1. Kapitel: Sonntag, 31. Januar 2021
Charlotte öffnete die Augen. Die verbliebenen Fahrgäste um sie herum waren aufgestanden, griffen nach ihren Taschen und Koffern und zogen Gesichter, die nichts Gutes verhießen.
Sie hatte Musik gehört und vor sich hingedöst und so die Durchsage des Zugführers verpasst. Dass der Zug schon eine Weile stand, hatte sie natürlich zur Kenntnis genommen. Doch da dies keine Seltenheit war, hatte sie sich zunächst noch keine Sorgen gemacht. Nun aber herrschte rege Betriebsamkeit unter den Fahrgästen, die an diesem späten Abend alle das gemeinsame Ziel Frankfurt hatten.
Unschlüssig sah Charlotte sich um. Doch ehe sie überlegt hatte, wen sie fragen könnte, wiederholte der Zugführer die Durchsage:
»Bedauerlicherweise haben unbekannte Täter die Schienen in diesem Streckenabschnitt so erheblich beschädigt, dass eine Weiterfahrt des Zuges nach Frankfurt nicht möglich ist. Bitte begeben Sie sich mit Ihrem Gepäck zu den jeweiligen Abteilausgängen. Unser Zugpersonal wird Sie entlang der Strecke sicher in den nächstgelegenen Ort Mornau begleiten, wo Sie Übernachtungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen können. Wir bitten Sie, diese unvorhergesehene Unannehmlichkeit zu entschuldigen.«
»Das ist doch ein blöder Witz!« Charlotte hatte diese Worte laut gesagt, doch das machte nichts, denn es gab niemanden in diesem Zug, der in diesem Moment nicht völlig genervt und wütend war. Man wusste ja, dass Bahnfahren ein unkalkulierbares Abenteuer war, doch diesmal ging es nicht nur um Verspätungen und das Verpassen von Anschlusszügen. Es ging darum, dass sie im tiefsten Winter mit Gepäck zwischen Schienen entlangstolpern sollten, um in einen Ort zu gelangen, von dem Charlotte noch nie etwas gehört hatte.
Sie sah auf ihre Schuhe und fluchte leise vor sich hin. Ihre Sneakers waren zwar angemessen für eine Bahnfahrt und ihren anschließenden Weg durch die betonierte Großstadt, aber sicher nicht dafür gemacht, um bei Minusgraden und einsetzendem Schneefall zwischen Schienen herumzuwandern. Hinzu kam, dass ihr Koffer riesig, klobig und schwer war, denn sie hatte bei ihrer überstürzten Abreise hineingestopft, was eben ging.
»Verdammter Mist«, sagte sie noch einmal laut, während sie ihren Koffer durch den schmalen Gang zog.
Falsche Schuhe, falscher Koffer, falsches Leben.
Genau so fühlte sich Charlotte in diesem Moment. Während sie darauf wartete, dass die Fahrgäste vor ihr ausstiegen, fuhr sie in ihre Jackentasche und suchte ihre Handschuhe. Sie erfühlte Handy und Geldbeutel - sonst nichts.
»O bitte nicht auch das noch«, murmelte sie leise.
Die Dame vor ihr wandte sich zu ihr um und verzog genervt das Gesicht.
»Zum Heulen, oder?«, fragte sie.
»Mir wäre eher nach Schreien«, antwortete Charlotte. »Sie wissen nicht zufällig, wie weit dieses Mornau von hier aus ist?«
»Bei der ersten Durchsage hieß es, etwa fünfzehn Minuten.«
Charlotte seufzte. Dann stieg sie aus und lief dem Tross aus etwa zwanzig Menschen hinterher, der sich langsam entlang der Schienen in Bewegung setzte.
Innerhalb kürzester Zeit waren ihre Finger eiskalt und rot gefroren, ebenso ihre Nase und ihre Wangen. Gleichzeitig begann sie, in ihrer Winterjacke zu schwitzen, denn ihr Koffer wog sicher seine zwanzig Kilo, und da sie ihn nicht über Steine und nassen Boden rollen konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn zu schleppen.
Mit jedem Schritt wurde Charlotte wütender. Warum war sie so überstürzt aufgebrochen? Es hätte völlig gereicht, Adrian am nächsten Morgen zu verlassen. Aber wie so oft, wenn sie gestritten hatten, hatte er sie mit seiner Selbstgefälligkeit provoziert.
»Wo willst du denn so schnell hin?«, hatte er gefragt und spöttisch seine linke Augenbraue in die Höhe gezogen. »Bis morgen hast du dich wieder beruhigt und das, was du heute so überdramatisierst, ist nur noch halb so wild.«
»Ich überdramatisiere?«, hatte Charlotte gefragt und nur fassungslos den Kopf geschüttelt. »Das ist alles, was du zu deinem Doppelleben zu sagen hast?«
Charlotte blieb stehen und pustete warme Atemluft in ihre eisig gefrorenen Hände. Sie zog ihren Schal über Mund und Nase, damit die kalte Luft nicht so sehr in den Lungen brannte, wechselte die Hand, mit der sie den schweren Koffer trug, und lief weiter.
Immer wieder gingen ihre Gedanken zurück zu ihrem letzten Gespräch mit Adrian. Fünf lange Jahre hatte er sie zum Narren gehalten. Wie hatte sie das nur zulassen können? Sie hatte doch immer gespürt, dass irgendetwas an ihm nicht stimmte!
