Schweitzer Fachinformationen
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»Die Zukunft jeder Errungenschaft ist unvorhersehbar.«
Erinnerungen eines Mädchens, Annie Ernaux
Später hatten wir dann oft ein Buch dabei. Später. Als wir endlich ein bisschen größer waren, aber natürlich längst nicht so groß wie die anderen, nahmen wir immer Bücher mit. Sehr viele Bücher! Und setzten uns damit ins Gras unter dem Baum. Eigentlich war es nur ein Buch. Nur ein einziges, ganz genau. Viele Bücher, aber immer nur eins zur Zeit. Jawohl, eins zur Zeit. Haufenweise Bücher - das hätte uns nicht gefallen, oder? Nein, gar nicht, und das ist bis heute so geblieben. Wir mögen ein Buch. Ja, wir mögen ein Buch, heute wie damals. Beispielsweise haben wir es uns in der Bücherei ziemlich schnell wieder abgewöhnt, nicht wahr, Bücher über Bücher auszuleihen. Ja. Ja, so war das. Anfangs haben wir natürlich so viele mitgenommen wie möglich. Bestimmt an die acht Stück. Es waren immer entweder sechs, acht oder zwölf, außer es handelte sich um Sammelbände, in dem Fall waren es eher nur vier. Und anfangs haben wir so viele Bücher ausgeliehen wie möglich. Oh, ja. Dieses und dieses und dieses, und das und das hier auch. Und so weiter. Ja. Aufgestapelt auf dem hohen Tresen, damit der Wackeldackel sie stempeln konnte. Und kein einziges lasen wir von Anfang bis Ende. Das ging gar nicht. Wir konnten uns überhaupt nicht darin vertiefen. Egal, welches Buch wir gerade in der Hand hielten - wir fragten uns pausenlos, welche Wörter wohl in den anderen Büchern standen. Wir waren machtlos dagegen, nicht wahr. Wir konnten einfach nicht anders, als über die anderen Bücher und die Wörter darin nachzudenken, und wenn wir dann eins der anderen Bücher in die Hand nahmen, um nachzusehen, ging alles von vorn los. Es war immer dasselbe, egal, zu welchem Buch wir griffen. Solange da noch andere Bücher waren, mussten wir nonstop an die Wörter denken, die wohl in ihnen standen, was uns davon abhielt, uns in das Buch in unserer Hand zu vertiefen. In eben dieses Buch. Eine dumme Angewohnheit. Wirklich zu dumm. Ein Buch weglegen, ein anderes nehmen, auch das beiseitelegen und ein neues nehmen und so weiter, und kein Stück weiterkommen. Kein Stück. Immer und immer wieder. So ging das eine ganze Weile, nicht wahr, bis uns etwas klar wurde: Dass wir sechs Bücher acht Bücher zwölf Bücher vier Bücher ausleihen durften, bedeutete noch lange nicht, dass wir es auch mussten.
Nein, natürlich nicht. Also liehen wir nur eins aus. Was die anderen natürlich aufregte. Ja. Oh, ja. Und wie. Ohne Ende. Ist das alles, riefen sie. Das ist viel zu wenig. Nur eins - das reicht doch höchstens bis morgen, hieß es, wir kommen diese Woche nicht noch mal her. Na und? Als könnte man mit einem Buch nichts anderes tun, als es zu lesen. Ja, genau. Wir konnten ziemlich lange neben einem Buch sitzen, ganz ohne es aufzuschlagen, so war es doch. Keine Frage. Und das war sehr erbaulich. Auf jeden Fall. Wie wir feststellten, ließ sich einem Buch sogar jede Menge abgewinnen, ganz ohne es aufzuschlagen. Es einfach nur neben uns liegen zu sehen, war schon etwas Besonderes. Weil wir uns dann nämlich fragen konnten, nicht wahr, welche Wörter wohl darin standen, statt uns in einen lächerlich verzückten Zustand hineinzusteigern. Mit nur einem Buch konnten wir im Gras sitzen und in aller Ruhe und ausführlich über die Wörter nachdenken, die wohl darin standen, so dass sich wie von allein und von wer weiß woher die klarsten Bilder einstellten. Das war schön. Wirklich. Die Bilder ähnelten nur selten Dingen, die wir gesehen hatten, trotzdem wirkten sie kein bisschen unscharf oder weit hergeholt. Kein bisschen. Vielleicht um sicherzustellen, dass die Bilder, die sich wie von allein einstellten, nicht zu sehr von Thema, Ton und Zeit des neben uns liegenden Textes abwichen, nahmen wir das Buch gelegentlich in die Hand, schlugen es dort auf, wo der Daumen hängen blieb, und lasen ein oder zwei Wörter der Zeile, auf der unser Blick zufällig gelandet war, und diese ein oder zwei Wörter reichten schon aus, nicht wahr, um noch spannendere Bilder heraufzubeschwören.
