Schweitzer Fachinformationen
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Das Bett war weich, nicht zu weich, eben gerade richtig und nicht wie die mit Stroh gefüllte Matratze, auf der er die letzten zwei Jahre geschlafen hatte. Deren trockenes Knistern und das Pieksen der Halme, die sich von Zeit zu Zeit durch den kratzigen Stoff bohrten, hatten ihn oft genug geweckt. Und diese Decke . Seidig und sanft umschloss sie seinen Körper mit einer angenehmen Kühle.
Ein Windstoß wirbelte durch seine Haare, schwüle Luft, die nach Benzin roch. Hatte er das Fenster nicht geschlossen? Er wollte seinen Kopf drehen, um sich zu vergewissern, es ging nicht, irgendetwas hielt ihn fest. Wieder ein Windstoß und mit ihm das Heulen eines Motors, ein Willys Jeep, ganz eindeutig. Amerikanische Soldaten? Warum konnte er seinen Kopf nicht drehen?
Fred versuchte sich aufzurichten. Die seidige Decke drückte jetzt schwer in seinen Magen. Etwas fiel polternd zu Boden. Er schreckte hoch und riss die Augen auf.
Über ihm Haltestangen, helle Leuchtstofflampen und unter ihm kein gemütliches Bett, sondern die harte, hölzerne Sitzbank einer S-Bahn. Keine Fahrgeräusche, der Zug stand, durch das geöffnete Klappfenster wehten Böen von warmem Sommerwind herein. Ihm gegenüber saßen zwei junge Frauen, die ihre Köpfe zusammensteckten und flüsterten und lachten. Zumindest eine der beiden, die andere kicherte nur auf merkwürdige Art, als gäbe es da einen Schalter, Kichern an, Kichern aus. Wie alt sie wohl waren? Jünger als er, da war sich Fred sicher. Eine, die den Ton angab, und eine, die gefallen wollte.
Mit Mühe zog er sich hoch, sein linkes Bein war eingeschlafen, er hatte es auf einen riesigen braunen Stoffsack gelegt, der die Hälfte des Raums zwischen den Sitzbänken einnahm. Daneben auf dem Boden lag sein Koffer mit all seinen Habseligkeiten. Ja, er erinnerte sich, er hatte ihn mit beiden Händen auf dem Bauch festgehalten, damit ihn niemand klaute. Das Wirtschaftswunder der letzten Jahre hatte nicht alle Berliner beglückt, im Gegenteil, die Zahl derer, die nicht davon profitierten, war gestiegen, und es wurde wieder fast so viel geklaut wie unmittelbar nach dem Krieg.
Draußen auf einem emaillierten Schild las er »Bahnhof Botanischer Garten«. Daneben hing eine Uhr, deren Minutenzeiger in dem Moment mit einem zittrigen Ruck einen Strich weiterwanderte. 2 Uhr 17. Auf dem Bahnsteig standen Soldaten mit weißen Helmen, auf denen zwei große schwarze Buchstaben prangten: MP, amerikanische Militärpolizei, ihre Maschinenpistolen schussbereit. Weiter hinten stiegen zwei MPs in den Waggon. Einer begann, die Fahrgäste zu kontrollieren, während der andere mit den Händen an der Waffe aufpasste. Wahrscheinlich waren sie auf der Suche nach einem der vielen Spione, die ständig von Ost-Berlin herübergeschickt wurden, vom KGB, von der Stasi. Wortfetzen wehten herüber. Fred lauschte der sonoren, selbstbewussten Männerstimme mit diesem amerikanischen Akzent, den alle versuchten zu imitieren, zumindest alle, die auf Rock'n'Roll standen.
Trotz der frühen Morgenstunde war die Bahn gut besetzt, mit ein paar erschöpften Männern in grober Arbeitskleidung, die von ihren Spätschichten nach Hause fuhren, vor allem aber mit gut gelaunten Menschen, die die Nacht feiernd verbracht hatten und immer noch nicht müde waren.
