Kapitel 1
Abschied
Ich stecke mir die Stöpsel des I-Pods meiner Mutter in die Ohren und wähle die Musikdatei, die ich schon tausend Mal gehört habe. Meine Mama hatte sich vor vielen Jahren diese Playlist mit ihrer Lieblingsmusik zusammengestellt, und immer dann, wenn ich mich ihr nahe fühlen will, versinke ich mit geschlossenen Augen in den Klängen von Peter Gabriel, Depeche Mode und Sting.
Enjoy the Silence von Depeche Mode ist das erste Stück auf der Playlist, Genieße die Stille passt auf diesen Moment ganz gut, gleich wird es mit der Ruhe vorbei sein. Vor mir liegt die erste Station meiner Abschiedstour, bevor ich mich mit Joshua auf die Zweitausend-Kilometer-Reise in den Süden Europas machen werde. Ich habe keine Ahnung, was mich genau erwartet, befürchte aber, dass der Abend das Potential hat, in einem Fiasko zu enden. Einen Moment überlege ich, ob ich die Haustür wie immer einfach mit meinem Schlüssel öffnen und hineinstürmen soll, entscheide mich dann aber dafür zu klingeln, als würde ich bei fremden Menschen darum bitten, das Haus betreten zu dürfen.
Papa öffnet mir lächelnd die Tür. "Hallo, Jannis, hast du mal wieder deinen Schlüssel verschlampt?"
Ich liebe Pastitsio, den griechischen Nudelauflauf. Das war eines der wenigen griechischen Gerichte, das Mama auf den Tisch zaubern konnte. Ansonsten war sie eher auf die schwedische Küche und die Zubereitung von Köttbullar und Fisksoppa spezialisiert. Aber meinem Papa zuliebe hatte sie sich im Urlaub von seinen griechischen Cousinen ein kleines Repertoire der hellenischen Küche beibringen lassen. Den Nudelauflauf hatte sie im Laufe der Jahre derart perfektioniert, dass ich mir kaum einen besseren vorstellen kann.
Das Pastitsio auf meinem Teller ist nicht schlecht, eigentlich sogar ganz gut. Ich kriege trotzdem kaum einen Bissen runter und starre auf meinen Teller, als könnte ich wenigstens eine kleine Anstandsportion mit der Kraft der Gedanken in meinen Magen transportieren.
"Schmeckt's dir nicht?" Papa gibt nicht auf, er versucht krampfhaft, ein Gespräch in Gang zu setzen.
"Doch, doch, ist okay." Mehr kriege ich nicht raus und stochere lustlos mit der Gabel in den Nudeln herum.
Ich hatte mir diesen letzten gemeinsamen Abend mit Papa vor meiner Abreise nach Griechenland anders vorgestellt. Ganz anders. In drei Tagen geht es los, ich werde eine ganze Weile weg sein, vielleicht für immer. Ich bin mir absolut sicher, dass es das Richtige ist, was ich tue. Es ist keine Flucht, wie es mein Patenonkel Ben angedeutet hat, es soll ein Re-Start, ein kompletter Neuanfang sein. Ohne meinen Papa. Mit Joshua. Ich will endlich den Tod Mamas und den Verrat Papas hinter mir lassen. Aber ich hatte trotzdem einen winzigen Funken Hoffnung gehabt, einen einigermaßen guten Abgang hinzulegen, mit Papa einen unspektakulären, aber netten Abend zu verbringen, ihn wenn nicht im Guten, so doch wenigstens ohne Streit und Missstimmung zu verlassen. Mein Vorhaben hatte sich schnell erledigt, spätestens als ich sah, dass der Tisch für drei Personen gedeckt war. Und da tauchte sie auch schon in der Tür auf, in den Händen eine Schüssel Salat und ein Körbchen Brot. Ich muss zugeben, sie ist hübsch, sehr hübsch. Schlank, lange blonde Haare, eine bestimmt fünfzehn Jahre jüngere Ausgabe von Mama.
"Hallo Jan, schön, dass du da bist. Das Essen ist gleich fertig. Ich hoffe, du hast ordentlich Hunger mitgebracht!" Sie begrüßte mich eine Spur zu locker, zu betont herzlich, und überspielte damit ihre Unsicherheit.
"Du kennst Sonja!? Ich habe gedacht, wir könnten gemeinsam deinen Abschied feiern, du, ich und Sonja. Ihr Pastitsio ist hervorragend!" Papas Versuch, meine Überrumpelung zu ignorieren, war zu offensichtlich.
"Hey." Ich nickte kurz in Sonjas Richtung und schluckte nur mühsam ein Was will die denn hier? hinunter. Das war kein guter Start in diesen Abend, und er sollte nicht besser werden.
Wir sitzen jetzt seit fast einer Stunde am Tisch. Papa und Sonja geben sich wirklich redlich Mühe, die Atmosphäre bei Tisch aufzuheitern. Ihr demonstratives Interesse an meinen Reisevorbereitungen zerschellt aber an meinen Verteidigungslinien wie Meißner Porzellan an einer Hauswand. Ich weiß, ich bin bockig, aber im Moment will ich es auch sein.
Sonja: "Hast du denn schon alles gepackt, auch genug warme Klamotten? Im Norden Griechenlands kann der Winter auch sehr ungemütlich und kalt sein!" Als hätte sie ihr halbes Leben in Griechenland verbracht, frostiger als die Stimmung heute Abend kann es dort kaum werden.
Ich: "Hab ich."
Papa: "Wie steht's um den VW-Bus? Wann willst du ihn denn holen und dich von Ben verabschieden?" Lustig, dass er danach fragt, von ihm selbst habe ich bis auf warnende Hinweise und düstere Prognosen keinerlei Unterstützung erhalten.
