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Und wirklich - als Lily die Yorkshire Dales erreicht, herrscht dort bereits dichtes Schneegestöber, allerdings keines der idyllischen Art: Statt federleichter Flocken treiben schwere, weiße Klumpen gegen ihre Windschutzscheibe. Obwohl Lilys Scheibenwischer auf doppelter Geschwindigkeit laufen, hat sie das Gefühl, in einen wirbelnden Strudel hineinzufahren. Sie kann nicht sehen, was vor ihr liegt - und das betrifft nicht nur den Schneesturm.
Es ist erst halb drei, doch das Tageslicht schwindet bereits. Die engen, zugewucherten Straßen von Yorkshire tun ihr Übriges. Und dann sind da noch die Bäume, die hoch über Lily die Köpfe zusammenstecken und tuscheln, als würden sie etwas im Schilde führen.
Als Lily mit zwölf Jahren zum letzten Mal auf dieser Straße unterwegs war, fuhr das Auto in die andere Richtung. Damals dachte sie, dass sie sich für immer von Endgame House verabschiedet hatte. Hätte sie an Gespenster geglaubt, wäre es vielleicht anders gekommen, dann wäre sie womöglich bis in alle Zeit durch das Haus gestreift, um den Geist ihrer Mutter zu suchen. Aber Lily glaubt nicht an überirdische Erscheinungen.
Als sie um eine Kurve biegt, springt plötzlich ein Reh aus dem Gebüsch. Lily tritt die Bremse voll durch. Sie versucht, nicht von der Straße abzukommen. Die Zeit wird zäh wie Sirup. Am Autofenster rauschen Sträucher und Büsche vorbei. Irgendetwas kreischt, aber Lily könnte nicht sagen, was - sie selbst, die Reifen oder das Reh. Vielleicht wäre es einfacher, das Lenkrad loszulassen, die Augen zu schließen und das Ende hinzunehmen.
Nein.
Sie umklammert das Steuer mit beiden Händen und schafft es, den Wagen von den einladenden Armen eines Baumes wegzulenken. Sie trägt jetzt Verantwortung, und das bedeutet auch, dass sie nach Endgame House zurückkehren muss.
Als der Wagen endlich quietschend zum Stehen kommt, ist das Reh verschwunden. Bitte sei nicht tot, fleht Lily stumm. Sie steigt mit klopfendem Herzen aus und wirft einen Blick unter das Auto. Nichts. Auch an den Reifen sind keinerlei Spuren zu entdecken. Erleichtert atmet sie aus. Im nächsten Augenblick hört sie ein leises Schnauben aus dem Gebüsch. Das Reh steht unter den Bäumen am Straßenrand, und neben ihm - mit angelegten Ohren - ein Rehkitz.
Das größere Tier starrt Lily an, und sie erwidert den Blick. Schneeflocken sammeln sich auf ihren Köpfen. Dann blinzelt das Reh und stolziert davon. Das Kitz folgt ihm. Die Atemwolken der beiden sehen aus wie kleine Gespenster. Lily schaut ihnen hinterher, bis sie in der schützenden Sicherheit der Bäume verschwunden sind.
Als sie wieder einsteigt, fällt ihr Blick auf die Schneeflocken auf ihren Ärmeln. Im Dämmerlicht sehen sie aus wie winzige silberne Zahnrädchen. Sie verwandeln den schwarzen Stoff ihres Mantels in eine Art Steampunk-Kettenhemd. Vor Lilys innerem Auge entsteht das Bild eines Korsettkleids mit aufgesetzten metallischen Schneeflocken - wäre das etwas für ihre erste eigene Kollektion? Sie sieht sich inmitten einer Schar Models in Lily-Armitage-Designs auf einem Laufsteg stehen.
