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Nova
Berryfield. Wie lahm kann ein Ortsname eigentlich klingen?
Düster starre ich hinaus ins endlose Grün, in das sich nur noch mehr Grün mischt. Weit und breit nichts als Grün. Helle, sanft geschwungene Wiesen, auf denen Wildblumen blühen, wechseln sich wie ein Flickenteppich ab mit dunklen Wäldern. All diese Schattierungen von Grün, die irgendwann vor meinen Augen zu einem Einheitsbrei verschwimmen.
Was ich jetzt eigentlich sehen sollte, sind weißer Sand und türkisblaues Meer. Und wenn Grün, dann in Form von Palmen oder bestenfalls noch in Gestalt von Sumpf mit Alligatoren, den geheimnisvollen Everglades, durch die ich mit einem Airboat rauschen wollte. Pythons, Strand und Achterbahnen - was auch immer Florida in meiner Vorstellung ausmacht.
Das alles wäre so viel spannender als die Idylle, durch die der Fahrer den muffig riechenden Kombi gerade steuert, in dessen Kofferraum sich mein bisschen Gepäck befindet. Ich habe einen Shuttleservice vom Albany International Airport zu meinem neuen Zuhause gebucht - ansonsten hätte es nur einen Mietwagen gegeben, aber da ich es bis heute nicht geschafft habe, mich durch die nervigen Führerscheinvorbereitungen zu ackern, ist der leider keine Alternative für mich.
Es ist nicht so, als wären meine Eltern nicht bereit gewesen, mir, gleich als ich achtzehn geworden bin, den Führerschein zu sponsern. Das Problem bin ich gewesen - wie üblich. Wer auch sonst? Die Person, der es an Durchhaltevermögen mangelt. Viermal habe ich angefangen, viermal habe ich hingeschmissen. Viermal durfte ich deshalb in die enttäuschten Gesichter meiner Eltern blicken.
Ganze drei Stunden dauert die Fahrt vom Flughafen nach Berryfield laut Google Maps. Der Mann mit dem schütteren Haar hinter dem Steuer schafft es allerdings bestimmt, fünf oder sechs Stunden daraus zu machen. Er fährt so langsam, als hätte er eingeschlafene Füße, was mich wiederum eingeschlafene Füße und einen unterdrückten Nervenzusammenbruch aufgrund von Ungeduld haben lässt. Nervös tippe ich mit den Fingernägeln über die Knöpfe des Fensterhebers, lasse die Scheibe mal hoch- und mal runterfahren, und spiele mit dem Gurt meiner Tasche.
Am liebsten würde ich aussteigen und die verdammte Karre eigenhändig anschieben. Langsamer würden wir dadurch jedenfalls nicht werden.
»Eine schöne Jahreszeit für einen Urlaub in den Adirondacks«, plaudert er und wirft mir durch den Rückspiegel, an dem ein zerknittertes Foto von einer Frau und zwei kleinen Mädchen klemmt, einen neugierigen Blick zu. Fragt er sich, warum ich ohne Begleitung reise? Ich bekomme deshalb noch immer überraschend viele irritierte Reaktionen, obwohl es doch längst nichts Exotisches mehr ist, als Frau alleine unterwegs zu sein. Zumal es die beste Art ist zu reisen, wie ich finde. Auf eigene Faust eine Backpacking-Tour durch Indien zu machen, war eine der wertvollsten Erfahrungen meines Lebens. Es gibt wohl kaum eine Chance mehr über sich selbst zu erfahren, als auf einer Reise durch ein Land, dessen Sprache man nicht spricht, ohne Handy, weil der Akku leer ist, und ohne Portemonnaie, weil es geklaut wurde. Zumindest hatte ich danach eine Menge Geschichten zu erzählen. Das Einzige, was mir daran leidtut, ist, dass meiner armen Mama dadurch noch mehr graue Haare gewachsen sind.
»Ich bin nicht zum Urlaub machen hier«, erkläre ich knapp. »Work and Travel.« Eigentlich quatsche ich gerne, aber die Tatsache, dass ich nicht in Florida, sondern hier in den Adirondack Mountains unterwegs zu einem verschlafenen Bergdorf bin, schlägt mir auf die Stimmung.
Der Mann deutet meinen Tonfall richtig und fragt nicht weiter. Das gibt mir mehr Zeit zum Nachdenken, als mir lieb ist.
Damit alles so schnell wie möglich ging und ich mich keine Ewigkeit mit den Formalitäten und Einreisebestimmungen herumschlagen musste, habe ich mein USA-Abenteuer mit Hilfe einer Work-and-Travel-Agentur gestartet. Auf dem Papier klang alles perfekt: Ich sollte mal hier, mal dort für eine Weile arbeiten, verschiedene Bundesstaaten kennenlernen, und das Ganze sollte im strahlenden Sonnenschein und im Trubel eines Freizeitparks losgehen.
Dass mit so einer Agentur automatisch alles glattläuft, war allerdings eine dumme Fehlannahme. Bei der Organisation ist irgendwas schiefgegangen, und mich hat eine fürchterlich zerknirschte Dame angerufen, die mir am Telefon auf Englisch erklärt hat, dass der Job meiner ersten Station, wo ich in einem gigantischen Freizeitpark in Florida hätte arbeiten sollen, anderweitig vergeben worden sei. Ganz kurzfristig müsse leider der Plan geändert werden.
