Schweitzer Fachinformationen
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1968
An dem Vormittag, als einer der verlorenen Zwillinge nach Mallard zurückkehrte, kam Lou Lebon mit der Nachricht ins Diner gelaufen, und selbst heute noch, viele Jahre später, können sich alle an den Schock erinnern, als der schweißnasse Lou sich durch die Glastüren drängte, schwer atmend, um den Hals herum dunkel angelaufen vor lauter Anstrengung. Die Gäste, die noch nicht ganz wach gewesen waren, zeterten um ihn herum, es waren an die zehn, obwohl später viele lügen und behaupten würden, sie wären auch dabei gewesen, um so zu tun, als hätten sie ein Mal etwas wirklich Aufregendes erlebt. In dieser kleinen Ackerbürgerstadt geschah nie etwas Überraschendes, nicht seit die Vignes-Zwillinge zehn Jahre zuvor verschwunden waren. Aber an jenem Vormittag im April 1968 entdeckte Lou auf dem Weg zur Arbeit Desiree Vignes, wie sie die Partridge Road herunterspazierte, einen kleinen Lederkoffer in der Hand. Sie sah noch genauso aus wie damals, als sie mit sechzehn verschwunden war - der Teint noch immer hell, von der Farbe angefeuchteten Sandes. Ihre schmale Gestalt erinnerte ihn an einen vom Wind durchgeschüttelten Ast. Sie hatte es eilig, ging mit gesenktem Kopf, und - hier legte Lou geschickt eine Kunstpause ein - an der Hand hielt sie ein kleines Mädchen, das acht Jahre alt sein mochte. Es war rabenschwarz.
«Blauschwarz», sagte er. «Wie frisch aus Afrika eingeflogen.»
In Lou's Egg House hoben ein Dutzend Gespräche gleichzeitig an. Der Koch bezweifelte, dass es wirklich Desiree gewesen war, schließlich wurde Lou im Mai sechzig und war noch immer zu eitel, seine Brille zu tragen. Die Kellnerin war überzeugt, dass sie es doch war - die Vignes-Schwestern konnte man selbst als Blinder sehen und auch, dass es nicht die andere von beiden gewesen war. Den Gästen, die Spiegelei und Grütze auf dem Tresen stehen ließen, war dieses Vignes-Theater egal - aber wo kam denn bitte das dunkelhäutige kleine Mädchen her? War das am Ende Desirees?
«Wessen Kind soll es denn sonst sein?», sagte Lou. Er schnappte sich eine Handvoll Papierservietten und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
«Ein Waisenkind vielleicht, zur Pflege.»
«Ich kann mir nicht vorstellen, dass aus Desiree etwas so Schwarzes rauskommt.»
«Glaubst du, Desiree schafft sich Pflegekinder an?»
Natürlich nicht. Desiree war ein selbstsüchtiges Mädchen. Wenn sie überhaupt noch etwas von ihr wussten, dann das, und an viel mehr erinnerten die meisten sich nicht. Die Zwillinge waren jetzt Jahre fort, fast genauso lange, wie man sie überhaupt gekannt hatte. Nach dem Stadtgründerfest hatten sie sich aus dem Bett geschlichen, während nebenan die Mutter schlief. Den einen Tag drängelten die Zwillinge sich noch vor dem Badezimmerspiegel, vier identische Mädchen, ganz mit ihren Haaren beschäftigt. Am anderen Morgen war das Bett leer, die Decke zurückgeschlagen wie immer, straff auf Stellas und zerknautscht auf Desirees Seite. Der Ort suchte den ganzen Vormittag nach ihnen, rief in den Wäldern ihre Namen, fragte sich töricht, ob sie entführt worden waren. Ihr Verschwinden kam so plötzlich wie die Entrückung, und auf einen Schlag waren alle Sünder von Mallard allein.
Die Wahrheit war natürlich weder mystisch noch geheimnisvoll; die Zwillinge tauchten bald in New Orleans wieder auf, einfach selbstsüchtige Mädchen, die sich vor der Verantwortung davongestohlen hatten. Sie würden nicht lange fortbleiben. Das Stadtleben würde sie mürbe machen. Das Geld würde ihnen ausgehen und auch die Unverfrorenheit, und bald würden sie der Mutter wieder schniefend am Rock hängen. Aber sie kamen nicht zurück. Stattdessen zerstreuten die Zwillinge sich nach einem Jahr und lebten ihre Leben so säuberlich getrennt, wie sie einst das Ei geteilt hatten. Stella wurde weiß, und Desiree heiratete den dunkelsten Mann, den sie finden konnte.
Nun war sie zurück, warum, wusste allein der Herr. Heimweh vielleicht. Sehnsucht nach der Mutter, nach all den Jahren, oder weil sie mit ihrem dunkelhäutigen Kind angeben wollte. In Mallard heiratete man nicht schwarz. Man zog auch nicht weg, aber das hatte Desiree ja schon getan. Nur dann auch noch einen dunkelhäutigen Mann heiraten und dessen blauschwarzes Kind durch die Stadt schleifen - das ging zu weit.
Die Versammlung in Lou's Egg House löste sich auf, der Koch zog sich das Haarnetz über, die Kellnerin zählte auf dem Tisch das Kleingeld, Männer in Overalls schlürften ihren Kaffee, bevor es hinaus in die Raffinerie ging. Lou lehnte sich an das schmutzige Fenster und starrte auf die Straße. Eigentlich musste er Adele Vignes anrufen. Von der eigenen Tochter so überfallen zu werden, nach allem, was sie durchgemacht hatte, das war nicht in Ordnung. Und dann noch dieses dunkle Kind. Mein Gott. Er griff nach dem Telefon.
