Schweitzer Fachinformationen
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Ihre Tage beginnen meistens am Küchenfenster mit Blick auf einen wild bewachsenen Güterbahnhof. Sie stand schon immer gerne am Fenster. Es gibt ihr das Gefühl, dass etwas noch nicht zu Ende erzählt ist, dass, solange man nach draußen schaut, immer noch etwas passieren kann, was die Geschichte vielleicht in eine andere, glückliche Richtung wenden könnte, bevor sie zu Ende geht. Sie stand schon an einigen Fenstern wie diesem, wartend darauf, dass die Geschichte weitergeht - aber sie ging nicht weiter. Nur Dada musste weiter, wechselt von Fenster zu Fenster.
Sie mag den Anblick der toten S-Bahn-Schienen, sie braucht diese Momente der Ruhe, des Stillstands. Es ist schwer, in der heutigen Welt ein Fenster zu finden, das auf einen Stillstand schaut, auf eine Unordnung. Berlin ist Bewegung, Hektik, Lärm, Zahlen, Straßenbahnlinien . Berlin ist aber oft ein Trost für Dada, weil diese Stadt nichts gemeinsam hat mit Sarajevo, außer manche Teile im Osten, aber in den Osten geht sie nie.
Die Sonne ist heute Morgen spät dran. Dada hat mal gelesen, dass die Sonne im Glauben der Azteken im Osten auf- und im Westen untergeht und nachts durch das Reich der Toten wandert, um morgens wieder im Osten aufzugehen. So haben sie die wichtigste Lebensquelle, die Sonne, weiter mit ihren Toten geteilt. Oft befragten sie die Sonne bei Aufgang, wie es ihren Liebsten im Totenreich ginge. Dada würde das auch gerne machen. Aber die Sonne, die heute Morgen über Berlin aufgegangen ist, wirkt so wie die meisten Berliner, als würde sie nicht angesprochen werden wollen. Grell, schüchtern, etwas angepisst (weil die Toten die ganze Nacht gemeckert haben und sie sich deshalb verspätet hat), wirft sie unfreiwillig ein silbriges, sirrendes Licht auf die jungen grünen Blätter der Birkenbäume, die sich wild zwischen den modernden Gleisen ausgebreitet haben.
Unter einem dieser schlanken, märchenhaften Bäume sitzt ein Fuchs und leckt seine nassen Pfoten. Vorsichtig macht er sich auf den Weg, immer auf den Gleisen, leicht hüpfend, als würde er die Jogger nachmachen, die jeden Morgen hektisch, jeder für sich, hier ihre Runden drehen. Die machen Dada nervös. Sie sehen so aus, als würden sie einen unsichtbaren Feind vor sich herjagen. Kurz vor der Erschöpfung, vorm Aufgeben, bleiben sie manchmal stehen und schauen schwer atmend vor sich, fixieren ihre unsichtbare Beute und zwingen sich, weiterzurennen. Manche rutschen auf den nassen Schienen aus und stürzen brutal zu Boden, fast pathetisch stehen sie wieder auf und setzen ihren heroischen Kampf gegen sich selbst fort. Nirgendwo gibt es so viele mit sich kämpfende Menschen wie hier, denkt Dada, als gäbe es nichts Wichtigeres, als erst mal gegen sich selbst zu siegen.
Gestern Nacht hat es geregnet. Sie holt ihr Handy aus der Bademanteltasche und schaut auf die Wetter-App: starker Regen in Sarajevo. Nirgendwo sonst fällt Regen so plötzlich, so heftig wie in Sarajevo, als wüsste er, dass es dort besonders viel gibt, was er wegspülen muss. Er kommt plötzlich, fast immer grollend, von hinter den Bergen, immer in Eile, schnell weiterziehend.
