Schweitzer Fachinformationen
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Iris sah auf die Uhr und warf Handy, Schlüssel und Tuch in ihre Tasche. Kurz vor fünf.
Mist, dachte sie. Das wird knapp.
Es war Freitag, und Iris hatte mit Livia vereinbart, sie an diesem Tag zu ihrem Leichtathletikcamp zu fahren. Es war einer jener unzähligen Workshops und Trainings, die Livia nicht nur auf die nationalen Olympiawettkämpfe, sondern vor allem auf die angepeilte Nominierung für eine der nächsten Meisterschaften vorbereiten sollte. Livia war im Kader, seit sie acht war.
Iris hatte nie ganz verstanden, woher Livia diesen Ehrgeiz nahm; warum ihre Tochter vor zwei Jahren, mit vierzehn, schon mehr über Low Carb und eiweißhaltige Ernährung gewusst hatte als Iris mit ihren damals fünfundvierzig. Livia hatte sich nie für Monsterhai-Puppen oder Zeichentrickfilme interessiert, sondern stattdessen Dokumentarserien über die jüngsten Olympioniken und die außergewöhnlichsten Sportler verschlungen. Sie hatte sich mit so viel Disziplin und Unterwerfung unter das Joch des Leistungssports gestellt, dass Iris sie manchmal am liebsten geschüttelt hätte.
Sie tröstete sich damit, dass ihre Tochter dadurch wenigstens nichts mit Alkohol und Drogen zu tun hatte und auch den Lockungen des Handy- und Internetmissbrauchs weitgehend widerstand. Und dennoch war Iris mit dieser Entwicklung nicht ganz glücklich.
Verglichen mit anderen Sechzehnjährigen hatte Livia wenige Freunde, verabredete sich selten. Sie gehörte zu keiner Mädchengang, die kichernd tuschelte, wenn die Gruppe der coolen Jungs auf dem Schulhof ihre Runde machte. Sie hielt sich eher abseits, war schlank, muskulös, bildhübsch und entschlossen, ihr Ziel zu erreichen.
Iris nahm das zur Kenntnis und unterstützte sie letztlich in dem, was sie tat. Insgeheim aber fragte sie sich, ob es nicht dazugehörte, ab und zu mal etwas außer Rand und Band zu geraten, sich etwas zu trauen, die Regeln zu brechen? Livia war doch ein Teenager, Herrgott noch mal.
Vor knapp einem Jahr hatte Iris das Thema einmal angesprochen. Es war ein milder, sonniger Tag im Mai gewesen. »Schatz, warum verabredest du dich nicht mal mit Bea oder Sofie? Vielleicht fahrt ihr am Wochenende mal mit dem Rad an die Ostsee? Oder ihr macht hier eine Übernachtungsparty. Einfach mal etwas Spaß haben.«
Livia hatte nur die Augen verdreht. »Spaß haben, meinst du? Na, darin bist du ja die Expertin. Wann hattest du denn zum letzten Mal Spaß?«
Iris war so perplex über diesen unvermuteten Ausbruch, dass sie nichts hatte erwidern können. Aber Livia war noch nicht fertig.
»Wie lange hast du Katja jetzt nicht getroffen? Sechs Wochen? Sieben? Und solange ich mich erinnern kann, gab es hier auch niemals Herrenbesuch. Der einzige Mann, von dem ich ständig höre, ist dieser bescheuerte Dr. Härtling. Du gehst nie tanzen. Du malst dir nie an einem Freitagabend vergnügt die Lippen an, weil du dich auf eine Verabredung freust. Stattdessen fährst du tagein, tagaus gehetzt zur Arbeit und kommst abends müde zurück.«
Livia machte einen Schritt auf ihre Mutter zu und legte vorsichtig die Hand auf Iris' Schulter. »Welchen Spaß, meinst du also, soll ich haben?«
Damit drehte sie sich um und ging in ihr Zimmer.
Iris hatte noch eine Weile wie erstarrt im Flur gestanden. Sie rieb sich die Stelle, auf der Livias Hand gelegen hatte. Einen Ausbruch wie diesen hatte es vorher noch nie gegeben. Sie versuchte doch alles, um ihre Tochter glücklich zu machen! Aber das schien nicht anzukommen. Stattdessen wurde ihr eigenes Leben hinterfragt.
Nicht ohne schlechtes Gewissen erkannte Iris die Spur von Wahrheit darin.
Das Camp an jenem Freitag fand bei einem Sportverein im Hamburger Norden statt, in Duvenstedt, zu dem man mit den Öffentlichen von Winterhude aus locker eineinhalb Stunden unterwegs wäre.
Deshalb hatte Iris versprochen, an diesem Tag pünktlich Feierabend zu machen und Livia mit ihrem alten rostlaubigen Citroën dorthin zu fahren. Das Auto war so ziemlich zur selben Zeit in ihr Leben getreten wie ihre Tochter. Es war ein auf Pump gekauftes »Geschenk« von Heiko, Livias Vater, sechs Wochen vor dem Geburtstermin: »Falls ich grad nicht da sein sollte, wenn es losgeht.«
Er war natürlich nicht da gewesen, als es losging, sondern unterwegs in einer der unzähligen Kneipen, in denen er sich nachts gern herumtrieb. Dass Livia in den Wehen trotzdem mit dem Taxi ins Krankenhaus gefahren war, hatte Heiko später nicht verstanden. »Wozu hab ich die Karre denn besorgt?«
Die Karre, die Iris dann fünf Jahre lang abbezahlt hatte.
Und mit der sollte sie nun um Viertel nach fünf beim Bäcker am Mühlenkamp warten. So lautete die Verabredung.
