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Felix Körner SJ | Rom
geb. 1963, Dr. theol., Dr. phil., Professor für Dogmatik und Theologie der Religionen an der Päpstlichen Universität Gregoriana
koerner@unigre.it
Spiritualität als Weltverantwortung
Muslime und Christen in Deutschland1
In die Verantwortung gerufen
Gott ruft uns in die Verantwortung. Mit diesem Satz erkläre ich gern, was der Koran den Menschen sagt. Gott ruft uns in die Verantwortung. Was bedeutet das? Der Koran führt uns eine Gottesbegegnung am Ende der Geschichte vor Augen, und zwar drastisch: Er zeigt eine Gerichtsszene. Gott wird uns Fragen stellen. Damit zieht er uns zur Rechenschaft. Sogar einige der Rechenschaftsfragen hören wir im Koran; etwa die, was wir im Laufe unseres Lebens mit unseren Sinnen angefangen haben, mit Sehen und Hören - und wie wir unseren fu'ad gebraucht haben, also "Herz und Verstand" (al-Isra' 17:36); und Gott wird uns dem Koran zufolge fragen, ob wir treu zu unseren Verpflichtungen gestanden haben, besonders gegenüber den Bedürftigsten (al-Isra' 17:34). Gott fragt nicht, weil er es nicht wüsste, sondern weil wir selbst wissen können und einsehensollen, was gut ist. Denn: Gott ruft uns in die Verantwortung. Das heißt also erst einmal, es geht um die Beantwortung von Fragen; und natürlich nicht nur um Antworten am Ende der Zeit. Über das Geschichtsende spricht der Koran, damit wir uns die Frage schon heute stellen: Wie gehst du mit deinen Lebensmöglichkeiten um?2
Gott ruft uns in die Verantwortung - das ist aber keine Drohung, die uns in unserer Entfaltung blockieren will. Das ist nicht der Sinn der koranischen Gerichtsworte; und das wäre auch genau die Falle aus dem Talente-Gleichnis Jesu. Darin erzählt er von drei Dienern; der dritte von ihnen hat sein "Talent", das ihm anvertraute Geld, vergraben, statt es zu investieren und etwas zu riskieren. Als dieser Diener zur Verantwortung gezogen wird, begründet er sein Handeln so - oder besser, sein Nicht-Handeln: "Weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt" (Matthäus 25,25). Jesus zeigt, dass eine solche Angst eine missverstandene Ehrfurcht wäre. Nein, Gott ruft uns nicht in eine Gerichtsangst, die uns verschließt. Er ruft uns vielmehr in die Verantwortung, damit wir jetzt in "Sorge für das gemeinsame Haus" leben. So hat es Papst Franziskus ausgedrückt. In seiner Umwelt-Enzyklika ruft auch er uns in die Verantwortung-vor den jungen Menschen; denn sie werden die Folgen unserer Unverantwortlichkeit zu tragen haben. Er ruft uns in die Verantwortung vor allem gegenüber den Armen; denn die in der größten Not haben auch am meisten an unserer Gedankenlosigkeit zu leiden. Papst Franziskus lädt uns deshalb "zu einem neuen Dialog ein über die Art und Weise, wie wir die Zukunft unseres Planeten gestalten" (Laudato si', Nr. 14). Gestalten! Das heißt: nicht erstarren aus Angst vor der Rechenschaft; sondern lernbereit, gesprächsbereit, risikobereit und korrekturbereit für diese Welt sorgen - das ist die Verantwortung, in die Gott uns ruft.
Unsere Verantwortung Gott gegenüber macht uns also welt-verantwortlich, verantwortlich vor unseren Mitmenschen. So sehen wir uns auch als Christ(inn)en und Muslime in eine Verantwortung voreinander gerufen. Nicht, dass wir immer in der Verteidigung wären, sondern: Weil Gott uns in die Verantwortung stellt, packen wir miteinander die Herausforderungen an, denen wir als Gesellschaft in Deutschland und als Land in Europa gemeinsam gegenüberstehen, aber auch die Herausforderungen aufgrund der Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen. Verantwortlich heißt hier immer: Uns ist diese Welt anvertraut. Sie haben wir als die, die wir sind, mit unseren verschiedenen Lebens- und Denkweisen, zusammen zu schützen und zu entwickeln.
Verantwortungsträger vor Lebensentscheidungen
Nun spüren wir allerdings, dass viele unserer Zeitgenoss(inn)en ihr Leben nicht nur anders von Gott her verstehen, sondern gar nicht von Gott her verstehen. Sie verstehen sich vielmehr als nicht gläubig. Sie halten eine Weltdeutung aus dem Glauben mitunter für überholt. Wie gehen wir damit um? Ein junger Islam-Theologe aus Ankara hat mir vor Jahren erzählt, wie es ihm erging, als er - in München - seinen ersten leibhaftigen Atheisten traf. Er gestand mir, dass er sich gefragt hatte: Wie kann man so blind sein, nicht zu glauben? Das klingt vielleicht hochmütig, war aber vor allem ein Zeichen dafür, was diese Begegnung in ihm ausgelöst hatte: Er empfand sich herausgerissen aus der Selbstverständlichkeit des Glaubens. Das kann uns verunsichern. Die Begegnung mit Nicht-Gläubigen kann uns jedoch auch dankbar machen für das Geschenk, dass wir glauben können; so kann uns das Bewusstsein, dass es nun einmal auch Nicht-Gläubige gibt, bescheidener machen. Und wenn Gott uns in die Verantwortung ruft, heißt das: Wir müssen lernen, unseren Glauben und seine Handlungsfolgen zu erklären; anderen zu erklären - Menschen, die wirklich anders sind als wir, anders denken, anders leben, anders glauben, oder eben gar nicht glauben. Das ist die Welt, in der wir heute gläubig und glaubwürdig zu sein versuchen: die Welt der religiösen, weltanschaulichen Vielfalt.
