Schweitzer Fachinformationen
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Hamburg 1962
Annes Nase presste sich noch ein Stückchen fester gegen die Scheibe. Ihre zu Schutzschilden geformten Hände schufen eine Verbindung zwischen ihrem Kopf und dem Glas. Doch alle Mühe war vergebens. Durch das gleißende Sonnenlicht, das auf das Schaufenster fiel, blieb das Ladeninnere eine dunkle Höhle, die ihre Schätze vor der Außenwelt verbarg.
Denn Schätze waren es, die dort im Fotogeschäft von Herrn Michelsen lagerten. Jedenfalls Annes Meinung nach. Während ihre Klassenkameradinnen über die neueste Mode oder das Aussehen eines Schauspielers in Verzückung gerieten, waren es bei Anne Fotoapparate. So oft sie die Möglichkeit besaß, lief sie zu dem Fotogeschäft im Eppendorfer Weg, um durch das Schaufenster zu spähen, ob Herr Michelsen, der Ladenbesitzer, neue Modelle ins Sortiment genommen hatte. Einen Fuß über die Ladenschwelle zu setzen, traute sie sich nur, wenn sie im Auftrag der Eltern eine neue Filmrolle kaufen oder einen vollen Film zum Entwickeln bringen sollte. Das geschah jedoch selten. Die Eltern waren sparsam. Fotografiert wurde auf Reisen, bei Ausflügen oder festlichen Anlässen. Fotografieren einzig um des Fotografierens willen lag dem Denken der Eltern fern. Und es war auch nichts, was sie ihrer Tochter zugestehen würden.
Dabei war es nicht so, dass sie ihr keine Freude gönnten, dachte Anne mit einem Anflug von Schuldbewusstsein. Die Reise mit der Leichtathletikabteilung ihres Sportvereins vor zwei Jahren nach Westberlin hatten sie ohne zu zögern bezahlt. Und zur Konfirmation im Frühjahr hatte sie nicht nur ein neues Kleid, sondern auch Geschenke bekommen. Ihre Finger griffen nach der dünnen Silberkette an ihrem Hals und drehten das daran hängende Kreuz. Sie hatte sich über das Schmuckstück sehr gefreut, wenn auch das wertvollste Geschenk für sie das Geld gewesen war, das sie bekommen hatte. Sie hatte die Scheine sorgsam zusammengefaltet und in ihre Spardose gesteckt. Den neugierigen Fragen, wofür sie das Geld denn zurücklegte, war sie ausgewichen. Dabei gab es nur eine Sache, die sie unbedingt haben wollte. Einen von den Fotoapparaten aus Herrn Michelsens Laden.
Nein, nicht irgendeinen, korrigierte sich Anne. Seit sie im vergangenen Jahr die grau-schwarze Leica im Schaufenster gesehen hatte, gab es für sie keine andere Kamera mehr. Zwar wurden auch die anderen Apparate von ihr stets einer genauen Musterung unterzogen. Und es kam durchaus vor, dass sie einem von ihnen den einen oder anderen Vorteil gegenüber der Leica zubilligte. Doch nichts davon konnte den Platz, den die Leica M3 in ihrem Herzen eingenommen hatte, gefährden. Es war wie die Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind. Egal, ob andere Kinder besser, klüger oder schöner waren, die Liebe zum eigenen Kind blieb ungebrochen.
Allerdings gehörte die Leica nicht zu ihr, dachte Anne betrübt. Und würde es wahrscheinlich auch nie tun. Denn alles Sparen der vergangenen Monate hatte nicht geholfen. Sie konnte sich den Apparat nach wie vor nicht leisten.
Wenn sie noch mehr Zeitungen austrug? Sie konnte sich auch einmal in der Nachbarschaft umhören, ob nicht eine Familie möglicherweise jemanden brauchte, der auf ihr Kind aufpasste. Doch selbst wenn, wäre der Verdienst wohl viel zu gering, um sie ihrem Ziel näherzubringen, stolze Besitzerin ihrer Leica, wie sie sie im Stillen nannte, zu werden.
