Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
© Alamy / Artur Balytskyi
Wenn Sie mich nach meinem Lieblingskäse fragen, dann sage ich Manchego. Besonders gern esse ich ihn zusammen mit etwas Serranoschinken und Trauben. Schon die reifenartige Rinde gefällt mir, und ich mag Schafskäse, vermutlich spielen auch irgendwelche schönen Ausflüge nach Spanien eine Rolle. Fast ebenso gerne esse ich aber einen einfachen jungen Gouda oder einen Brie, die müssen nicht mal teuer sein, und als gebürtiger Hesse natürlich Handkäs, ob mit Musik oder ohne. Letzteren esse ich allerdings eigentlich nur auswärts, weil er bei meinem persönlichen Einkaufsverhalten schon das überschreitet, was ich die »Kühlschrankgrenze« nenne: das Gefühl, bei Freunden mit Vorliebe für aromatischen Käse an den Kühlschrank zu gehen und einer Ohnmacht nahe zu kommen.
Das mag jetzt wenig genussfreudig für jemanden klingen, der ein ganzes Buch über Nahrung schreibt. Und ja, wenn es irgendwo nach einem guten Abendessen eine liebevoll kuratierte Käseplatte gibt, dann habe ich auch nichts gegen ausgemachte Stinker. Jedes Mal, wenn ich mir nur ein Glas Orangensaft einschenken will, brauche ich das aber nicht. Und wie ich bei den Recherchen zu diesem Kapitel erfahren habe, gibt es für meine Empfindlichkeit auch triftige wissenschaftliche Gründe.
Wie beim Kaffee sind zur Entdeckung des Käses verschiedene Geschichten und Theorien im Umlauf. Zum ersten Mal könnten ihn schon die Jäger der Steinzeit gegessen haben. Nicht wie bei uns auf einer Platte serviert, sondern sozusagen als Nebenprodukt der Jagd, wenn sie zum Beispiel ein Antilopenkitz oder Hirschkalb erlegten. Wurden die jungen Wiederkäuer erst kurz zuvor gesäugt, hätten die Jäger in einem ihrer mehrfachen Mägen auf seltsame weiße Klumpen stoßen können. Vermutlich hätte es nicht lange gedauert, bis sich irgendjemand bereit erklärte, das bröckelige Zeug zu probieren. Vielleicht kam auch bald jemand auf die Idee, es an der Luft zum Trocknen auszulegen.*****
*****Oder einfach den ganzen Magen zum Trocknen aufzuhängen. Genauso wird heute nämlich noch Callu de Cabrettu von Hirten auf Sardinien gemacht. Sie hängen den noch mit Muttermilch gefüllten Magen frisch geschlachteter Zicklein an einem luftigen, schattigen Ort auf. Je nach Reifezeit entsteht dabei cremiger Frischkäse mit strengem Aroma, der aufs Brot geschmiert wird, oder ein bröckeliger Hartkäse.
Die Klumpen entstehen durch ein Gemisch aus Enzymen, das von der Magenschleimhaut junger Wiederkäuer gebildet wird und sich Lab nennt. Es sorgt dafür, dass die aufgenommene Muttermilch gerinnt und sich in eine molkeartige Flüssigkeit sowie käseartige Klumpen trennt. Die Klumpen haben den Vorteil, dass die darin enthaltenen Eiweiße und Fette in dieser eingedickten Form länger im Magen der Jungtiere bleiben und so besser aufgespalten werden können. Genau zu diesem Zweck, nämlich dem Eindicken von Milch zu einer ersten Stufe von Käse, wird Lab auch in der modernen Käseherstellung verwendet. Die meisten dafür genutzten Enzyme werden inzwischen gentechnisch hergestellt. Doch gerade im traditionellen Käseland Europa ist bei vielen Käsesorten noch die Verwendung von tierischem Lab üblich - oder sogar Pflicht. Die Enzyme stammen dann aus den zerkleinerten Mägen von Kälbern, Zicklein oder Lämmern, also den gezähmten Nachfolgern wilder Wiederkäuer.****** So hätten also die ersten Käseesser der Welt im Grunde schon einen ganz ähnlichen Käse verzehrt wie wir heute.
******Das ist natürlich problematisch für Vegetarier. Bei ihnen ist ja Käse genau wie Milch, Eis und Sahne meist »erlaubt«. Zwar werden für das Lab in der Regel Mägen verwendet, die ohnehin bei der Schlachtung anfallen. Doch das Töten von Tieren ist trotzdem am Produkt beteiligt, und ein winziger Teil des Labs bleibt wohl auch im Käse. Laut der Tierschutzorganisation PETA kommt tierisches Lab bei vielen Sorten von Gouda bis Tilsiter zum Einsatz. Bei manchen Sorten mit geschützter Herkunftsbezeichnung, wie Parmesan oder Pecorino Romano, ist die Verwendung sogar vorgeschrieben. In den USA und England hingegen stammt das Lab meist von gentechnisch veränderten Mikroben. Auch in der EU ist dieser Ersatz erlaubt und auf dem Vormarsch, weil er billiger ist. Selbst die EU-Vorschriften zu meinem geliebten Manchego scheinen dieses Türchen offen zu lassen: Er darf mit »natürlichem Labferment oder anderen zugelassenen Gerinnungsenzymen« hergestellt werden.
