprangen mit gezückten Waffen heraus und schossen sofort auf die näher kommenden Streifenwagen. Hektisch schauten sie sich um, dann deutete der Lange in eine Toreinfahrt. Der Bullige nickte und rannte los. Eine ältere Dame, die sich mit ihrer Gehhilfe über den Bürgersteig schleppte und den Riesen und seine Pistole verwirrt anstarrte, stieß er einfach zur Seite.
Robert sprang aus dem Wagen, während der Bullige in der Toreinfahrt verschwand und der Lange auf der anderen Seite in einen dunklen Hauseingang lief. »Humboldt & Söhne« stand in verblichenen Buchstaben aus der Vorkriegszeit darüber. Zwei Kollegen rannten an Roberts und Piets Seite. Robert deutete zur Toreinfahrt.
»Schnappt euch den Dicken! Wir holen uns Löwe!«
Die Beamten nickten, dann liefen Robert und Piet dem größeren Mann hinterher. Mit ihren Pistolen im Anschlag sprinteten sie in den Hauseingang, von dem rechts ein Treppenhaus in die oberen Stockwerke führte. Am Ende des Eingangs konnten sie das Licht des Hinterhofs sehen. Robert hielt den Finger an den Mund. Piet nickte und verharrte still.
Nur ein Fernseher lief leise, ansonsten war kein Geräusch zu hören. Eine Talkshow. Eine Mutter, die ihre Kinder bat, sie endlich in Ruhe zu lassen. Dazu prasselte der Regen.
Plötzlich fielen Schüsse, und Polizisten riefen aufgeregt durcheinander.
Die Kollegen schienen Löwes Begleiter gefunden zu haben.
Robert trat ungeduldig von einem Bein auf das andere, wies dann mit der Pistole zum Hinterhof und nickte Piet auffordernd zu, der aber den Kopf schüttelte.
»Nix da. Wir bleiben zusammen. Du weißt, wie gefährlich der Scheißkerl ist«, zischte er leise.
»Und deswegen darf er uns auf keinen Fall entwischen. Also los, mach schon!«
Piet zögerte einen kurzen Moment, dann lief er mit einem Aufstöhnen in Richtung Hinterhof. Robert schlich sich leise in das Treppenhaus. Nichts war zu hören - und nichts zu sehen. Die Kabel für den Lichtschalter hingen durchtrennt aus der Wand. Um in der Finsternis wenigstens etwas erkennen zu können, hatte jemand einige Windlichter auf den Boden gestellt.
Plötzlich schnelle Schritte. Zwei Stockwerke über ihm.
»Piet!«, rief Robert leise, aber sein Partner hörte ihn nicht. Robert entschloss sich, den Flüchtenden auf eigene Faust zu verfolgen. Mit der Waffe im Anschlag hastete er in das dunkle Treppenhaus.
»Du hast keine Chance, Löwe! Hier kommst du nicht mehr raus!«
Nur wenige Zentimeter neben Robert krachten Kugeln in das abgeschabte Geländer. Robert warf sich so heftig nach hinten gegen die Wand, dass loser Putz ihm in den Nacken rieselte.
Robert schüttelte sich, bevor er weiter nach oben lief.
»Was ist .?«, fragte eine überraschte Stimme, dann dröhnte plötzlich ein Schuss durch das Treppenhaus. Doch dieses Mal war nicht Robert das Ziel. Böses ahnend beschleunigte er seine Schritte.
Und tatsächlich: Im dritten Stock lag ein älterer Mann in speckigem Unterhemd und bekleckerter Jogginghose vor seiner offenen Wohnungstür. Stöhnend hielt er sich den Bauch, zwischen seinen krampfenden Fingern lief Blut auf die Holzdielen. Im Hintergrund flimmerte noch der Fernseher. Robert fluchte lautlos. Warum nur hatte sich der Mann von seiner Talkshow ablenken lassen?
»Hast du ihn erwischt?«
Piet kam die Treppe herauf, seine Walther im Anschlag. Sein Kollege schüttelte den Kopf und deutete auf...