In ihrer ersten Kindheitserinnerung regnet es auch. Sie ist noch klein, sie läuft alleine über eine riesige Hängebrücke, die Holzbretter sind nass, glitschig und marode. Plötzlich gibt ein Brett unter ihren Füßen nach, sie bricht mit den Beinen ein, unter sich sieht sie den schwarzen, vom Regen geschwollenen Fluss. Das dunkle Wasser brummt unter ihren Füßen, ein kalter Atem steigt vom Fluss auf und zieht sie wie ein Magnet nach unten. Den Fluss nannte Dadas Großmutter Nana Luna immer »Ljuta Cura«, wütendes Mädchen, und sie behauptete, es könne die Menschen zu sich rufen, wenn es Hunger habe. Das wütende Mädchen ruft also mit einer verzerrten, eisigen Stimme Dadas Namen. Dada will um Hilfe schreien, aber aus ihrem Hals kommt nur so etwas wie lautes Kichern. Sie versucht, sich wieder rauszuziehen, noch ein weiteres Holzbrett bricht und schlägt ihr ins Gesicht. Alles wird schwarz, das Brummen des Flusses umschlingt ihren Körper, sie schwebt, der Himmel über ihr kommt näher.
Als sie aufwacht, scheint alles noch größer zu sein, die Brücke, der Fluss, die Bäume am Ufer. Ljuta Cura schreit jetzt zornig und beleidigt: »Komm zurück, komm zurück .!«
Dada sieht Dijanas Gesicht, ihre großen blauen Augen, sie lächeln sie an. Es ist das Gesicht ihrer Schwester, ihrer großen Schwester Dijana, sie hat sie gerettet, sie gepackt und gerettet, sie über ihre Schultern geworfen und davongetragen.
»Ljuta Cura wollte mich auffressen, sie hat Hunger!«, stammelt Dada, und Dijana lacht frech: »Kein Problem, komm, wir füttern sie!«
Dada schaut zu, wie ihre Schwester sich dem tobenden Fluss nähert und ihn mit großen Steinen bewirft: »Hier, friss du dummes Ding, friss die Steine, mein Schwesterchen kriegst du niemals!«
Dijanas Stimme übertönt den Fluss, sie dreht sich zu Dada um und streckt ihr einen Stein zum Werfen entgegen, Dada greift gierig danach und wirft ihn wie Dijana laut schreiend in den Fluss. Erst jetzt spürt sie, wie die feuchte vom Fluss kommende Luft wieder in ihre Lunge steigt, es fühlt sich so an, als würde sie das wütende Mädchen einatmen oder als würde ein Teil von ihm vor Dada und Dijana kapitulieren. Sie fühlt sich stark, unbesiegbar.
Wenn Dijana jemanden liebte, gab sie ihm das Gefühl, genauso viel wert zu sein, genauso stark zu sein wie sie selbst. Lange brachte Dada damit zu, Dijana zu umkreisen, sich an ihr zu orientieren, bis Mirza kam, der ihr das Gefühl gab, dass sie ganz allein jemand war.
Isolde steht plötzlich neben ihr, reißt sie aus ihren Gedanken, schaut ebenfalls auf die verlassenen Gleise. Sie flüstert verängstigt: »Die rennen wieder .«
»Ja«, antwortet Dada, »es sind Jogger, und schau, da ist auch ein Fuchs.«
»Nein«, flüstert Isolde wieder, als ginge es hier um ein großes Geheimnis. »Nein, nicht die, ich meine die Kinder . siehst du, die anderen kommen ihnen immer näher. Wenn sie nur ihre Waffen weggeworfen hätten . Wo ist meine Schwester?«
»Komm, wollen wir nicht erst frühstücken?«, schlägt Dada behutsam vor.
