Erstes Kapitel. Der Hundebiß
I
Und doch, dachte Edward Henry Machin, als er sechs Minuten vor sechs seiner Wohnung auf der Höhe von Bleakridge zuschritt, und doch bin ich gar nicht so recht vergnügt!
Die beiden ersten Worte dieser unerfreulichen Betrachtung bezogen sich auf die Tatsache, daß ihm zwei Telephongespräche mit seinem Börsenvertreter in Manchester durch eine Spekulation in Gummiaktien dreihunderteinundvierzig Pfund eingetragen hatten. Es war im Herbst des großen Börsenjahres 1910. Er hatte nichts weiter getan, nur den Mund klug und glücklich im richtigen Augenblick geöffnet, und das Geld war ihm wie eine reife goldene Frucht als Himmelsgeschenk in den Schoß gefallen. Und doch war er gar nicht so recht vergnügt! Er war überrascht, ja es verletzte ihn geradezu, daß Geldgewinn nicht unbedingt glücklich machte.
Ich werde älter, dachte er.
Er hatte recht. Er war noch jung, wie jeder Mann von dreiundvierzig Jahren zugeben wird, aber er wurde älter. Wenige Jahre vorher hätte der unerwartete Gewinn von dreihunderteinundvierzig Pfund keine krankhafte Selbsterforschung hervorgerufen, sondern ein natürliches, durch keinerlei Nachdenken angekränkeltes Glücksgefühl, das mindestens zwölf Stunden angedauert hätte.
Mit solchen Gedanken beschäftigt, verschwand er hinter der rötlichen Gartenmauer, die sein Haus den Blicken der Straße entzog. Er hatte eigentlich gehofft, daß Nellie ihn auf den berühmten Marmorstufen des Hauseingangs erwarten würde, denn die Frau pflegte schon seit langen Jahren seine Ankunft von dem kleinen Fenster im Badezimmer aus zu erspähen. Aber auf den Marmorstufen stand niemand. Seine Verstimmung nahm zu. Beim Mittagessen hatte er über Neuralgie geklagt, daher durfte er an diesem Abend wirklich erwarten, daß sie reizend angezogen und voll Mitgefühl an der Türe stehen würde. Die Neuralgie hatte allerdings aufgehört. »Aber,« sagte er mit Recht bitter zu sich selbst, »sie kann doch nicht wissen, daß ich keine Schmerzen mehr habe.«
Er öffnete die Haustür mit seinem eleganten kleinen Hausschlüssel, trat in die Wohnung und stolperte beinahe über einen Handbesen, der an der zum Fußreinigen eingelassenen Matte lag. Er betrachtete ihn ärgerlich. Solch ein Gegenstand wäre um diese Zeit in der Diele jedes Hauses nicht am Platze gewesen. Aber in der Diele seines Hauses, dessen Pläne er vor zwölf Jahren selbst entworfen hatte, war der Anblick eines elenden alten Handbesens zur Teestunde geradezu ein Skandal. Vor noch nicht vierzehn Tagen hatte er seiner Frau einen großartigen elektrischen Vakuumreiniger geschenkt. Man brauchte ihn nur mit dem Steckkontakt an der Wand anzuschließen, ihn in geheimnisvollen Rhythmen fächelnd über den Fußboden zu bewegen, und das Haus wurde sauber. Er war so stolz darauf, als ob er ihn selbst erfunden hätte; jeden Tag erkundigte er sich nach dem Erfolg und erwartete und erhielt begeisterte Antworten.
Und jetzt lag dieser schmutzige Handbesen da!
Während er seinen Hut und seinen schönen neuen Überzieher, der die Farbe und die sanfte Glätte einer römischen Pflaume hatte, sorgfältig aufhing, ärgerte er sich über die Weiber. Es waren ihrer fünf: seine Frau Nellie, seine Mutter, das Kindermädchen, die Köchin und das Stubenmädchen, und ihre gemeinsame Nachlässigkeit trug die Schuld.
Dabei war Nellie nirgends zu sehen, obwohl er absichtlich seinen Ebenholzstock so geräuschvoll als möglich hingestellt hatte. Jetzt stürzte das Dienstmädchen aus der Küche mit dem Teetablett. Sie sah schuldbewußt aus. Offenbar hatten sich alle im Haus verspätet. Er eilte nach dem Badezimmer und nahm zwei Stufen auf einmal, um Punkt sechs Uhr im Eßzimmer zu sein und die andern zu beschämen.
