Schweitzer Fachinformationen
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April 1979
Genervt schloss Juli Sommer die Tür vom Blumenladen Fleurs du Bien hinter sich ab. Hannes hatte ihr versprochen, pünktlich zurück zu sein. Er wusste schließlich, dass sie mit Caro auf das Konzert im Legend17 wollte. Sein Treffen mit der Stadtteilgruppe der Autonomen hatte um vier begonnen, und Juli vermutete stark, dass er über den hitzigen Diskussionen zu der Mahnwache am Sonntag einfach die Zeit vergessen hatte. Es ging um die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben. Hannes war schon im März bei dem Protestmarsch in Hannover dabei gewesen, und die Chancen standen gut, dass die Regierung die Pläne zu der Atomanlage im Wendland noch kippte.
Juli zog den Fellkragen ihres gefütterten Zottelmantels enger um sich. Es war wirklich erstaunlich kalt für Ende April. Beinahe roch es nach Schnee.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Hannes, dieser unverbesserliche Pazifist. Blumen statt Böller. Das hatte er tatsächlich ernst gemeint, als er vor vier Jahren seinen Laden hier im lebendigen Hamburger Stadtteil Eimsbüttel eröffnet hatte. Juli war als frischgebackene Floristin zu dem Zeitpunkt gerade auf Jobsuche gewesen und hatte den Aushang im Schaufenster gesehen. Und weil die beiden sich auf Anhieb gut verstanden, hatte sie mitgeholfen, das Geschäft aufzubauen. Heute konnte man darüber streiten, wer im Hause Fleurs du Bien eigentlich das Sagen hatte. Kundinnen und inzwischen auch Freundinnen wie Antonella, Maren oder natürlich Caro fanden, dass Juli längst das Regiment übernommen hatte. Ihrer Meinung nach schlug in jedem kunstvoll präsentierten Arrangement Julis Herz, und in jeder Vase, in jeder mit Moos und Korkenzieherhaselzweigen dekorierten Ausstellungsfläche komme Julis warmherzige und leidenschaftliche Seele zum Ausdruck. Juli lachte solche Schmeicheleien einfach weg, aber auch wenn Hannes vielleicht nur noch auf dem Papier ihr Chef war, so war er doch sicher ihr engster Vertrauter und fast so etwas wie ein väterlicher Freund. Da waren sich alle dann wieder einig. Allen voran Juli, die ihren Vater aufgrund der Folgen einer Kriegsverletzung früh verloren hatte. Und immerhin war Hannes elf Jahre älter als sie. Mit zweiundzwanzig machte das schon etwas aus.
Juli ging zu ihrem Fahrrad und ruckelte an dem Zahlenschloss. Wenn das nicht bald einen Tropfen Öl bekam, würde sie es irgendwann nicht mehr aufkriegen, sagte sie sich zum gefühlt hundertsten Mal. Sie spürte, wie ihr eine zarte Schneeflocke auf der Nase schmolz, und blinzelte in den grauen Hamburger Himmel. Das gibt's doch nicht, dachte sie. Jetzt schneit es wirklich! Sie überlegte kurz, das Rad stehen zu lassen, entschied sich aber dagegen. Die Straßen waren ja trocken, und sie hatte es nicht weit.
Sie verstand Hannes' Engagement und teilte es in Ansätzen sogar, ging es ihr durch den Kopf, während sie langsam über das Kopfsteinpflaster den Eppendorfer Weg entlangholperte. Als typisches Nachkriegskind hatte er den Wiederaufbau Deutschlands und die fehlgeleiteten Triebe, die im Sommer '67 im Tod des Studenten Benno Ohnesorg einen ersten traurigen Höhepunkt fanden und Bewegungen wie die RAF und die ganze schreckliche Militarisierung überhaupt erst ermöglichten, hautnah und ganz anders miterlebt als sie. Sie fand es gut, wie sehr er sich für die Demokratisierung der Bundesrepublik einsetzte. Ganz ungünstig war es nur, wenn sein Einsatz heute auf ihre Kosten ging, da sie verabredet war und er versprochen hatte, zum Ladenschluss zurück zu sein und das Aufräumen und die Kassenabrechnung zu übernehmen. Und ihre Schicht am Samstag natürlich.
Caro konnte sie nun auch nicht mehr erreichen. Eigentlich waren sie genau jetzt am Legend17 verabredet. Caro hatte am Nachmittag zum Friseur gewollt, um sich diesmal den Traum von einem roten Minipli-Lockenkopf zu erfüllen. Aber Caro wollte sich, was ihren Körper betraf, ständig irgendeinen Traum erfüllen. Seit sie sich kannten, und das reichte jetzt auch schon bis in die Realschulzeit zurück, wollte Caro anders sein, als sie war.
Juli verstand das nicht, denn für sie war Caro perfekt: Sie war groß, dünn, ja fast schon dürr, hatte blonde, glatte Haare, die zwar vielleicht keine Löwenmähne hergaben, aber doch kräftig genug waren, um nicht wie Strippen an ihrem Gesicht runterzuhängen. Sie dagegen, Juli, war mehr der Sophia-Loren-Typ: schwingende Hüfte, pralle Brüste, schmale Taille, dunkle Locken. Caro ging eher in Richtung Twiggy. Und genau das störte sie, sodass sie nun auch noch zweimal die Woche in eins dieser Bodybuilding-Studios ging und dort knapp vierzig Mark im Monat ließ, um ihren grazilen, schmalen Körper in ein sehniges Drahtgestell zu verwandeln. Zum Glück war Caros Wunsch meist größer als ihr Wille, sodass Juli hoffte, ihre Freundin würde bald die Lust an diesen Geräten verlieren und ihre biegsame Gestalt bewahren.