Hastig schiebt sie den Gedanken wieder beiseite. Sie hat gelernt, jegliche Ambitionen zu unterdrücken, beruflich und auch sonst. Stattdessen wird sie sich an die Nachbildungen historischer Kleider halten, mit denen sie sich einen Namen gemacht hat. Nur nicht auffallen. Nur nicht den Mund aufmachen. Immer im Schatten bleiben, vor allen Blicken verborgen.
Beim Weiterfahren hustet und röchelt der Motor, als sei ihm etwas im Hals stecken geblieben. Lily tätschelt das Lenkrad. »Wir schaffen das.« Hoffentlich bewirken diese Worte beim Auto mehr als bei ihr selbst. »Es ist nicht mehr weit.« Das dürfte sogar stimmen. Die Abstände zwischen den Dörfern - in denen es bis auf die obligatorischen Pubs nicht viel zu sehen gibt - werden größer. Warum stehen Herrenhäuser eigentlich immer im völligen Niemandsland? Wahrscheinlich, weil den dazugehörigen Lords früher die ganze Gegend gehörte und sie sich vom Pöbel fernhalten wollten, überlegt Lily. Sie stellt sich vor, wie die einstigen Besitzer von Endgame House oben auf dem Hügel vor der Eingangstür standen und den Blick über das Land und die Pächter zu ihren Füßen schweifen ließen - Arbeitsbienen, die auf Distanz gehalten wurden, damit die Königin sich nicht an ihrem Summen störte.
Lily bevorzugt London - oder auch jede andere Stadt, in der sie bisher gelebt hat. Dort ist es niemals still, es ist immer irgendetwas zu hören, und sei es nur das Martinshorn, das genauso regelmäßig ertönt wie die Glocken der Kapelle von Endgame House. Außerdem ist man nie allein, zumindest nicht so wie hier. In der Stadt kann Lily die bewusste Entscheidung treffen, sich tagelang mit einem Schnittmuster einzuschließen. Hier bestimmt der Schnee über ihr Kommen und Gehen. Früher hat sie den Winter in Endgame House geliebt. Sie ist durch das Labyrinth gelaufen, das in seinem weißen Kleid noch verwirrender war als sonst, und hat das lautlose Treiben der Flocken genossen. Jetzt schnürt ihr der Gedanke, mit ihren Verwandten zusammen dort eingesperrt zu sein, die Kehle zu.
Genau deshalb hat Lily die erste Einladung von Tante Liliana abgelehnt. Sie hat keinerlei Interesse an einem allerletzten Christmas Game, dessen Sieger das Anwesen bekommen soll.
Doch dann war Liliana vor einem Monat völlig unerwartet gestorben, und zwei Tage später traf ihr Brief bei Lily ein. Er veränderte alles. Plötzlich kamen in Lily Gefühle hoch, die sie eigentlich tief genug in sich begraben geglaubt hatte. Wie wenn man eine vertrocknete und vergessene Apfelsine aus dem Vorjahr in einem Weihnachtsstrumpf wiederfindet. Die Rückkehr an den Ort, an dem alles begonnen hatte, würde es nur noch schlimmer machen.
Selbst das Navi will sie nicht zum Haus leiten. Da es hier kaum Empfang gibt, hängt es sich immer wieder auf und weigert sich, die Anzeige zu aktualisieren. So kommt es, dass Lily das weinrote Schild mit der Aufschrift ENDGAME HOUSE HOTEL erst bemerkt, als sie schon daran vorbeifährt. Ihr Herzschlag beschleunigt sich. Sie wird das Haus heute zum ersten Mal als Hotel sehen. Als sie noch dort wohnte, hatte Onkel Edward es als Tagungszentrum betrieben, zusammen mit Tante Liliana und Lilys Mutter. Er hatte immer davon geträumt, das Herrenhaus in ein Luxushotel umzuwandeln, aber kurz nachdem er sich diesen Wunsch erfüllt hatte, starb er. Was kann man daraus lernen? Es ist besser, keine Träume zu haben - und man sollte sie erst recht nicht in die Tat umsetzen.