Das Badezimmer war sein eigenstes Gebiet, in dem er beständig Verbesserungen anbrachte, und in dem er sein Talent für Komfort und seine Unempfindlichkeit für alle Ästhetik betätigen konnte. Es war unbestritten das schönste Badezimmer in den Fünf Städten und typisch für das ganze Haus. Aber heute war er enttäuscht, keine unsauberen Spuren vom Baden der Kinder zu entdecken; heute würde ihm eine Übertretung des obersten Gesetzes, daß das Badezimmer immer in peinlicher Ordnung und frei sein mußte, wenn Vater es brauchte, eine grimmige Befriedigung gewährt haben. Während er sich die Hände wusch und seine gepflegten Nägel mit einer Nagelbürste reinigte, die fünfeinhalb Schilling gekostet hatte, sah er sich selbst im Spiegel, den er beim Waschen angespritzt hatte: ein etwas starker, breitschultriger, blonder, pausbäckiger Mann, mit kurzem Bart und dichtem Haar. Seine Krawatte gefiel ihm; seine eleganten, zurückgeschobenen Manschetten gefielen ihm, und der weiche, blonde Flaum auf seinem Unterarm machte ihm Vergnügen. Man sah ihm seine dreiundvierzigeinhalb Jahre nicht an, und doch hatte er kürzlich daran gedacht, sich den Bart abnehmen zu lassen, teils um den Jahren zu trotzen, teils auch weil ein Freund ihm versichert hatte, daß, wenn er sich den Bart abnehmen ließ, das Kopfhaar besser wachsen würde ... Denn da war eine schwache Stelle mitten auf dem Schädel, wo das Haar in letzter Zeit in betrüblicher Weise dünner wurde. Der Friseur hatte ihm versichert, daß eine elektrische Massage dies beseitigen würde, und wenn er ihm nicht glauben sollte, würde es ihm jeder Arzt bezeugen. Jetzt aber beschloß er, plötzlich entmutigt und weil ihm das Leben unerklärlicherweise keinen Reiz zu haben schien, den Bart stehen zu lassen. Es lohnte nicht, ihn abzunehmen. Es war nicht mehr der Mühe wert. Er war dreiundvierzigeinhalb Jahre alt. Schließlich wurde jeder Mensch mit der Zeit kahl. Außerdem, wenn er sich den Bart abnehmen ließ, brauchte er täglich einen Barbier. Und er war vollkommen überzeugt, daß es in den Fünf Städten keinen anständigen Barbier gab. Er fuhr jedesmal nach Manchester, sechsunddreißig englische Meilen, um sich die Haare schneiden zu lassen. Die Sache kostete ihn ein volles Pfund und einen halben Tag ... Dabei war er überzeugt, daß er ein Mensch von einfachen Bedürfnissen war! Zum Glück konnte er sich diese einfachen Bedürfnisse erlauben, denn wenn er auch nicht im modernen Sinn des Wortes reich war, so gab er doch im Steuerbekenntnis ein jährliches Einkommen von über fünftausend Pfund an, und die Steuerbehörde glaubte es ihm nicht unbedingt.
Er bürstete das dichtere Haar über die schwache Stelle, streifte die Hemdärmel herab, bürstete seinen Rockkragen aus und schließlich den Bart, zog die Jacke sorgfältig wieder an, denn er war immer peinlich gut gekleidet. Dann drehte er den Schnurrbart nachdenklich zu militärischen Spitzen aus und warf einen Blick durch das Hoffenster, um sich zu vergewissern, ob die Mauer des neuen Anbaus, den er aufführen ließ, noch Spuren von Feuchtigkeit zeigte, und ob der neue Chauffeur das neue Auto mit der richtigen Liebe putzte. Die Mauer zeigte keine Spuren von Feuchtigkeit und der gekrümmte Rücken des Chauffeurs schien eine ungewöhnliche Gewissenhaftigkeit anzudeuten.
Und jetzt schlug die Uhr draußen sechs, und er eilte hinab, um die anderen gründlich zu beschämen.
II
Nellie kam erst zwei Minuten später als er ins Speisezimmer, und da Edward Henry jede Sekunde dieser zwei Minuten gezählt hatte, so hatte er das Gefühl, lange gewartet zu haben. Sein stiller Ärger wurde dadurch gesteigert, daß Nellie ihre weiße Schürze auf dem Korridor ablegte und sie eilig auf das Teebrett warf, das das Mädchen, wie stets während der Mahlzeiten, draußen abstellte. Er hatte es nicht gesehen, weil sie es hinter der Türe getan hatte, aber er wußte es. Und er hatte es nie leiden können. Wenn Nellie im Hause beschäftigt war, dann sah er sie gern in der sauberen weißen Schürze, weil es ihr stand, aber als ein Mann, der sechstausend Pfund im Jahr ausgeben konnte, liebte er nicht, daß man mit der Schürze zum Essen kam. Und heute paßte ihm die Schürze überhaupt nicht. Wer hätte bei derartigen Gewohnheiten der Hausfrau erraten können, daß er wöchentlich hundert Pfund ausgeben konnte? Als er noch jung war, hätte ein Einkommen von sechstausend Pfund jährlich für ihn eine aristokratische Lebensführung, Lakaien, Schlösser, Jagden, einen Güterdirektor und einen Rennstall, die beste Gesellschaft der Provinz, vornehme Diners und eine näselnde Aussprache bedeutet. Wozu trug seine Frau eine Schürze? Es war traurig, aber weder seine Frau noch seine Mutter sahen jemals wie reiche Leute aus, und sie versuchten auch gar nicht, so auszusehen. Wenn seine Mutter eine Sealskinjacke, die achtzig Pfund gekostet hatte, trug, so sah sie aus, als ob sie sie bei einem kleinen Ausverkauf erstanden hätte, und seine Frau trug einen Diamantring für hundertachtzig Pfund so selbstverständlich, daß niemand ihm seinen Wert ansah.
Aber während seine männliche Logik diesen weiblichen Mangel an Auftreten entschieden verurteilte, war er als Mensch sehr froh darüber, denn er wußte genau, daß eine aristokratische Lebensführung ihm nur beschwerlich und beängstigend gewesen wäre. Nur, daß er das nie zugegeben hätte.
Als Nellie sich an den Tisch setzte, war ihr Gesichtsausdruck nicht klar. Es waren nun mehr als zwanzig Jahre vergangen, seitdem sie sich - er und ein nachdenkliches kleines Geschöpf - auf einem historischen Rathausball getroffen hatten. Er vermochte dieses nachdenkliche kleine Geschöpf in den ruhigen, reinen Zügen des Gesichts und in dem rundlich gewordenen Körper noch zu erkennen, aber eine tüchtige, erfahrene, nicht einzuschüchternde Frau war hinzugekommen. Es war nicht zu glauben, daß das nachdenkliche kleine Geschöpf achtunddreißig Jahre alt war. Er erinnerte sich ihres schlanken, biegsamen Körpers, der schüchternen Sehnsucht in ihren...