Schweitzer Fachinformationen
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20. Oktober 1896
nachmittags
Zürich
Ich betrat das Vestibül der Pension Engelbrecht, schloss leise die Tür hinter mir und reichte dem wartenden Dienstmädchen meinen nassen Regenschirm. Vom hinteren Salon war Gelächter zu hören. Ich wusste, die anderen Mädchen warteten dort mit vielen gut gemeinten Fragen auf mich, aber mir war jetzt einfach nicht danach zumute. Ich musste erst eine Weile für mich allein sein und über den Tag nachdenken, und wenn es nur für ein paar Minuten war. Ich schickte mich an, die Treppe hinaufzuschleichen.
Knarz. Verdammt. Diese eine lose Holzdiele.
Helene tauchte unter dem Rascheln ihrer kohlengrauen Röcke und mit einer dampfenden Tasse Tee in der Hand aus dem hinteren Salon auf. »Mileva! Wir warten auf Sie! Haben Sie das etwa vergessen?« Sie nahm mich bei der Hand und zog mich mit sich zum hinteren Salon, den wir unter uns inzwischen das Spielzimmer nannten. Wir fanden, wir konnten dem Raum gut einen anderen Namen geben, da wir die Einzigen waren, die ihn nutzten.
Ich lachte. Wie hätte ich die letzten Monate in Zürich bloß ohne die anderen Mädchen überstanden? Milana, Ruzica und vor allem Helene, die mit ihrer Schlagfertigkeit, ihrer gütigen Art und seltsamerweise einem ganz ähnlichen Hinken wie eine Seelenverwandte für mich war. Warum hatte ich sie nicht vom ersten Tag an in mein Leben gelassen?
Als mein Vater und ich einige Monate zuvor nach Zürich gekommen waren, hatte ich mir solche Freundschaften überhaupt nicht vorstellen können. Ich war es aus meiner gesamten Schulzeit gewohnt gewesen, mit meinen Mitschülern nicht gut auszukommen - im besten Fall gingen sie einfach nur auf Abstand, im schlimmsten verspotteten sie mich -, und hatte mich ganz auf ein der Wissenschaft geweihtes, einsames Leben eingestellt. Doch es kam anders.
Papa und ich waren ein bisschen wacklig auf den Beinen, als wir nach zweitägigem Durchrütteln ab Zagreb in Zürich aus dem Zug stiegen. Der Rauch der Lok breitete sich in großen Wolken im Hauptbahnhof aus, ich musste auf dem Weg über den Bahnsteig die Augen zusammenkneifen. In jeder Hand eine Tasche, die eine ziemlich schwer von meinen Lieblingsbüchern, bahnte ich mir leicht schwankend einen Weg durch die Menschenmenge, dicht gefolgt von meinem Vater und einem Träger, der sich unserer größeren Gepäckstücke angenommen hatte. Papa eilte an meine Seite und wollte mir eine der Taschen abnehmen.
»Papa. Ich schaff' das schon«, sagte ich und versuchte, ihm meine Hand zu entwinden. »Du hast deine eigenen Taschen und auch nur zwei Hände.«
»Bitte, Mitza, lass mich dir helfen. Mir fällt es leichter, noch eine Tasche zu tragen, als dir. Ganz zu schweigen davon, dass deine Mutter entsetzt wäre, wenn sie wüsste, dass ich dich überhaupt etwas von unserem Gepäck quer durch den Züricher Hauptbahnhof schleppen lasse.«
Ich setzte die eine Tasche ab und versuchte noch immer, ihm meine Hand zu entwinden. »Papa. Ich muss das hier alleine können. Schließlich werde ich ja auch allein hier leben.«
Er betrachtete mich lange, als würde ihm erst jetzt richtig aufgehen, dass ich ohne ihn in Zürich bleiben würde, als hätten wir nicht gemeinsam auf genau dieses Ziel hingearbeitet, seit ich ein kleines Mädchen gewesen war. Finger für Finger ließ er meine Hand los. Mir war klar, wie schwer das für ihn sein musste. Zwar wusste ich, wie ihn mein Streben nach einer höheren Ausbildung freute, und dass ihn mein Weg an seinen eigenen hart erkämpften Aufstieg vom Bauernsohn bis zum höheren Beamten am Obersten Gerichtshof in Zagreb und Gutsbesitzer erinnerte, aber manchmal fragte ich mich, ob ihn nicht auch ein schlechtes Gewissen plagte, weil er mich auf dieser schweren Reise ständig antrieb. Er hatte jetzt so lange immer nur die Kosten für mein Studium im Blick gehabt und darüber vermutlich ganz vergessen, sich auszumalen, wie es wohl sein würde, sich von mir zu verabschieden und mich allein in der Fremde zurückzulassen.
Wir verließen den Bahnhof und gelangten auf die belebten Straßen Zürichs. Die Nacht brach gerade an, doch dunkel war es nicht. Ich begegnete dem Blick meines Vaters, staunend lächelten wir uns an. Wo wir herkamen, wurden die Straßen mit schummrigen Öllaternen beleuchtet. In Zürich gab es elektrische Straßenlaternen, die für uns ungewohnt hell leuchteten. In ihrem Licht konnte ich sogar einige Details an den Kleidern der vorbeigehenden Damen ausmachen: Ihre Tournüren waren viel raffinierter als alles, was ich in Zagreb gesehen hatte, wo die Mode deutlich dezenter war.
