Schweitzer Fachinformationen
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Als ich an jenem windigen Oktoberabend im Jahre 1931 den Brief meines alten Schulfreundes Giles Boneham erhielt, ging meine anfängliche Freude schnell in Sorge über. Wir hatten seit mehr als einem Jahr keinen Kontakt mehr gehalten. Daher rief seine ungewöhnlich kurze Einladung in einer kaum leserlichen Handschrift noch größere Beunruhigung hervor, als allein die flehentlich, mit zittriger Hand gekritzelten Worte es normalerweise getan hätten. So kam ich nicht umhin, aus Sorge um ihn seiner dringlichen Bitte, ihn so bald als möglich zu besuchen, noch am selben Tag nachzukommen.
Dank meines überstürzten Aufbruchs erreichte ich den letzten Zug Richtung Dunwich. Obschon ich erst zu später Stunde mit einer Droschke im dortigen Vorort ankam, suchte ich mir kein Zimmer für die Nacht. Der beschwörende Ton seiner kurzen Zeilen ging mir nach wie vor nicht aus dem Sinn und trieb mich auf direktem Wege auf Giles' Schwelle.
Als ich den schweren Klopfer ergriff, musste ich voller Überraschung feststellen, dass die Tür nicht richtig ins Schloss gezogen war und sich bei der ersten Bewegung bereits einen Spalt weit öffnete. Einer unheilvollen Ahnung folgend betrat ich das zweistöckige Haus, das sich in den Schatten der beiden Nachbarhäuser duckte, als wollte es übersehen werden.
Der Flur lag in tiefster Finsternis. Im hereinfallenden schwachen Licht der nächtlichen Stadt erkannte ich nur schemenhaft die Möbel, deren Position sich seit meinem letzten Besuch offenbar nicht verändert hatte. Doch nirgendwo machte ich eine Lampe aus, mit der ich meinen Weg und vielleicht auch meine Stimmung hätte aufhellen können.
So ging ich vorsichtig durch den Flur und ließ mich mehr von meinen Erinnerungen als von den kaum erkennbaren Umrissen leiten.
Schließlich gewahrte ich einen schwachen rötlichen Lichtschein unter einer Tür. Als ich näher trat, vernahm ich auch leise das Knistern eines Feuers. Abgesehen davon blieb es im Haus so still wie auf einem Friedhof bei Nacht.
Aus irgendeinem Grund musste ich mich dazu überwinden zu klopfen und dem mit brüchiger Stimme gekrächzten »Herein, mein Freund« Folge zu leisten. Es klang, als spräche Giles aus der tiefsten Gruft zu mir.
Wie nahe dieser Gedanke doch der Wahrheit kam! Als ich ihn sah, blieb mir vor Schreck beinahe das Herz stehen.
Er war alt geworden! Sein einst so athletischer Körper war ausgemergelt, die Haut fahl und die Wangen so eingefallen, dass ich bereits die Form der Knochen darunter erkennen konnte. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und die Lider hingen müde herunter, sodass er mich lediglich zwischen den Wimpern hervor ansah. Seinen Schädel bedeckte kurzes, schlohweißes Haar und auch die Brust unter dem verschlissenen Morgenmantel zierten nur noch weiße Haare. Er schenkte mir ein erschöpftes, zahnloses und gequältes Lächeln.
»Du bist gekommen«, begrüßte er mich mit der Glückseligkeit eines Sterbenden, der ein letztes Mal seine Liebsten sah. Seine Stimme war kaum mehr als ein schwaches Flüstern. »Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.«
»Um Himmels Willen, Giles!«, entfuhr es mir voller Entsetzen. »Du siehst schrecklich aus!«
Während ich mich Halt suchend an einem Sessel festkrallte, brachte er ein trockenes Lachen zustande und winkte müde ab.
»Und das ist nichts im Vergleich zu dem, wie es mir innerlich geht. Ich habe gebetet, du würdest nicht kommen, Nicholas.«
Seine Worte verwirrten mich so sehr, dass der Schrecken infolgedessen abflaute. Langsam trat ich näher an ihn heran.
»Wie hätte ich deinem Flehen denn nicht nachkommen können?«
»Bitte verzeih mir, alter Freund, dass ich dir dies hier zumute.«
Vorsichtig ließ ich mich vor ihm in die Hocke sinken. Er hatte sich in seinem Ohrensessel zurückgelehnt und stierte mich entkräftet unter seinen Lidern hervor an. Für einen Moment konnte ich einen Blick in seine trüben Augen werfen: Darin standen neben Müdigkeit auch Angst und der blanke Wahnsinn geschrieben.
»Was ist nur mit dir geschehen?«, fragte ich leise.
»Ich wünschte, du hättest mich das nicht gefragt«, seufzte er und schloss die Augen.
Dessen ungeachtet begann er nach wenigen Augenblicken zu erzählen. Und was ich hörte, ließ mir die Haare zu Berge stehen.
Vor etwas mehr als einem halben Jahr vermittelte ein guter Freund Giles an einen Kunstsammler, der in Boston außergewöhnliche Werke erstanden hatte, welche er nun weiterverkaufen wollte. Da Giles das Ungewöhnliche und Bizarre sammelte, suchte er ihn noch am nächsten Tag auf. Zu seinem Schrecken fand er dort einen Mann, der mit einem Bein im Grabe stand.
