Schweitzer Fachinformationen
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Einige Tage zuvor
»Sag mir, wie fühlt sich das Sterben an?«
Dü-Dü-Dü!
Vielleicht hätte sie ihm sogar geantwortet, wäre da nicht all das Blut gewesen. Auf dem Boden, an den Wänden. Ihr Blut.
Doch Debby war nicht tot. Noch nicht. Ein letzter Funke Leben loderte in ihr .
Dü-Dü Dü-Dü-Dü-Dü!
»Warum jetzt! Herrgott?!« Wutentbrannt schlug Ina das Buch zu und nestelte in der Handtasche nach dem klingelnden Mobiltelefon. Sie musste eine ganze Weile suchen, weil ihre Tasche voll wie nie zuvor war. Beim Wühlen fluchte sie wie ein Rohrspatz. Gut nur, dass sie und Zeus das Abteil für sich allein hatten. Als sie das Telefon endlich hinter einer Packung ihrer Lieblingslutschpastillen hervorgenestelt hatte und die eingehende Nummer sah, drückte sie den Anrufer weg. »Oh, nein«, sagte sie entschlossen zu sich selbst. »Du störst mich nicht mehr!« Die Entschlossenheit brach jedoch wie ein Kartenhaus in sich zusammen, als sie feststellte, dass das Display nicht das anzeigte, was es anzeigen sollte. Im Eifer des Gefechts hatte sie offenbar die falsche Taste gedrückt und das Gespräch nicht abgelehnt, sondern angenommen.
»Hallo?«, drang eine blecherne Stimme aus den winzigen Öffnungen des Lautsprechers.
Verflixt! Ina stöhnte lautlos vor sich hin. Blöd aber auch, dass sie sich eigens für ihre Reise ein nigelnagelneues Handy gegönnt hatte und sich mit der Bedienung schwertat.
»Hallo? Christina? Hörst du mich!?«
Mit einem unterdrückten Seufzer hielt sie sich den Hörer ans Ohr.
»Renate«, säuselte sie in liebreizendem Tonfall, von dem sie sich selbst fragte, wo sie ihn auf die Schnelle hergezaubert hatte. Dabei hatte sie sich doch fest vorgenommen, diese Heuchelei abzulegen.
Nun ja, alte Gewohnheiten eben.
»Habe ich den Zettel an deiner Haustür richtig interpretiert, Christina?« Die Stimme ihrer Nachbarin wühlte sich voller Vorwurf durch den Hörer. Sie war die einzige Person auf dieser Welt, die Ina bei vollem Namen nannte.
»Nun, das hängt davon ab, wie du ihn interpretiert hast.«
»Na, dass du dich klammheimlich aus dem Staub gemacht hast, ohne dich von mir zu verabschieden .«
»Dann hast du das vollkommen richtig erkannt.«
Stille stahl sich in die Leitung, gefolgt von einem schweren Seufzen. Schließlich: »Das ist äußerst beunruhigend.«
Ina war es schnuppe, was ihre Nachbarin beruhigte und was nicht. Vielleicht war es nicht die feine Art, sich einfach so davonzuschleichen. Aber sie war nichts und niemandem Rechenschaft schuldig. Schon gar nicht ihrer Nachbarin. Außerdem verabscheute sie Abschiede.
»Ich meine . solch ein Risiko auf sich zu nehmen. In deinem Alter!«
»Was ist denn mit meinem Alter nicht in Ordnung?«, fragte Ina, vielleicht ein wenig zu scharf im Tonfall.
»Nun ja«, hörte sie Renates Stimme nach einigem Zögern. »Wir sind schließlich nicht mehr die Jüngsten.«
»Wir?« Ina unterdrückte ein Aufschnaufen, denn soweit sie wusste, war ihre Exnachbarin ganze sechs Jahre älter als sie. Und damit gehörte sie beinahe einer vollkommen anderen Generation an. Der direkten Nachkriegsgeneration sozusagen. Als Ina geboren worden war, hatte Renate immerhin schon die Schule besucht.
Sie klappte das Buch zu, das sie bereits zu drei Vierteln fertig hatte. Ganze vier Jahre lang hatte sie warten müssen, bis sich der Autor dazu erbarmt hatte, es zu schreiben. Es war das große Finale einer Reihe, die sie seit dreizehn Bänden verfolgte. In diesem Band ging es um eine an Gedächtnisverlust leidende Buchhändlerin, die von dem Serienkiller Harvey Buckett heimgesucht wurde, der eine Rechnung aus der Vergangenheit begleichen wollte. Nun endlich würde der Leser erkennen, worum es sich dabei handelte. Welch abtrünniges Geheimnis verband die beiden, dass er ihre gesamte Familie ausgelöscht hatte? Ihren Mann. Ihre Kinder. Sogar den geliebten Chihuahua. Auf den nächsten zweihundert Seiten würde Ina es erfahren. Früher oder später.
»Dabei habe ich dir doch noch so viel zu erzählen, Ina!«
Wohl eher später, wenn das Gespräch mit Renate länger dauern sollte. Mit rollenden Augen blickte sie aus dem Fenster, an dem die Landschaft vorbeizog. Schwermütig verstaute sie das Buch in der vollen Handtasche. Sie verstand selbst nicht richtig, warum sie diese Buchreihe anzog. Sie war nicht sonderlich erfolgreich und hatte nur deshalb einen Platz im Bestseller-Regal gefunden, weil Ina ihn freigeräumt hatte, damit die Serie zumindest in ihrer Buchhandlung ihre Leser fand. Ob es daran lag, dass die Hauptfigur wie sie selbst Buchhändlerin war?
»Dabei hätte ich dich so gerne noch getroffen und gewusst, wie es dir geht«, mischte Renates quakende Stimme sich in ihre Gedanken.