Ich: "Morgen."
Sonja: "Hättest du nicht besser warten sollen bis zum Frühjahr? Wer weiß, ob das alte Haus überhaupt eine Heizung hat!"
Hat sie jetzt etwa ihre mütterliche Seite für mich entdeckt? Ich habe eine Mutter, auch wenn sie gerade nicht da ist.
Ich: "Nein."
Papa: "Ich finde auch, es wäre besser gewesen, bis zum Frühjahr zu warten. Dann wird es leichter, einen Job zu finden. Hast du Konstantinos schon einmal gefragt, ob sich bei ihm was machen lässt?"
Na ja, immerhin hat er mittlerweile vor meiner Weigerung kapituliert, ihn mein künftiges Berufsleben planen zu lassen.
Ich: "Ja."
Sonja: "Ach, das schaffst du schon. So etwas muss man machen, wenn man noch jung und ohne Verpflichtungen ist."
Mal was Neues, keine Frage sondern eine Feststellung. Langsam geht mir ihr abgesprochenes Ping-Pong-Spiel mit mir als Ball auf die Nerven.
Ich: "Genau."
Papa: "Bist du dir auch sicher, dass das mit Joshua funktioniert? Auch wenn er dein bester Kumpel ist, kannst du dich auf ihn wirklich verlassen?"
Ausgerechnet Papa muss mit dem Thema Verlässlichkeit anfangen, er, der nicht da war, als Mama und ich ihn am dringendsten gebraucht hätten. Der Witz des Abends.
Als Papa die Joshua-Karte ausspielt, verliere ich als Erster die Geduld bei diesem Spiel und platze heraus: "Was soll das eigentlich alles?"
"Was heißt hier, was soll das eigentlich? Wir interessieren uns einfach für das Abenteuer, das vor dir liegt!"
"Du weißt genau, was ich meine! Was soll dieses Vater-Mutter-Kind-Geschwätz, dieses Heile-Familie-Gelabere? Wir sind keine Familie! Nicht mehr."
Schlagartig wird Papas Ton schärfer: "Jan, so redest du nicht ."
Weiter kommt er nicht, Sonja legt ihm beruhigend die Hand auf die Schulter: "Schatz, Jan hat ja recht. Vielleicht haben wir ihn mit dieser Situation hier überfordert, regelrecht überfahren. Lass uns doch zum Nachtisch ins Wohnzimmer gehen und in Ruhe weiterreden."
Sonja meint es sicher gut, aber die vertraute Geste und die liebevolle Anrede bringen mich erst richtig auf die Palme.
"Papa, ich kam hierher, um mich von dir zu verabschieden. Das war noch nicht einmal meine Idee, Ben hat mich fast dazu gezwungen. Und jetzt spielt ihr mir das nette Pärchen vor, das sich um seinen Zögling sorgt. Was soll das auf einmal? Was wollt ihr von mir?"
"Jan, wir werden uns vielleicht einige Zeit nicht sehen. Wir machen uns Sorgen um dich, ist das so abwegig?"
"Tu nicht so, als hätten wir die letzten Jahre eine fast symbiotische Vater-Sohn-Beziehung gehabt. Und was heißt überhaupt wir?" Ich schaue kurz Sonja an. "Sorry, Sonja, ist nicht persönlich gemeint, aber mir war bisher nicht bewusst, dass es ein Wir gibt, das Sonja und mich gleichermaßen einschließt. Ich brauche keine neue Mutter. Was du tust, ist deine Sache, bloß lass mich damit in Frieden!"
Ich rechne damit, dass Papa jetzt endgültig explodiert, aber er atmet tief durch und antwortet überraschend ruhig. "Natürlich ist Sonja nicht deine Mutter, und sie ist auch kein Ersatz für Lisbetta. Sonja ist Sonja, und Lisbetta war Lisbetta, das weiß Sonja und das wirst auch du hoffentlich irgendwann begreifen. Deine Mutter gehört zu meiner Vergangenheit und ich werde immer mit viel Liebe an sie denken, aber Sonja gehört zu meiner Zukunft!" Er fügt mit einer seltsamen Mischung aus Bitten und Fordern hinzu: "Das wirst du wohl oder übel akzeptieren müssen!"
"Muss ich das? Warum kommst du ausgerechnet jetzt damit an? Ich bin so gut wie weg, also inwiefern betrifft es mich noch, was du tust?"
"Ich weiß, wir hätten längst darüber reden sollen. Ich wusste die ganze Zeit nicht, wie ich es anpacken soll, ich habe geahnt, wie du reagieren würdest. Aber heute ist für lange Zeit die letzte Gelegenheit, es dir zu sagen."
"Was zu sagen? Dass ihr ein Paar seid? Das ist ja wohl kaum zu übersehen!"
Jetzt ist es Sonja, die die Geduld verliert und Michael zuvorkommt. "Jan, was dein Vater dir sagen will, ist, dass wir heiraten möchten und es uns wichtig ist, dass das für dich okay ist."
"Echt jetzt, ihr wollt heiraten?" Irritiert schaue ich die beiden abwechselnd an.
"Okay, jetzt ist es raus. Ja, Jan, Sonja und ich werden heiraten. Schon einfach deshalb, weil es vieles einfacher machen wird, wenn das Baby erst da ist."
"Baby?" Mir wird für einen Moment schwarz vor Augen. Ich fasse es nicht. Was als erwartet steifer, aber friedlicher Abschiedsbesuch geplant war, entwickelt sich zu einem Albtraum. "Das ist nicht euer Ernst!"
"Doch, Jan, du wirst eine...