Auch bei der am häufigsten erzählten Geschichte zur Entdeckung des Käses entsteht dieser durch Lab. Sie spielt allerdings wesentlich später, als die Zähmung Fleisch und Milch spendender Wiederkäuer bereits stattgefunden hatte. Im vorigen Kapitel wurde ja schon die Domestizierung der Ziegen erwähnt, zu der es vor etwa 10 000 Jahren kam. Sie war Teil der sogenannten neolithischen Revolution, also dem Übergang der steinzeitlichen Jäger und Sammler zu einer anderen, neusteinzeitlichen Lebensweise. Damals begannen die Menschen, als Bauern Getreide anzubauen, als Hirten Tiere zu halten und in festen Siedlungen zu leben. Diese Geburt der Landwirtschaft fand im Fruchtbaren Halbmond statt, einer vom Regen begünstigten und von großen Flüssen durchzogenen Region nördlich der Arabischen Halbinsel. Heute liegen in dem Gebiet Teile der Türkei sowie nahöstlicher Länder wie Irak, Syrien und Israel, und es wird oft als »Wiege der Zivilisation« bezeichnet.
Hier wurden zunächst Ziegen und Schafe an ein Leben als Nutztiere gewöhnt, später auch die vermutlich schwerer zu zähmenden Rinder. In der Käsegeschichte füllt ein Reisender eine Portion Milch in einen praktischen Ziegen- oder Schafsmagen ab, um sie auf dem Weg als Proviant zu verzehren. Wieder tun die Labenzyme ihr Werk, und als der durstige Wanderer aus seinem Schlauch trinken will, merkt er, dass sich die Milch in eine brockige, aber durchaus schmackhafte Masse verwandelt hat.
Die Geschichte klingt fast genauso gut wie die mit den Ziegen und den Kaffeekirschen. Doch auch hier gibt es Zweifel, ob sie sich wirklich so zugetragen hat. Ein Gegenargument kennt jeder, der keine Milch verträgt. Das ist heute noch bei rund zwei Dritteln der Menschheit der Fall und war auch bei den ersten Viehhaltern so. Das Problem sind dabei nicht die in der Milch enthaltenen Proteine und Fette. Es ist der Zucker, also der dritte große Hauptnährstoff, den unser Körper zum Leben verwendet und den Säugetiere mit der Milch an ihre Jungen abgeben. Die darin enthaltene Spielart des Zuckers heißt Milchzucker, auch als Laktose bekannt.
Wie bei jungen Wiederkäuern gerinnt die Milch im menschlichen Magen zu Klumpen, was in diesem Fall wohl vor allem an der Magensäure liegt. Die so zusammengeklumpten Eiweiße und Fette werden bereits jetzt von den zuständigen Verdauungsenzymen bearbeitet, sogenannten Proteasen und Lipasen, und noch stärker im auf den Magen folgenden Dünndarm. Hier landen die »Käseklumpen« bereits stark zerkleinert und werden dann in so winzige Moleküle zerlegt, dass sie über die Darmwand ins Blut aufgenommen werden können. Ähnlich geht es bei Milch trinkenden Menschenbabys und Tierjungen dem Milchzucker, sprich der Laktose. Sie ist ein Zweifachzucker, besteht also aus zwei miteinander verbundenen Zuckermolekülen und sammelt sich im Magen vor allem in der vom Rest getrennten »Molke«. Mit der gelangt sie schnell in den Dünndarm, wo das für sie zuständige Enzym, die Laktase, sie in gut absorbierbare Einfachzucker spaltet.
Diese Laktase wird aber bei Säugetieren und ursprünglich auch beim Menschen nur am Anfang des Lebens produziert. Nach dem Absetzen, beim Menschen Abstillen genannt, stoppt die Produktion oder sinkt im Laufe weniger Jahre auf null. Das bedeutet, die Laktose landet dann unzerlegt im Dickdarm, der auf den Dünndarm folgt. Hier wird sie zwar auch verarbeitet, aber auf andere Weise, was zu Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall führt. Menschen, die unter Laktoseintoleranz leiden, können ein Lied davon singen.
In das hätten auch die ersten Viehhalter eingestimmt. Der amerikanische Ernährungswissenschaftler Paul Kindstedt hält deshalb die Story mit dem Milch trinkenden Reisenden für unwahrscheinlich. Der Professor im käsebegeisterten US-Bundesstaat Vermont wollte eigentlich nur ein leicht lesbares Handbuch dazu schreiben, wie man Käse selbst herstellt. Am Ende wurde daraus die gesamte Geschichte des Käses in der westlichen Kultur, von ihren Anfängen bis heute. Kindstedt glaubt nicht, dass der Mensch zuerst die Milch für sich entdeckte und später lernte, daraus Käse zu machen, wie man intuitiv annehmen würde. Er hält es für wahrscheinlicher, dass wir bereits lange Käse herstellten und aßen, bevor wir zu regelmäßigen Milchtrinkern wurden, zumindest im Erwachsenenalter.
Archäologische Knochenfunde weisen darauf hin, dass die ersten Bauern Tiere zunächst wegen ihres Fleischs hielten. Angefangen, ihr Vieh zu melken, haben sie dann wahrscheinlich, um die Milch ihren Kindern zu geben. Laut genetischen Untersuchungen setzte sich die Fähigkeit, auch im Erwachsenenalter weiter Laktase zu produzieren, erst wesentlich später nachhaltig durch. In Notzeiten haben Erwachsene vielleicht schon vorher Milch getrunken. Doch als üblicher Reiseproviant hätte sie wohl kaum gegolten und wäre daher auch nicht in einem als Milchschlauch genutzten Tiermagen überraschend zu Käse geronnen. Kindstedt...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.