Dieser Mann war nur noch das Zerrbild eines Menschen, von Schwindsucht zerfressen und der Geist bereits trübe. Giles vermutete, dass er gerade deswegen die Bilder verkaufen wollte: Um mit dem Geld seine Behandlung zu finanzieren. Oder vielleicht, um seinen Nachlass zu regeln.
Die Bilder jedenfalls standen ihrem Ruf in nichts nach. Es handelte sich um groteske Horrorszenarien: von Pflanzen, die sich von Menschen ernährten; von seltsam gestaltlosen Kreaturen, die im Untergrund auf ahnungslose Opfer lauerten; von Horrorgestalten, die sich hinter dem Vorhang des Sichtbaren versteckten; und vieles mehr. Abstrakte Schreckensbilder in düsteren Farben gemalt. Giles beschrieb es als eine detaillierte Darstellung der tiefsten Höllen: faszinierend und abschreckend gleichermaßen.
Die Bilder hatte der, inzwischen verstorbene, Besitzer von einem Künstler namens Pickman erworben, der noch weitere, viel verstörendere Bilder gemalt hatte. Noch im gleichen Atemzug mahnte der Verkäufer Giles, dass die Gemälde trotz aller grauenhaften Details nicht annähernd an die Realität heranreichten. Auf Nachfrage erzählte er Giles eine Geschichte, die zu abstrus klang, um wahr zu sein. Doch Giles sollte nicht lange über den Bericht schmunzeln können, denn ihm stand das gleiche bevor.
Noch am selben Abend hörte Giles das erste Mal dieses eigentümliche Geräusch, das am ehesten einem Scharren ähnelte. Zu leise, um es einem Tier zuzuordnen, erklang es fortan jeden Abend; es hörte sich nicht wie von Nagern oder Insekten stammend an, sondern vielmehr - so sonderbar dies auch klang - wie man sich das Wachsen von Wurzeln vorstellen mochte!
Obschon Giles mir bei der Heiligen Jungfrau Maria schwor, dass er mir die reine Wahrheit erzählte, so hielt ich diese Worte bereits für ein Ergebnis seiner gepeinigten Seele; Wahnvorstellungen oder Missinterpretationen, ausgelöst von seiner fortgeschrittenen Schwindsucht. Allerdings sollte seine Erzählung noch weitaus phantastischer werden.
In den folgenden Tagen erschöpfte er zusehends. Er fand keine Erholung mehr im Schlaf. Im Gegenteil schien die Nachtruhe seinen Zustand nur zu verschlimmern. Sein Arzt, unfähig die zunehmende Ermattung erklären, gab ihm lediglich Stärkungstinkturen, die anfangs zwar wirkten, doch die Schwäche nur vorübergehend zurückdrängten.
Eines Morgens bemerkte Giles beim Erwachen ein feines, weißes Gespinst, welches gleich einem alten Spinnennetz seine Füße bedeckte. Er kratzte es sich von der Haut und, da er keine plausible Erklärung dafür finden konnte, schob alle Gedanken daran weit von sich. Doch schon am nächsten Morgen fand er sich abermals mit dem selben Phänomen konfrontiert.
Fortan musste er sich jeden Morgen von diesem weißen Etwas, das, kurz nachdem er es von seiner Haut löste, zu Staub zerfiel, befreien. Und es breitete sich in jeder Nacht weiter aus: über seine Knöchel wanderte es langsam die Waden hinauf. Nach zwei Wochen betraf es selbst seine Hände und Arme.
Mit jedem Tag wurde es schmerzhafter, sich davon zu befreien. Als sei es in die Haut gewachsen, blutete er, wo er es herausriss.
Irgendwann blieb ihm keine andere Wahl, als es abzuschneiden. Reste blieben in seiner Haut zurück und breiteten sich spürbar, feinen Wurzeln gleich, darunter aus.
Giles traute sich nicht, dies bei seinem Arzt anzusprechen. Zu groß war die Sorge, dass er an Wahnvorstellungen litt. Also versuchte er alles Erdenkliche: Ignorieren, abschrubben, mit einer Pinzette herausziehen; selbst mit Feuer rückte er dem seltsamen Bewuchs zu Leibe. Nichts verschaffte ihm dauerhaft Linderung.
Ganz im Gegenteil. Erwiesen sich seine Bemühungen beim Entfernen als besonders erfolgreich, war er am nächsten Morgen erheblich matter als sonst.
Tagelang versuchte er sich mit aller Macht wach zu halten, vermied den Schlaf, allerdings übermannte ihn stets irgendwann die Erschöpfung.
Er wechselte das Schlafzimmer, mietete sich in verschiedenen Gasthäusern ein. Vergeblich. Schließlich entschied er sich, sein Heil in der Flucht aus der Stadt zu suchen.
Kaum hatte er den Entschluss gefasst, streckte ihn sein Schicksal nieder: Er wollte gerade das Haus verlassen, da verweigerten seine Glieder ihm den Dienst. Vielmehr ertappte er sich dabei, dass er wider seinen eigenen Willen in die Stube zurückkehrte.
Er sollte niemals mehr die volle Kontrolle über...
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