Es dauert fünf Minuten, bis Lily eine Wendemöglichkeit findet, und in der Zwischenzeit fragt sie sich pausenlos, ob sie nicht doch lieber zurück nach London fahren sollte. Wenn, dann jetzt - sie hat das Tor erreicht, hinter dem sich die Zufahrt zu Endgame House erstreckt. Als es sich öffnet, gleitet das bronzene Familienwappen in der Mitte auseinander. Du musst nicht bis zum Ende bleiben, versichert Lily sich auf dem Weg hindurch. Du kannst jederzeit wegfahren. Im Rückspiegel sieht sie, wie sich das Tor hinter ihr schließt.
Der Motor ächzt, und die Reifen drücken sich tief in den Schnee, als der Wagen sich die Anhöhe hinaufkämpft. Lily hat völlig vergessen, wie steil der Hang ist, aber sie ist ihn schließlich auch noch nie in einem fünfzehn Jahre alten Mini hochgefahren, dessen Federung jedes einzelne dieser Jahre anzumerken ist.
Der Wald rund um das Anwesen rückt immer näher, als wolle er durch das Autofenster zu ihr hereinkriechen. Unter diesen Bäumen hat Lily früher mit ihren Cousins Tom und Ronnie gespielt. Doch die Bilder, wie sie fröhlich gemeinsam in dem Bach plantschen, lösen sich in Luft auf, sobald die steile Zufahrt abflacht und in einen Kiesweg übergeht. Der Wald bleibt zurück, als traue er sich nicht näher an das Haus heran.
Lily fährt auf den runden Vorplatz. Das Knirschen des Schotters unter den Reifen weckt neue Erinnerungen in ihr - an eine Fahrt im Auto ihrer Mutter, auf dem Dach eine riesige Weihnachtstanne, an die Ankunft ihrer Cousins und Cousinen, die einen vergnügten Sommer verhieß, an den stummen Rettungswagen, der den Leichnam ihrer Mutter mitnahm.
Als Lily bremst, stößt der Mini einen erleichterten Seufzer aus. Sie selbst hingegen hält die Luft an, zieht die Schultern hoch und ballt die Hände zu Fäusten. Auch wenn sie es noch nicht schafft, den Blick auf das Haus zu richten, spürt sie dessen Anwesenheit bereits überdeutlich. Endgame House lauert am Rand ihres Sichtfelds, so wie im Grunde jeden Tag, seit sie es vor all den Jahren verlassen hat.
Lily muss ihre gesamten Kräfte zusammennehmen, um nicht direkt wieder umzudrehen. Stattdessen nimmt sie den Brief ihrer Tante aus der Tasche und liest ihn erneut.
Dann schließt sie die Augen und denkt an das letzte Treffen mit Liliana zurück. Sie hatten sich ein paar Wochen vor ihrem Tod in den Orchard Tea Rooms verabredet, in fußläufiger Entfernung zu Lilianas Haus, in dem sie seit ihrem Auszug aus Endgame House nach dem Tod von Lilys Mutter lebte. Damals hatte sie eine Stelle am Clare College, ihrer alten Universität, angenommen, Lily adoptiert und war mit ihr und ihren leiblichen Kindern Sara und Gray nach Grantchester gezogen. Bei ihrer letzten Begegnung hatten Lily und ihre Tante bei einem Mittagessen Lilianas Ruhestand feiern wollen. Das dachte Lily zumindest.
Liliana hatte ihren Scone mit so viel Butter, Marmelade, Sahne und Früchten beladen, dass er einem süßen XXL-Burger glich und auseinanderfiel, bevor sie davon abbeißen konnte. Das hatte sie so sehr zum Lachen gebracht, dass sie etwas Cider auf ihrem Tweedrock verschüttete. Sie wischte die Flüssigkeit einfach herunter und sagte: »Genau deshalb solltest du deine Korsetts aus Tweed...
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