Wenn wir ein Buch aufschlagen, wandert unser Blick fast immer zur linken Seite. Oh, ja - aus Gründen, über die wir noch nie nachgedacht haben, fühlen wir uns von der linken Seite stärker angezogen als von der rechten. Aber zuerst blicken wir auf die rechte Seite hinunter. Die rechte zuerst, jawohl. Die Wörter auf der rechten Seite erscheinen uns viel zu dicht. Zu dicht beieinander und zu dicht vor unserem Gesicht. In der Tat sorgen die Wörter auf der rechten Seite dafür, dass wir unser Gesicht seltsam verziehen. Sind das wirklich wir? Ja? Nun? Die Wörter rechts wirken übereifrig und aufdringlich, ja in der Tat fast anbiedernd, und schon bald wenden sich unsere erschütterten Augen von der rechten Seite ab und suchen Zuflucht auf der linken. Auf die rechte Seite sehen wir hinunter und zur linken sehen wir auf. Im Ernst. Und fast immer lesen wir die linke viel langsamer als die rechte. Auf der linken ist anscheinend mehr Zeit. Ja. Oh, ja. Und wie! Auf der linken Seite ist mehr Platz, zu beiden Seiten der Begriffe und auch über und unter den Sätzen. Außerdem stehen auf der linken Seite fast immer die besseren Wörter. Genau - Wörter wie »strahlte«, »Geschöpf«, »Champagner«, »zottig« und »Klumpen« beispielsweise. Wörter, die keine weitere Erklärung brauchen. Die unser Auge eins nach dem anderen passieren, statt sich zusammenzurotten und uns von etwas überzeugen zu wollen, was gar nicht passiert. Wobei es doch eigentlich nicht sein kann, dass diese unterschiedlichen, durch die Wörter ausgelösten Vorgänge so treffsicher auf die linken und die rechten Seiten verteilt wurden, oder? Nein, vermutlich nicht. Viel wahrscheinlicher ist, dass wir für die Wörter auf der linken Seite sehr viel empfänglicher sind als für die auf der rechten, weil wir auf die rechte hinabschauen und zur linken aufblicken. Wirklich. Tun wir. Was wohl bedeutet, dass das Buch in unserer Hand sich bewegt. Ja, es bedeutet, dass wir das Buch, wenn wir die rechte Seite umblättern und sie zur linken wird, leicht in die Höhe heben. In die Höhe, ja wirklich.
Wir neigen dazu, die letzten Sätze der rechten Seite hastig zu lesen, nicht wahr. In der Tat. Wir genießen das Umblättern sehr, es erfüllt uns mit einer geradezu glühenden Vorfreude und nimmt unsere Aufmerksamkeit dermaßen in Anspruch, dass wir nicht anders können, als die letzten Sätze auf der rechten Seite hastig zu überfliegen und kein einziges Wort wirklich aufzunehmen. Ziemlich oft ergibt der Anfang einer linken Seite keinen Sinn. Nein. Nein, gar keinen. Und erst dann erkennen wir, wenn auch nur widerwillig, dass wir die letzten Zeilen der Seite davor nicht richtig gelesen haben. Ziemlich oft ist unser Widerwille so groß, dass wir einfach weiterlesen. Wir lesen weiter, jawohl, selbst wenn wir aus dem Gelesenen nicht schlau werden. Wir lesen weiter, weil wir vage davon überzeugt sind, dass sich uns, wenn wir nur durchhalten, der Zusammenhang zwischen den aktuellen und den bereits gelesenen Sätzen früher oder später vollständig erschließen wird. Wir kommen aber nicht sehr weit. Nein, leider nicht. Fast immer blättern wir zurück. Oh, ja. Und fast immer sind wir überrascht, wie viele augenfällige Details in den letzten Zeilen der vorherigen rechten Seite untergebracht sind, und noch überraschender finden wir den unpassenden, von wer weiß woher stammenden Gedanken, dass der Setzer des Buches wirklich keinerlei Verantwortungsgefühl besitzt, hat er doch zugelassen, dass am Ende einer rechten Seite so wichtige Sätze stehen. Dem Setzer muss doch bewusst gewesen sein, wie viel Freude den Leuten das Umblättern und wieder Umblättern macht; deshalb kann niemand von ihnen erwarten, dass sie die letzten Zeilen der rechten Seite mit der gebotenen Aufmerksamkeit lesen. Sollte man meinen. Umblättern. Umblättern. Umblättern und das Buch ein wenig höher halten. Und der Grund, nun da wir darüber nachdenken, ist wohl, dass wir nach dem Umblättern Lust haben, das Kinn zu heben und nach oben zu sehen. Und wir wollen nach oben sehen, weil sich das Blatt gewendet hat. Ein neues Blatt! - jawohl. Das Blatt hat sich gewendet, und wir fühlen uns schlagartig jung und wahnsinnig aufgeschlossen, und so nimmt unser Gesicht beim Umblättern ganz ungezwungen den erhabenen Ausdruck einer kultivierten, wenn auch leicht verwöhnten Göre an. Das neue Blatt. Ja. Bis zum Ende der rechten Seite sind wir um ungefähr zwanzig Jahre gealtert. Dann halten wir das Buch nicht mehr in die Höhe. Nein. Oh, nein. Das Buch ist gesunken, unser Kopf ist gesunken. Wir haben Hängebacken. Wirklich. Wir haben ein Doppelkinn. Jawohl. Wir suhlen uns. Wir suhlen uns. Wir suhlen uns in unseren Kinnfalten. Wirklich, wir sind um mindestens zwanzig Jahre gealtert. Da ist es doch kein Wunder, nicht wahr, dass wir die rechte Seite nicht ordentlich zu Ende lesen. Nein. Gar nicht. Gar kein Wunder, dass es uns in den Fingern juckt, endlich umzublättern. Überhaupt kein Wunder, dass wir uns so glühend aufs Umblättern freuen. In der Tat freuen wir uns, als ginge es um Leben und Tod. Um Leben und Tod. Leben und Tod. Und in der Tat geht es um Leben und Tod. Ja. Oh, ja. Die Seite umblättern. Die Seite umblättern. Wenn wir eine Seite umblättern, werden wir neu geboren. Wir leben und sterben, leben und sterben, leben und sterben, wieder und wieder. Und ganz ehrlich - so sollte es auch sein. So geht lesen. Ja. Oh, ja. Die Seite umblättern. Die Seite umblättern. Mit dem ganzen Leben.
Man könnte behaupten, dass es genau genommen keine linken Seiten gibt, sondern nur Rückseiten von rechten, nicht wahr. Das könnte man durchaus...
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