Vielleicht konnte sie in den Ferien Mormor um etwas Geld bitten? Natürlich nicht direkt. So etwas gehörte sich nicht. Wenn sie jedoch Mormor von der Kamera erzählte, ihre Vorteile ausgiebig erläuterte, war ihre Großmutter unter Umständen bereit, ihr etwas Geld dazuzugeben. Bot sie es von sich aus an, konnten die Eltern nichts dagegen sagen. Deren Meinung nach sollte man alles durch eigene Anstrengung, durch Fleiß und Sparen erwerben. Ein neues Möbelstück wurde erst gekauft, wenn das nötige Geld beisammen war. War es das nicht, lebte man weiter mit den alten Möbeln. Einzig für etwas so Kostspieliges wie ein Auto war ihr Vater bereit, einen Kredit aufzunehmen.
Doch selbst wenn sie das Geld für die Leica zusammenbekam, war nicht gesagt, dass sie sie auch kaufen durfte. Die Familie besaß bereits einen Fotoapparat, einen sehr einfachen, nicht mit ihrer Leica zu vergleichen. Der Vater gestand ihr bereitwillig zu, dass sie es war, die fast alle Fotos damit machte. Er hatte sie auch schon mehrere Male für ihre Bilder gelobt. Aber ein eigener Apparat? Undenkbar. Das wäre unnötiger Luxus.
Ein Knuff in die Seite riss Anne aus ihren Gedanken. Erschrocken ließ sie die Hände sinken und drehte sich um.
»Wenn du so weitermachst, wirst du irgendwann noch angezeigt. Wegen Geschäftsschädigung. Oder glaubst du, irgendjemand kauft da noch ein, wenn du immer wie eine platte Flunder an der Scheibe klebst?«
Entrüstet stemmte Anne die Hände in die Hüften. »Das ist überhaupt nicht wahr«, empörte sie sich. »Ich habe nur kurz durchs Schaufenster geschaut. Das machen andere beim Einkaufsbummel auch. Wenn es ein Modegeschäft wäre, hättest du mit Sicherheit nichts gesagt.«
Die perfekt gezupften Augenbrauen ihrer Schwester hoben sich. »Bevor ich mich zum Gespött der Leute mache, indem ich ständig an der Ladenscheibe klebe, hätte ich zumindest mal den Mumm, den Laden zu betreten. Aber das traut sich meine kleine Schwester ja nicht.«
Anne hasste es, wenn Eva einen auf große Schwester machte. Zugegeben, sie trennten dreieinhalb Jahre voneinander. Aber nur, weil sie die Jüngere war, bedeutete das nicht automatisch, dass sie ein dummer Feigling war, wie ihr Eva unterstellt hatte.
Eine innere Stimme rief ihr allerdings zu, dass Eva so unrecht nicht hatte. Zumindest, wenn es um die Feigheit ging. Allein zum Schauen hätte sie sich nie in den Laden getraut. Selbst wenn sie einen Auftrag hatte, blieb sie nur so lange im Geschäft, wie es erforderlich war. Ein einziges Mal hatte sie es gewagt, näher an das Regal mit den geliebten Leicas heranzutreten. Da hatte Herr Michelsen sie kurz allein gelassen, um die entwickelten Bilder, die sie abholen gekommen war, aus dem Hinterzimmer zu holen. Und selbst da hatte sie sich lediglich einen raschen Blick gestattet, obgleich es in ihren Fingern gezuckt hatte, die Leica M3 wenigstens flüchtig zu berühren.
»Na, was ist? Willst du hier Wurzeln schlagen? Oder kommst du mit nach Hause?«, fragte Eva.