Mein Vater winkte eine Droschke heran, die sich mit lautem Hufgetrappel auf dem Kopfsteinpflaster der Bahnhofstraße näherte. Während der Fahrer vom Bock sprang und unser Gepäck hinten auf den Wagen lud, wickelte ich meinen Schal etwas enger um mich. Mit Tränen in den Augen hatte meine Mutter mir dieses mit Rosen bestickte Umschlagtuch am Vorabend meiner Abreise geschenkt. Erst später begriff ich, dass dieser Schal so etwas war wie ihre nicht nachlassende Umarmung zum Abschied - etwas, das ich bei mir haben konnte, während sie mit meiner kleinen Schwester Zorka und meinem kleinen Bruder Milos in Zagreb zurückblieb.
Der Fahrer unterbrach meine Gedanken. »Sind Sie hier, um sich die Stadt anzusehen?«
»Nein«, antwortete mein Vater für mich. Er sprach fast akzentfrei Deutsch und war schon immer stolz gewesen, die Sprache der Machthaber in Österreich-Ungarn praktisch fehlerfrei zu beherrschen.
Das sei der erste Schritt zu seinem sozialen Aufstieg gewesen, hatte er stets gepredigt, wenn er uns mit dem Erlernen dieser Sprache triezte.
Papas Brust schwoll ein wenig an, als er erklärte: »Wir sind hier, um meine Tochter an der Hochschule einzuschreiben.«
Die Augenbrauen des Fahrers wanderten überrascht nach oben, seine Meinung dazu behielt er aber für sich. »Universität, ja? Dann vermute ich, dass Sie zur Pension Engelbrecht oder einer der anderen Pensionen in der Plattenstraße möchten«, sagte er und hielt uns die Wagentür auf.
Mein Vater wartete, bis ich in der Droschke Platz genommen hatte, dann fragte er: »Woher wissen Sie, wohin wir wollen?«
»Da bringe ich ganz viele osteuropäische Studenten hin.«
Mein Vater grunzte leise, als er sich neben mich setzte. Er wusste nicht, wie er die Anmerkung des Fahrers interpretieren sollte. Hatte er damit das osteuropäische Erbe verunglimpfen wollen? Man hatte uns gesagt, die Schweizer sähen auf die Menschen aus den östlichen Gebieten der österreichisch-ungarischen Monarchie herab, obwohl sie so vehement an ihrer Unabhängigkeit und Neutralität inmitten der um sie herumwachsenden europäischen Reiche festhielten. Trotzdem waren die Schweizer in anderer Hinsicht sehr tolerant, zum Beispiel was die Zulassung von Frauen an Universitäten betraf. Für mich war das verwirrend widersprüchlich.
Der Fahrer ließ die Peitsche schnalzen, und schon rumpelte die Kutsche mit regelmäßigem Hufgeklapper los. Ich versuchte, durch die schlammbespritzten Fenster etwas von Zürichs Straßen zu erkennen, und sah eine elektrisch betriebene Trambahn die Droschke überholen.
»Hast du das gesehen, Papa?«, fragte ich. Ich hatte über Straßenbahnen gelesen, aber noch nie eine gesehen. Ihr Anblick beschwingte mich, sie war mir ein handfester Beweis für die Fortschrittlichkeit dieser Stadt - zumindest, was den Verkehr anging. Ich konnte nur hoffen, dass die Gerüchte stimmten und ihre Einwohner weiblichen Studenten gegenüber ebenfalls aufgeschlossen waren.
»Gesehen nicht, aber gehört. Und gespürt«, entgegnete mein Vater ruhig und drückte dabei meine Hand. Ich war mir sicher, dass er ähnlich aufgeregt war wie ich, aber den Mann von Welt geben wollte. Vor allem nach der Bemerkung des Fahrers.
Ich wandte mich wieder dem Fenster zu. Hohe grüne Berge umgaben die Stadt, und ich hätte schwören können, Immergrün gerochen zu haben. Dabei waren die Berge doch sicher viel zu weit entfernt, als dass der Duft ihrer Wälder bis in die Stadt wahrzunehmen war.
Wo auch immer diese Frische herkam, die Luft in Zürich war viel besser als die in Zagreb, wo es stets nach Pferdedung und abgebrannten Feldern stank. Vielleicht wurde die frische Luft ja vom Zürichsee südlich der Stadt hergeweht.
In einiger Entfernung, am Fuß der Berge gelegen, erkannte ich vor dem Hintergrund zweier Kirchtürme ein paar hellgelbe, im neoklassizistischen Stil errichtete Gebäude. Sie ähnelten den Zeichnungen des Polytechnikums, die sich in meinen Bewerbungsunterlagen befunden hatten, aufs Erstaunlichste, waren aber viel größer und imposanter, als ich sie mir vorgestellt hatte. Das Polytechnikum war eine der neuen Hochschulen, die Lehrkräfte innerhalb diverser mathematischer und naturwissenschaftlicher Disziplinen hervorbringen sollten, und es war eine der wenigen Hochschulen in Europa, die auch Frauen zum Studium zuließen. Obgleich ich in den letzten Jahren kaum von etwas anderem geträumt hatte, fiel es mir nun schwer zu begreifen, dass ich in wenigen Monaten tatsächlich dort ein- und ausgehen würde.
Mit einem Ruck kam die Droschke zum Stehen. Die vordere Klappe öffnete sich, und der Fahrer verkündete: »Plattenstraße 50.« Mein Vater reichte ihm ein paar Franken, dann schwang der Schlag auf.
Während der Fahrer unser Gepäck ablud, eilte ein Bediensteter der Pension Engelbrecht die Treppe vor dem Haus herunter, um uns mit unserem Handgepäck zu...
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