«Glaubst du, sie will sich hier niederlassen?», fragte der Koch.
«Wer weiß? Sie schien es jedenfalls eilig zu haben», sagte Lou. «Wo sie wohl so schnell hinwollte?»
«Hochnäsig ist sie. Völlig ohne Grund.»
«Mein Gott», sagte Lou. «Ich habe noch nie ein so schwarzes Kind gesehen.»
Ein seltsamer Ort.
Mallard, benannt nach den Enten, die in den Sümpfen und Reisfeldern lebten. Eine Stadt, die, wie alle anderen auch, mehr Gedanke und Vorstellung war als Ort. Gedanke und Vorstellung Alphonse Decuirs, wie er im Jahr 1848 auf den Zuckerrohrfeldern stand, geerbt von seinem Vater, dem auch er einst gehört hatte. Nun, da der Vater tot und er befreit war, wollte der Sohn auf diesem Land etwas bauen, das die Jahrhunderte überdauerte. Eine Stadt für Menschen wie ihn, die nie als Weiße akzeptiert werden würden und sich trotzdem nicht wie Negroes behandeln lassen wollten. Einen dritten Ort. Seiner Mutter, Friede ihrer Asche, war seine Hellhäutigkeit verhasst gewesen; als Kind hatte sie ihn in die Sonne gestoßen und ihn angefleht, doch nachzudunkeln. Vielleicht hatte ihn das von der Stadt träumen lassen. Hellhäutigkeit war, wie alles zu einem hohen Preis Ererbte, ein Geschenk, das einsam machte. Er heiratete eine Mulattin, die noch hellhäutiger war als er. Sie war zum ersten Mal schwanger, und er stellte sich die Kinder seiner Kindeskinder noch lichter vor, wie eine Tasse Kaffee, die man immer weiter mit Sahne verdünnt. Immer perfektere Negroes. Eine Generation hellhäutiger als die andere.
Bald kamen mehr dazu. Bald waren Gedanke und Ort untrennbar miteinander verbunden, und Mallard wurde im Rest des Bezirks St. Landry zum Begriff. Farbige erzählten sich staunend davon. Weiße konnten nicht glauben, dass es die Stadt gab. Als im Jahr 1938 die Kirche St. Catherines erbaut wurde, schickte die Diözese einen jungen Priester aus Dublin, der sich bei seiner Ankunft verloren fühlte. Hatte der Bischof ihm nicht gesagt, Mallard sei eine Farbigenstadt? Wer waren dann diese Leute, die dort herumliefen? Hell und blond und rothaarig, der Schwärzeste von ihnen nicht dunkelhäutiger als ein Grieche. Galt das etwa in Amerika, wo die Weißen unter sich bleiben wollten, als farbig? Wie sollte man überhaupt den Unterschied erkennen?
Als die Vignes-Zwillinge geboren wurden, war Alphonse Decuir schon lange tot. Aber seine Ururururenkelinnen trugen sein Erbe weiter, ob sie wollten oder nicht. Sogar Desiree, die vor jedem Stadtgründerpicknick jammerte und die Augen verdrehte, wenn der Gründer in der Schule zur Sprache kam, so als hätte das alles nichts mit ihr zu tun. So behielt man sie in Erinnerung, als die Zwillinge verschwunden waren: Desiree, die nie hatte dazugehören wollen und ihr Geburtsrecht verleugnete. Die glaubte, man könne die Geschichte abschütteln wie eine Hand auf der Schulter. Eine Stadt konnte man hinter sich lassen, aber nicht sein eigen Blut. Aber die Vignes-Zwillinge glaubten wohl irgendwie, beides zu schaffen.
Und dennoch, wenn Alphonse Decuir durch den Ort geschlendert wäre, der einst seine Idee gewesen war, hätte der Anblick seiner Ururururenkelinnen ihn entzückt. Zwillinge mit sahniger Haut, Haselnussaugen, lockigem Haar. Jedes Kind ein wenig vollkommener als die Eltern - was könnte herrlicher sein?
Die Vignes-Zwillinge verschwanden am 14. August 1954, gleich nach dem Stadtgründerfest, was, wie später allen klarwurde, ihr langgehegter Plan gewesen war. Stella, die Schlaue, hatte bestimmt vorhergesehen, dass die Stadt abgelenkt sein würde. Müde vom langen Grillen in der Sonne auf dem Platz, wo Willie Lee, der Schlachter, Gestelle mit Rippchen, Ochsenbrust und Würstchen räucherte. Nach dem Räuchern kam die Rede von Bürgermeister Fontenot, die Segnung des Essens durch Pfarrer Cavanaugh; die Kinder wurden schon zappelig und pickten sich Fetzen knuspriger Hühnchenhaut von den Tellern, die ihre betenden Eltern in Händen hielten. Ein langer, festlicher Nachmittag mit Blasmusik, am Abend dann Tanz in der Turnhalle, und nach ein paar Stunden auf der Tanzfläche, die die Altvorderen zart wieder mit ihrem jüngeren Selbst vertraut gemacht hatten, und ein paar Gläsern zu viel von Trinity Thierrys Punsch torkelten sie heim.
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