Iris trat auf den Flur und spähte vorsichtig nach rechts. Aufatmen! Die Tür zum Konferenzraum war immer noch geschlossen. Sie hatte vor der Mittagspause alle Zahlen präsentiert und erläutert. Es war nicht mehr an ihr, das Budget zu einer Strategie für die nächsten zwölf Monate auszubauen. Sie hatte alles Material geliefert. Sie konnte gehen und den Überbau anderen überlassen. Ihrem Chef, der mehr davon verstehen sollte als sie. Dafür wurde er schließlich bezahlt.
Sie wurde dafür bezahlt, dass das Fundament aus Zahlen vernünftig trug.
Schwungvoll warf sie sich ihre neue Nietentasche über die Schulter und schritt, ergriffen von einer ungeduldigen Vorfreude, den Flur von Orion Media Pub hinab. Sie freute sich auf ihre Tochter. Und sie freute sich auf die ersten Ergebnisse ihrer Crowdfunding-Aktion. Sie hatte sie zusammen mit Vivien, ihrer Lieblingskollegin und Pressechefin, mehr oder weniger hinter Härtlings Rücken aus der Taufe gehoben. Die beiden hatten sich mal in der Mittagspause darüber unterhalten, wie viel Geld man mit dieser Art von »Spendenaktion« machen konnte, ohne dass sich ihre größten Kunden, Banken, Versicherer, Reiseunternehmen, konkret als Schirmherr oder dergleichen nach vorne wagen mussten. Das Risiko war klein, und der Effekt konnte, wenn alles gut lief, beträchtlich sein. Wenn nicht, würde man einfach nicht drüber sprechen. So kam Iris auf die Idee mit Girls in Distress.
Und am Montag würden die ersten Zahlen online einsehbar sein.
Iris schnipste mit den Fingern und stieß ein leises »Yeah!« aus. Livia, meine Langstreckenläuferin, dachte sie lächelnd. Ich fahr dich überall hin.
Livia zog sich die Kapuze ihrer Adidas-Allwetterjacke tiefer ins Gesicht und zurrte das Band etwas fester, damit die Kopfhörer nicht nass wurden. Ein paar Minuten würde sie noch herumstehen müssen. So wie ihre Mutter eine notorische Zuspätkommerin war, neigte Livia dazu, immer ein paar Minuten zu früh an den vereinbarten Treffpunkten zu sein. Sie zog die Arme in der schützenden Jacke enger an ihren Körper. Der Regen kam in feinsten Tropfen wirklich von allen Seiten und legte sich auf die Klamotten wie eine zweite Haut. Livia machte das nichts. Wäre sie besonders wetterfühlig, wäre sie keine passionierte Leichtathletin. Sie fühlte sich draußen in der Natur sicherer als in den engen Grenzen von Häusern oder Turnhallen. Es kam ihr ehrlicher vor. Nicht so benutzt von den Menschen. So hatten ihr auch weder die trockene Hitze in Agadir noch die zweistelligen Minusgrade in Norwegen etwas anhaben können. Im Gegenteil. Je extremer die Bedingungen in den Camps waren, die sie schon besucht hatte, desto besser hatte Livia sich gefühlt. Und desto erfolgreicher war sie gewesen. Zwar war sie sonst ein gemäßigter, eher ruhiger Typ, doch man konnte Livia durchaus als extrem bezeichnen, wenn es um das Thema Sport ging. Vielleicht bedingte das eine ja das andere, denn so etwas wie ein gesundes Mittelmaß fehlte ihr.
Die Playlist auf ihrem iPhone sprang zum nächsten Lied. Queen. We Are the Champions. Livia mochte diese rockigen Motivationssongs. Sie halfen ihr, sich zu fokussieren, eine Körperspannung zu entwickeln, die sie in den nächsten Tagen brauchen würde.
Livia freute sich auf den Workshop. Endlich würde Bea auch wieder mal dabei sein. Bea war vermutlich das, was einer besten Freundin am nächsten kam. Sie war auch noch im Kader, so wie Livia, sprach aber immer häufiger davon, den Leistungssport an den Nagel zu hängen. Er fraß einfach enorm viel Zeit, und nicht nur Freundschaften litten darunter, sondern irgendwann auch die Schule. Sowohl Livia als auch Bea gingen beide aufs Gymnasium, allerdings nicht auf dasselbe. Bea war auf einem künstlerisch-musischen, und der Druck dort schien Livia ungleich höher, wenn man Bea so reden hörte. Die zehnte Klasse hatte es ohnehin in sich. Da wurde das Tempo noch mal angezogen. Und die verkürzte Schulzeit bis zum Abitur, die 2010 auch in Hamburg eingeführt worden war, machte es nicht leichter. Livia hatte das bislang noch halbwegs auspendeln können. Sie lavierte sich mit Dreien und ein paar Zweien durch die Mittelstufe. Und einer Eins natürlich, der in Sport.
Livia hatte allerdings auch den Verdacht, dass die Schule nicht der einzige Grund für Beas Überlegungen war. Im Gegensatz zu ihr war Bea deutlich anders gebaut: Sie war kleiner und insgesamt kompakter als Livia. Das half ihr bei den Ausdauerdisziplinen, und vor allem auf den zehntausend Metern war Bea kaum zu schlagen. Aber die Pubertät hatte ihren Körper noch mal verändert. An allen Stellen, an denen eine Frau rund werden konnte, wurde Bea es auch. Am Po, am Busen, selbst im Gesicht. Livia vermutete sogar manchmal eine heimliche Essstörung, denn dafür, dass sie Bea so gut wie nie essen sah, nahm sie erstaunlich zu.
Aber an diesem Workshop würde sie teilnehmen, und heute Abend würde man das Programm mit einem Sieben-Kilometer-Orientierungslauf durch den Duvenstedter Brook eröffnen....
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