Aber so war sie nun mal, ihre Caro. Und Juli machte sich jetzt schon darauf gefasst, die Freundin trösten zu müssen, weil die Frisur natürlich ganz anders aussah als bei den Frauen auf den Zeitschriftenausschnitten, die Caro sicher beim Friseur dabeigehabt hatte.
Blieb die Frage, wie sie nun mit dem Konzert umging. Sie war sich nicht sicher, ob Caro allein und womöglich vollkommen unglücklich wegen ihrer Frisur überhaupt noch in den Musikklub gehen und auf sie warten würde.
Einlass war ab neunzehn Uhr, aber die Bar-Kays, eine amerikanische Funkrock-Band, die hierzulande noch nicht so bekannt war - was Juli erstaunte, denn sie selbst fand die Gruppe mit diesem leicht souligen, melancholischen Einschlag geradezu anbetungswürdig -, würde vor einundzwanzig Uhr sicher nicht zu spielen anfangen. Und die Vorgruppe kannte sie nicht.
Seufzend machte sie ihr Fahrrad an einer Straßenlaterne fest. Es hatte ganz leicht angefangen zu schneien, aber davon würde nichts liegen bleiben. Sie wollte jetzt schnell noch etwas essen, sich dann umziehen, schminken und dann nichts wie wieder los. Vielleicht hatte sie ja Glück und traf auf ihre Freundin. Ansonsten wäre sie eben allein auf dem Konzert. Immer noch besser, als am Freitagabend auf der Couch zu sitzen. Viel besser.
Eine halbe Stunde und zwei Scheiben Schwarzbrot mit Bierschinken später sah Juli zufrieden in den Spiegel. Sie hatte sich für schwarz-weiß karierte Hotpants und ein fließendes Satintop mit weiten Ärmeln und U-Boot-Ausschnitt entschieden, weil das so schön ihre ausgeprägten Schlüsselbeine zur Geltung brachte. Dazu schwarze Strumpfhosen und ihre weißen Lackstiefel.
Die Haare hatte sie oben etwas hochtoupiert und die Ponysträhnen wie ein Stirnband eng um den Kopf nach hinten geschlungen. Der Rest fiel in großen Wellen über ihre Schulter. Lidstrich, Mascara und knallroter Lippenstift - fertig ist die Laube, befand Juli. Weil sie im Laden meistens nur Jeans und Strickpulli trug und nur im Hochsommer mal ein schlichtes Kleid, genoss sie es, sich ab und an zurechtzumachen. »Juli, mein Schatz, du siehst astrein aus«, sagte sie gut gelaunt zu ihrem Spiegelbild und entdeckte dabei noch etwas roten Lippenstift auf ihrem Zahn, den sie rasch mit der Zunge ableckte. »Jetzt aber los.«
Durch den frühen Tod des Vaters und die zehrende Mühsal, die es der Mutter abverlangt hatte, den kleinen Eisenwarenladen im Norden Hamburgs am Laufen zu halten, hatte Juli in jungen Jahren durchaus die Härte des Lebens kennengelernt, doch ihrem zuversichtlichen und zutiefst fröhlichen Naturell hatte all das nichts anhaben können. Sicherlich hatte es aber ihre Sensibilität geschliffen und ihre Dankbarkeit für die schönen Dinge geschärft, und vielleicht hatte Juli aus diesem Grund auch irgendwann mit dem Aquarellmalen begonnen. Sie liebte die Harmonie und die Weichheit der Farben. Das Malen schenkte ihr Zuversicht.
Sogleich musste sie an Caro denken, und ihre Miene verdunkelte sich sorgenvoll. Juli fragte sich so manches Mal, ob ihre Freundin die helle Seite überhaupt kannte, nicht zuletzt, weil sie sich immer noch die Schuld am Unfalltod ihres jüngeren Bruders vor sechs Jahren gab. Caro war damals vierzehn Jahre alt gewesen, Tim acht. Caros Eltern, die van Meeschs, gehörten zur Hamburger Hochfinanz und waren mal wieder zu einem dieser Bankette eingeladen gewesen. Und natürlich hielt man die ältere Schwester für groß genug, um auf den kleinen Bruder aufzupassen. Es gehörte sich ja auch so. Die van Meeschs besaßen auch einen Hund, einen braun-weiß gescheckten Collie namens Fanny. Nachdem ihr Bruder eingeschlafen war, schlich Caro auf leisen Sohlen hinunter ins Erdgeschoss, gab Fanny das Zeichen zum Spazierengehen und verließ das Haus.
Wie hätte sie ahnen können, dass Tim ausgerechnet an diesem Abend schlecht träumen und seine Schwester panisch im ganzen Haus suchen und nicht finden würde?
Dass er dann barfuß und im Pyjama mutig das Haus verlassen und aus dem Park in einiger Entfernung ihren Hund bellen hören würde?
Dass er vermutlich erleichtert und sorgenvoll gleichermaßen losrennen und ausgerechnet in diesem Moment ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit die ansonsten ruhige Wohnstraße entlangrasen würde?
Tim war auf der Stelle tot.
Caro hatte das nie richtig verwunden und war seitdem erst richtig kapriziös geworden. Aber speziell Caros Vater hatte ihr auch nie Grund gegeben, sich nicht schuldig zu fühlen.
Juli schüttelte den Kopf. Jeder, dachte sie, bekam einfach sein Päckchen mit auf den Weg. Bei manchen war es mit Schleifchen und Bändern bunt verpackt. Bei anderen kam es ohne Verpackung und schon...
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