Nun gibt es aber noch eine weitere Art von Verantwortung - neben der aufrüttelnden Frage Gottes und der lernbereiten Gestaltung der Welt miteinander. Gott ruft uns in die Verantwortung - das zeigt sich auch darin, dass viele von Ihnen Aufgaben haben, die folgenschwere Entscheidungen verlangen. Sie haben Einfluss auf das Leben vieler. Sie sind an Schaltstellen tätig. Sie "haben Verantwortung" in diesem Sinn. Deshalb sage ich nicht nur "Gott ruft uns zur Verantwortung", sondern "Gott ruft uns in die Verantwortung": Er hat uns an Orte gestellt, an denen es auf unsere Klugheit ankommt, an denen wir Entscheidendes ermöglichen können: Wo wir Gutes bewirken können, aber auch das, was sich dann als verkehrt herausstellt; wo wir erheblichen Schaden anrichten können. Das gehört zur Verantwortung.
Wo wir unsere Verantwortung spüren, fragen wir uns deshalb auch, ob wir richtig entscheiden. Als Gläubige in Verantwortung lautet die Frage: Wählen wir wirklich das, was Gott will? Sind wir, auch wo wir gar keine große Entscheidung anstehen sehen, seinem Willen treu? Und: Wie können wir das herausfinden? Hier helfen uns natürlich unsere jeweiligen heiligen Texte. Von der Ur-Kunde unseres Glaubens wollen wir uns mehr und mehr prägen lassen. Sie schenkt uns Orientierung. Jedoch gibt sie selten die unmittelbare Antwort für heute. Jede(r) von uns steht vor Weichenstellungen und fragt:Was ist der bessere Weg für mich und meine Gemeinschaft und für unsere Gesellschaft? Wieviel Anpassung ist notwendig, und wieviel Abgrenzung? Wer ist die richtige Person für diese oder jene Aufgabe? Welche Menschen übersehen wir gerade, welche Entwicklungen, welche Gefahren und welche Chancen? Dabei scheint es mitunter, dass andere sich ihrer Sache sicherer sind als wir selbst. Voller Überzeugung behaupten sie: "So muss es gemacht werden, das ist Gottes Wille!" Und dann stellt sich nicht selten heraus, dass sie falsch liegen. Nicht wer am lautesten daherkommt, nicht wer den Gotteswillen oder das Schriftwort klar verstanden zu haben behauptet, hat deshalb schon recht.
Ein Stil des Geistes
Was hilft zum verantwortlich Entscheiden? "Überlieferte Weisheit für den interreligiösen Dialog", dazu will ich heute sprechen; und das heißt: Wir sind uns in manchen Glaubensfragen nicht einig und wollen doch miteinander reden; um einander besser zu verstehen und um uns in Weltfragen auch zu verständigen. Wir müssen gut entscheiden, ohne uns in allem einigen zu können. Was uns auf dem Weg zur Entscheidung hilft, ist oft die "überlieferte Weisheit". Jede Gemeinschaft hat ihre eigene überlieferte Weisheit, lebt aus ihr, versteht sich aus ihr, entscheidet mit ihr. Für diese überlieferten Weisheiten haben die verschiedenen Religionen verschiedene Bezeichnungen. Christ(inn)en sprechen hierbei oft von der "geistlichen Tradition". Warum "geistlich"?
Die große Selbstsicherheit entlarvt sich, wie gesagt, leicht als nur scheinbare Treue zu Gott. Die wahre Treue ist für gewöhnlich weniger laut. Sie spricht auch nicht unsere erste schnelle Stimmung an - wie ein Volksverhetzer es versucht. Die wahre Treue zu Gott hat ihren eigenen "Stil": Sie braucht Zeit, Stille und Bescheidenheit. Wahre Treue beruft sich auch nicht auf die angebliche Sicherheit im Buchstaben, in der Wort-Wörtlichkeit einer Schrift. Sie kann viel schöpferischer sein; und sie ist rücksichtsvoll, denn sie muss die Welt nicht in zwei krass entgegengesetzte Bereiche einteilen: wir gegen die anderen, Offenbarung gegen Vernunft, göttlich gegen weltlich; denn wahre Treue kann versöhnen. Dieser "Stil" ist typisch für die Atmosphäre des heiligen Geistes. Schon die ersten Christen bezeichneten die wahre Treue zu Gott deshalb als "geistlich".3
Daher besinnen sich die verschiedenen Traditionen des Christentums vor allem, wenn eine Zeit uns verwirren will, auf das geistliche Verständnis, auf das geistliche Gespräch, auf das geistliche Leben. Das heißt gerade nicht, sich eigensinnig zurückziehen. Geistlich heißt vielmehr hörend leben und kreativ, offen für das, was Gott in dieser Welt wirken will, und bereit, sich darauf einzulassen, wie Gott in dieser Welt wirken will: nämlich durch den Geist.
Heute bezeichnen viele dieses geistliche Leben als "Spiritualität". Entsprechend sagen auch arabischsprachige Christ(inn)en ruhaniya. Muslime haben für eine ganz ähnliche Sache ein etwas anderes Wort. Sie sagen...
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