»Wo ist Minna?«, fragt Isolde. »Ich mache mir Sorgen, sie ist schon seit Stunden nicht mehr da .«
»Aber du weißt doch, wo sie ist«, sagt Dada mit verspieltem Tonfall in der Stimme. »Komm, wir schauen nach.« Sie nimmt Isolde fest an die Hand und setzt sie wieder in ihren Sessel, in dem sie gestern im Sitzen geschlafen hat, vollständig angezogen, mit den Schuhen auf dem Schoß. Es gibt Nächte, in denen sie auf den Fliegeralarm wartet und vorbereitet sein will, für den Fall, dass sie in den Schutzkeller muss. Dada weiß schon längst, dass es keinen Sinn mehr ergibt, Isolde zu erklären, dass sie kein kleines Mädchen mehr ist und dass kein Krieg mehr herrscht. Sie macht den Fernseher an, im ZDF laufen Nachrichten. Dadas Körper schaudert leicht bei dem Anblick erschöpfter ukrainischer Frauen und Kinder, die zu Tausenden in diesen Tagen in Berlin stranden. Die Gesichter der Flüchtenden sind ihr sehr vertraut. Die Gesichter von Kriegsflüchtlingen ähneln sich. Es ist der plötzliche, brutale Verlust, der sie vereint. Jeder, gleich ob Kind, Frau oder Greis, hat gerade etwas oder jemanden verloren. Die Leere, die dieser Verlust hinterlassen hat, spannt sich wie ein graues, trauriges Spinnennetz über ihre Gesichter. Die Art, wie sie sich bewegen, reden, stehen, weinen, sich ungläubig umschauen, als würden sie sich die ganze Zeit fragen, »Wie bin ich plötzlich hierhergekommen? Was mache ich hier überhaupt?«, kennt sie auch. Verlorenheit in den Gesichtern wechselt sich ab mit der Freude, dass man sich gerettet hat, dann wieder mit der Angst um die, die bleiben mussten, dann die Furcht vor dem, was kommt.
Isolde schaut unsicher mit starrem Blick auf die Gesichter der Verlorenen: »Sind die auch vor den Russen geflohen? Vielleicht ist Minna bei ihnen?«
Dada schaltet schnell zur Mediathek um, sucht ein Konzert von Helene Fischer, drückt auf Play.
»Ah, da bist du, du Freche!«, lacht Isolde entzückt. Helenes Ähnlichkeit mit Minna hat Dada schon so oft gerettet. Auf Isolde wirkt sie wie eine Droge. Es ist fast zwei Jahre her, seit Isolde angefangen hat, immer mehr das Jetzt zu vergessen. Sie weiß noch, wer Dada ist, aber immer öfter vermischen sich das Damals und das Heute. Manchmal ist Dada ihre Mutter, dann ihre Schulfreundin, ihre Kinderärztin oder die Nachbarin Lilly, die eines Abends im Frühling 1945 vor ihren Augen brennend durch die Straße rannte, fiel und dann verglühte . Aber Helene ist immer ihre Schwester Minna. Während Isolde überglücklich der Minna-Helene beim Hüpfen und Singen zusieht, hat Dada Zeit, ihr Frühstück zu machen.
Vom ersten Moment an hat sie Isolde gemocht, ihr schüchternes Lächeln, ihre Art, wie sie sie damals, vor dreißig Jahren, in die Arme genommen hat. Isolde wusste aus irgendeinem Grund alles über Dada, bevor sie ihr etwas erzählen konnte. Sie stand eines Morgens vor Dadas Bett in der Flüchtlingsunterkunft, trug ein hellgrünes Kleid und einen rosa Pullover mit Erdbeeren drauf. Sie war gekommen, um einen minderjährigen Geflüchteten aufzunehmen, der sich weigerte, zu essen und zu reden, und den keiner wollte. Sie stand einfach da und wartete. Etwas verunsichert von ihrem eindringlichen Blick setzte Dada sich irgendwann auf und zählte verlegen die Erdbeeren auf Isoldes Pullover. Als sie bei elf war, zog Isolde den Pullover aus und legte ihn über Dadas nackte...
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