Der schrille Ton ihres Handys ließ sie zusammenzucken. Ihre Finger waren inzwischen so kalt gefroren, dass sie Mühe hatte, es zu entsperren, um den Anruf entgegenzunehmen.
»Ja?«, fragte sie unfreundlich.
»Na du hast ja eine Laune.«
»Hallo, Mama. Warte bitte kurz, ich muss auf Kopfhörer umstellen, damit ich die Hände frei hab.« Charlotte schob ihre Earpods in die Ohren und das Handy anschließend zurück in die Jackentasche. »So, jetzt. Was gibt es?«
»Das frage ich dich. Du klingst so abgehetzt. Was ist denn los?«
»Frag nicht. Ich latsche durch die Pampa mit gefühlten tausend Kilo Gepäck, hab inzwischen nasse Füße, und meine Fingerkuppen sind taub vor Kälte. Ich wollte für ein paar Tage nach München zu Franziska. Muss meinen Kopf frei kriegen.«
»Ich verstehe kein Wort, Liebes.«
Wie auch, dachte Charlotte. Sie hatte ihrer Mutter noch gar nicht erzählt, was passiert war. Nachdem sie hinter Adrians Doppelleben gekommen war, hatte sie Hals über Kopf zu packen begonnen, währenddessen mit dem Handy ein Ticket für den Zug gekauft und war im wahrsten Sinne des Wortes geflüchtet.
»Bist du noch dran?«
»Ja. Mach dir keine Sorgen, Mama. Ich melde mich, sobald ich irgendwo im Hotel untergekommen bin. Auf die Schnelle: Ich war mit dem Zug unterwegs, und der kann wegen Schäden am Gleis nicht weiterfahren. Wir werden nun in den nächsten Ort gebracht, es ist arschkalt und mein Koffer scheißschwer. Ich melde mich, in Ordnung?«
Sie legte auf, ohne auf eine Antwort zu warten. Ihre Mutter Henriette hatte Adrian von Anfang an nicht leiden können. Die Beichte, dass sie richtig gelegen hatte mit ihrem Gespür, würde Charlotte wohl noch eine ganze Weile vor sich herschieben.
Nach über fünfzig Minuten erreichten sie endlich einen spärlich beleuchteten kleinen Bahnhof. Ein nostalgisches Schild verriet, dass es sich um Mornau handelte.
»Von wegen fünfzehn Minuten«, fauchte die Dame, die im Zug vor Charlotte gestanden hatte.
»Die wollten uns wohl nicht mit der Wahrheit quälen«, gab Charlotte schnaufend zurück. »Bleibt nur zu hoffen, dass dieses winzige Kaff genug Hotelbetten hat.«
Sie sah sich noch einmal um und zählte. Es waren wirklich nicht mehr als die anfangs geschätzten zwanzig Fahrgäste, die nun eine Übernachtungsmöglichkeit suchten. Das sollte selbst für einen kleinen Ort wie dieses Mornau verkraftbar sein.
»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten, Herrschaften?«, hörte sie den Zugführer rufen, nachdem sich alle auf dem Bahnsteig versammelt hatten. »Es gibt hier ein gehobenes, sehr gutes Hotel, das wir informiert haben. Für Reisende mit kleinerem Geldbeutel empfehlen wir das Bahnhofshostel.«
»Warum sollte Geld eine Rolle spielen?«, rief ein älterer Herr. »Die Bahn übernimmt ja wohl die Übernachtungskosten?«
»Das kann ich Ihnen leider nicht zusichern«, gab der Zugführer zerknirscht zurück. »Da es sich um einen Akt von Vandalismus handelt, wird man wohl zunächst versuchen, die Täter zu fassen und diesen dann die Kosten aufzuerlegen. Bis das geklärt ist ...«
»Ist Sankt Nimmerlein, ich verstehe«, beendete der Herr polternd den Satz.
Während ein Großteil der Reisenden dem Zugführer Richtung Hotel folgte, entschied sich Charlotte für die Kleiner-Geldbeutel-Variante.
Erschöpft öffnete sie die Tür zum Hostel und betrat eine freundlich eingerichtete Lobby. Überall an den Wänden hingen selbst gezeichnete Bilder, die Menschen bei der Arbeit zeigten. Da wurden Fliesen gelegt, das Dach gedeckt oder Holzlatten für eine Terrasse zugeschnitten.
»Willkommen in Ellis Hostel.«
Charlotte drehte sich um und sah in das herzlich lachende Gesicht einer Frau, die nur wenig älter war als sie selbst.
»Ich bin Elli.«
»Charlotte Wegner. Ich brauche ...«
»Ich weiß schon«, unterbrach Elli. »Ich will mir gar nicht vorstellen, wie deine Anreise hierher gelaufen ist, deswegen frage ich nicht weiter, sondern bringe dich direkt auf dein Zimmer. Es ist nicht viel los im Moment, der Trubel der Feiertage ist ja vorüber. Ich habe dir das Zimmer mit Badewanne hergerichtet. Du bist sicher völlig durchgefroren. Es ist doch in Ordnung, wenn ich Du sage?«
»Aber klar.«
»Das sind alles...