Zu gerne wäre Anne dem Genörgel der Schwester mit einer schlagfertigen Erwiderung begegnet. Doch ihr fiel nichts Überzeugendes ein. Daher zog sie es vor, stumm zu bleiben und Eva zur einige Hundert Meter entfernt liegenden Wohnung zu folgen. Kaum waren sie zwei Schritte weit gegangen, hakte sich Eva bei ihr unter, als hätte es die kleine Auseinandersetzung eben nicht gegeben.
»Hast du dir schon mal überlegt, ob du dort nächstes Jahr nicht als Lehrling anfangen willst? Wenn du dich nicht allein traust, fragen zu gehen, komme ich gerne mit.«
Das war Eva, dachte Anne voll liebevoller Zuneigung. In der einen Sekunde machte sie einen mit ihrer beißenden Kritik nieder, in der nächsten war sie wieder die hilfsbereite, große Schwester.
»Meinst du denn, er nimmt jemanden wie mich?« Eine Lehre im Fotogeschäft bei Herrn Michelsen, das wäre wie der Hauptgewinn bei einer Lotterie.
»Na, hör mal.« Eva war stehen geblieben und funkelte Anne an. »Was heißt denn, jemanden wie dich? Der kann sich glücklich schätzen, wenn er dich bekommt. Nimm ein paar von den Bildern mit, die du zuletzt gemacht hast. Das überzeugt ihn garantiert.«
»Aber für eine Lehre als Fotografin reicht doch bestimmt ein einfacher Volksschulabschluss nicht aus.«
»Das weißt du nicht, wenn du nicht fragst.« Eva drückte Annes Arm. »Nur Mut, meine Lütte. Der Mann wird schon nicht beißen. Das Einzige, was passieren kann, ist, dass er Nein sagt. Und dann bist du genauso dran wie jetzt. Musst dich aber nicht mehr fragen, was wäre, wenn.«
Anne staunte über ihre ältere Schwester. In der Regel drehte sich Evas Denken um Mode, Filme, Jungs und Musik. Die Reihenfolge wechselte, die Themen nicht. Doch es gab auch Augenblicke wie diesen, in denen Anne fühlte, wie stark das Band ihrer schwesterlichen Verbundenheit war.
Wer sonst würde auf die Idee kommen, ihr eine Lehre beim Fotografen vorzuschlagen? Ihr raten, einfach hinzugehen und vorzusprechen? Und sogar anbieten mitzukommen. Das zeigte nicht nur, dass sie ihrer Schwester wichtig genug war, um etwas von ihrer Freizeit zu opfern, sondern leider auch, dass sie selbst ein Bangbüx war, der sich vor lauter Sehnen und Starren die Nase platt drückte, ohne auch nur den Gedanken zu wagen, dass in diesem Laden ihre Zukunft liegen könnte.
»Du meinst wirklich, ich kann einfach hingehen und Herrn Michelsen fragen, ob er mich als Lehrling nimmt?«
Eva lachte. »Mensch, Anne. Du sollst keinen Kredit beantragen oder ihm einen Staubsauger andrehen. Du gehst hin und fragst freundlich und höflich, ob er nächstes Jahr einen Lehrling braucht. Wenn ja, empfiehlst du dich selbst.«
»Das kann ich nicht.«
Eva atmete tief durch.
Wieso verstand Anne nicht, dass das Leben nicht zu einem kam, sondern man hingehen musste, um sich das zu holen, was man wollte? Sie begriff zwar nicht, was ihre kleine Schwester an diesem Fotoladen so besonders fand. Allein bei der Vorstellung, sie müsste auch nur einen Tag in diesem dunklen Kabuff verbringen, überkam sie das Grauen. Aber wenn es Anne gefiel, warum dann nicht dort wegen einer Lehre anfragen?
»Ich kann gerne mitkommen«, bot sie Anne erneut an. Als ihre Schwester immer noch zögerte, tippte Eva ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden. »Es ist nur ein Angebot....
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