Dass die Änderung kurzfristig passieren musste, stört mich nicht weiter. Dass mich der Alternativplan in ein verschlafenes Nest im Nirgendwo führt, aber sehr wohl. Ich wollte in die USA, weil mir Hamburg zu eng, zu langweilig, zu vertraut ist. Weil ich eine Abwechslung gesucht und mir von der Work-and-Travel-Angelegenheit die Chance auf ein Abenteuer versprochen habe. Und klingt Berryfield nach Abenteuer? Nein, kein bisschen. Das klingt nach einem Hobbit-Dorf voll niedlicher Häuschen, deren verschrobene Einwohner sich den lieben langen Tag nur über die nächste Mahlzeit den Kopf zerbrechen, weil da sonst einfach überhaupt nichts passiert.
Aber die Landschaft übt einen eigenartigen Sog auf mich aus. Je länger ich in die Grünnuancen blicke, die am Fenster vorbeiziehen, desto mehr verliere ich mich in ihnen. Die Landschaft strahlt eine raue Schönheit aus, die mich wider Erwarten tief berührt.
Ringsumher erstrecken sich sanfte Hügel, die von dichten Wäldern bedeckt sind. Zartrosa und weiße Blüten leuchten wie Sterne zwischen den hellgrünen Blättern der Laubbäume hervor, der Frühling zeigt sich von seiner schönsten Seite. Das Sonnenlicht fällt durch die dichten Baumkronen und taucht die Szenerie in ein warmes, goldenes Licht. Immer wieder tauchen kleine Flüsse und Bäche zwischen Bäumen auf und glitzern so sehr, dass ich geblendet die Augen schließen muss.
Und dann die Berge. Majestätisch erheben sich Gipfel und Bergzüge, die sich messerscharf vom Himmel abzeichnen. Die Adirondacks haben etwas Wildes, etwas Ungezähmtes, das einen direkten Weg in meine Seele findet und mich ergreift.
Das kommt völlig unerwartet, damit habe ich nicht gerechnet. Nicht damit, dass mich die ungeliebte Notlösung schon bei meiner Ankunft überrascht. Der Anblick der Berge macht was mit mir, er löst eine Sehnsucht in meiner Brust aus, der ich mich nicht widersetzen kann.
Allerdings habe ich das eigentliche Ziel, Berryfield, noch nicht erreicht. Und was das betrifft, muss ich wirklich all meinen Optimismus mobilisieren, um keine Grimasse zu ziehen.
Während draußen die Landschaft vorbeizieht, machen sich meine Gedanken selbständig und wandern dorthin, wo ich sie nicht haben will. Zu den fassungslosen Gesichtern meiner Eltern, die ich einmal mehr enttäuscht habe. Zu all den Projekten, die ich angefangen, und gleich wieder abgebrochen habe, um weiter zu ziehen, etwas anderes zu beginnen, daran wieder das Interesse zu verlieren, wieder alles überstürzt hinzuwerfen und mich nach wieder etwas Neuem zu sehnen.
Du bist zweiundzwanzig und hast mehr Umzüge und Richtungswechsel hinter dir, als ich mit meinen dreiundfünfzig Jahren, habe ich Papas polternde Stimme im Kopf.
Da hat er nicht unrecht. Und von Mal zu Mal klingt meine Standarderklärung, ich hätte das Richtige einfach noch nicht gefunden, nach einer immer hohleren Ausrede - was nichts daran ändert, dass es die Wahrheit ist. Ich habe keine Ahnung, was ich auf Dauer machen will und wo ich es auf Dauer aushalten kann. Jeder Ort, an den ich gezogen bin, hat mich innerhalb kürzester Zeit wahlweise gelangweilt oder angekotzt. Ob München, Frankfurt, Wien, Salzburg, Berlin oder zuletzt Hamburg - nirgendwo hat es mich lange gehalten.
In wie viele Studien und Ausbildungen ich reingeschnuppert habe, weiß ich nicht mehr und will ich auch gar nicht nachzählen. In mehr als üblich ist, auf jeden Fall.
Irgendwann im Laufe dieser unzähligen gescheiterten neuen Anläufe habe ich mir das Verständnis meines gesamten Umfelds verspielt. Zuerst das meiner Eltern, die angesichts meines, wie sie es nennen, rastlosen Lebensstils, schon lange zwischen Sorge, Ärger und Resignation schwanken. Dann auch das meiner Freundinnen und Freunde, die mich erst noch irgendwie bewundert haben, um dann mit der gefühlt hundertsten Umorientierung doch eher irritiert als fasziniert zu sein. Die meisten, mit denen ich in der Schule oder in den vielen verschiedenen Erstsemesterkursen an diversen Unis Kontakt hatte, habe ich mittlerweile aus den Augen verloren. Leute kommen und gehen. Die meisten meiner Bekanntschaften sind so flüchtig wie meine unzähligen Neuanfänge.
Die einzige Konstante in meinem Leben ist mein Nebenjob als Yogalehrerin, mit dem ich mich über Wasser halte, seit meine Eltern ihre finanzielle Unterstützung - verständlicherweise - auf ein Minimum runtergefahren haben. Und der einzige Mensch, der treu zu mir hält, ist meine Schwester Fine.
»Da ist es. Berryfield«, schmettert mein Fahrer mit solchem Stolz in der Stimme, als hätte er den Ort eigenhändig Stein für Stein gebaut.
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch und richte mich im Ledersitz auf, um besser hinaussehen zu können. Gerade passieren wir das Ortsschild.
Berryfield ist eher eine Kleinstadt als ein Dorf, stelle ich erleichtert fest. Das reduziert zumindest das Risiko, dass mir gleich schon nach ein paar Tagen die Decke auf den Kopf fällt....
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