»Gut geht's mir.« Ina horchte in sich hinein, während sie das sagte. Das war nicht einmal gelogen. Erstaunlich gut ging es ihr. Und das verwunderte sie doch ein wenig. Eigentlich sollte ihr Herz schwer sein. Immerhin hatte sie gerade ihr gewohntes Leben aufgegeben, all ihr Hab und Gut in einer Mietgarage eingelagert und den Laden, der ihr wirklich etwas bedeutete, an eine große Buchhandlungskette verkauft. Doch das Einzige, was sie verspürte, war das aufregende Gefühl von Freiheit. Und vielleicht noch den stürmischen Duft des Neuanfangs, der ihr um die Nase wehte.
»Ich störe dich doch nicht etwa bei etwas Wichtigem?«, fragte Renate unwillkürlich und klang dabei tatsächlich so, als sorgte sie sich darum. Das war eine absolute Heuchelei. Denn wenn ein Mensch auf diesem Planeten zuletzt bemerkte, dass er störte, dann war es ihre Exnachbarin.
»Nun, ich sitze im Zug und lese«, erwiderte Ina, ohne damit die Frage wirklich zu beantworten. Gedankenlos zog sie eine Strähne nach vorn und betrachtete ihr honigbraunes Haar, das mal wieder eine Tönungsauffrischung vertragen könnte. Vielleicht sollte sie es mal mit Nussbraun versuchen.
»Wieder einen deiner blutrünstigen Friller?«, fragte Renate in einem Ton, dem man die gerümpfte Nase förmlich anhörte.
»Es heißt Thriller.«
»Hab ich doch gesagt!« Renate schnappte, nun ja, eingeschnappt nach Luft. »Friller!«
Ina brummte ein kaum hörbares Om vor sich hin und übte sich in der Gelassenheit einer Zen-Meisterin.
»Überhaupt ist das eine Schnapsidee.«
Ihr Hund Zeus sprang mit einem Satz auf ihren Schoß und machte es sich dort bequem, als wäre er eine Katze.
»Was genau?« Sie klemmte sich den Hörer zwischen Nacken und Ohr, um eine halbwegs bequeme Position einzunehmen, was Zeus überhaupt nicht gefiel. Dabei waren sie nach wie vor ganz alleine im Abteil, ihr Hund hatte also freie Sitzwahl. Aber nein, er musste es sich ausgerechnet auf ihr gemütlich machen.
»Na, eben alles.« Renate schnaufte angestrengt in den Hörer. »Dass du alles aufgibst, was du dir aufgebaut hast.«
Ina zuckte unbekümmert mit den Schultern, sagte aber nichts dazu.
»Und nun geht alles weg.«
»Unsinn. Nur ich bin weggegangen.« Sie lachte befreit vor sich hin. »Das Bücherwürmchen wird ebenso bleiben wie deine Nachbarwohnung. Bloß eben mit neuen Besitzern.«
»Trotzdem«, sagte Renate und klang sogar trotzig. »Wenn eine Kette den Laden betreibt, ist es nicht mehr dasselbe.«
»Du liest doch gar nicht.«
»Aber ich könnte.« Ein wüstes Schnauben drang durchs Telefon. Vor ihrem geistigen Auge sah Ina, wie sich Renates Nasenlöcher blähten. »Doch jetzt nicht mehr. Mein Geld bekommen die großen Ketten nicht.«
Ina unterdrückte ein Keuchen, denn sie hatte das Geld ihrer Nachbarin auch nicht bekommen.
Dennoch. Das Gesagte beschäftigte Ina tatsächlich. Bereute sie nicht doch ein klitzekleines bisschen den Entschluss, ihren Buchladen an einen der Großen verkauft zu haben? Wobei er so klein gar nicht war. Immerhin hatte das Bücherwürmchen eine Verkaufsfläche von einhundertvierzig Quadratmetern. Eine Fläche, die früher einmal ihre ganze Welt bedeutet hatte. Aber das hatte ihr Exmann auch getan - und den auf den Mond geschossen zu haben hatte sie noch nie bereut. Nicht eine einzige Sekunde. Ohne Unglück gibt es kein Glück - das hatte ihre Mutter ihr schon beigebracht.
»Ohne dich wird es nicht mehr dasselbe sein«, bemerkte Renate.
Ina sah das Telefon schweigend an. Sie empfand nicht so. Schließlich nahm sie sich selbst in ihr neues Leben mit. Und Zeus!
»Und überhaupt . bist du nicht zu alt für einen Neuanfang?«
Diese Frage traf Ina. Nicht, weil Renate schon wieder die Alterskarte ausspielte. Nein, vielmehr weil das genau die Frage war, die sie sich selbst so oft in den letzten Wochen gestellt hatte. War sie zu alt für einen Neubeginn?
»Und das bloß wegen einer SMS«, stichelte Renate weiter.
Ina seufzte leise. Sie hätte ihr nie davon erzählen dürfen.
»Ich meine, du bist doch kein Teenager mehr. Wegen einiger verliebter Textnachrichten alles stehen und liegen zu lassen.«
Nun schnappte Ina nach Luft, entschieden und empört zugleich. Schließlich war sie keine der Frührentnerinnen, die ihr Leben aufgaben, um in Jamaika mit einem mindestens dreißig Jahre jüngeren Mann durchzubrennen, der ihnen in den sozialen Netzwerken das Blaue vom Himmel versprochen hatte. Nein, ihre Liebesgeschichte hatte Hand und Fuß und führte sie nicht auf eine karibische Insel, sondern nach Småland. Bodenständiger ging es ja wohl kaum.
Von wegen zu alt!
Und schon gar nicht...
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