Typisch Berlin-West. Inzwischen hatte der freudlose Mief des von den Sowjets verordneten Sozialismus alle Bereiche des Lebens in Ost-Berlin im Würgegriff. Ost-Berliner, die mal richtig Spaß haben wollten, fuhren rüber in den Westen, in die Tanzcafés, die Theater, die Kabaretts auf dem Ku'damm oder in eines der zahlreichen Kinos. Allerdings mussten sie bei der Rückfahrt höllisch aufpassen, nichts bei sich zu tragen, was belegte, wo sie ihren Spaß gehabt hatten. Entdeckte ein Volkspolizist bei einer Personenkontrolle eine Kinokarte oder eine Café-Rechnung aus dem Westen, wurde es unangenehm. »Devisenvergehen«, hieß es dann, »Aus- und Einfuhr von DDR-Mark sind unter Strafe verboten.« Wer nur stundenlang verhört und anschließend verwarnt wurde, hatte Glück. Allen saß noch die Angst in den Knochen, ihnen könnte es wie Joachim Wiebach ergehen, der vor drei Jahren wegen ein paar Eintrittskarten für die RIAS-Quiz-Show »Wer fragt, gewinnt« auf Weisung von Walter Ulbricht zum Tode verurteilt worden war mit der absurden konstruierten Anklage »Anwerbung von Spionen«.
»Hey, Girls, ich bin Sergeant Potter, das ist Private Gallagher. Was treibt ihr so spät nachts in der Bahn?«
»Wir waren tanzen«, antwortete die eine, und die andere kicherte. Beide hielten wie selbstverständlich ihre Personalausweise hin. Der Sergeant warf einen kurzen Blick hinein.
»Barbara und Ingrid. Keine Angst alleine unterwegs?«
»Aber wo sind wir denn alleine?«, erwiderte Barbara und deutete in den Waggon.
Potter grinste. »Ihr wisst doch, wie gefährlich der Kommunist ist.«
»Wir sind in West-Berlin, Sergeant Potter, hier gibt's keine Russen.«
»Ah, Frollein Barbara, der Kommunist ist überall.«
Barbara lachte, als wäre das der beste Scherz gewesen, den sie je gehört hatte. Ingrid kicherte, während ihre Augen an der athletischen Gestalt von Private Gallagher hingen.
Dessen Aufmerksamkeit hatte sich längst auf Fred verlagert. Sein Blick fixierte ihn derart gelassen und kühl, dass Fred sich sofort klein und schutzlos wie ein Maulwurf fühlte, der seine unterirdischen Gänge verlassen hatte.
»Okay, Girls. Goodbye and be well.« Der Sergeant salutierte lässig und wandte sich Fred zu.
»Good morning, Sir. Was ist der Zweck Ihrer Fahrt?«
Fred war klar, dass er keinen besonders guten Eindruck machte, in seiner zerknitterten Kleidung, mit einem zerschlissenen Koffer und diesem riesigen, unförmigen Stoffsack vor sich. Er überlegte, mit welcher Erklärung die Chance am größten war, den Rest der Nacht nicht in einem Verhörzimmer der Amis verbringen zu müssen. Die Entscheidung fiel ihm leicht, zum Lügen war er ohnehin viel zu müde.
»Meine Vermieterin hat mich rausgeworfen, vor vier Stunden. Morgen muss ich mir eine neue Bleibe suchen.«
»Ihren Ausweis, bitte.« Der Sergeant deutete auf den braunen Sack. »Was ist da drin?«
»Ein Kontrabass.«
»A what?«
»An upright bass.« Englische Worte auszusprechen gaben Fred immer das Gefühl, nicht Herr seiner Zunge zu sein.
»You're a musician?«
»Nein, ich . der Bass gehört einem Bekannten von mir. Ich bewahre ihn nur für ihn auf.«
»Warum?«
»Seine Eltern dürfen nicht wissen, dass er in einer Rock'n'Roll Kapelle spielt.«
»Kapelle?« Der Sergeant warf ihm einen misstrauischen Blick zu.
»Rock'n'Roll-Band.« Wieder dieses merkwürdige Gefühl.
Der MP studierte Freds behelfsmäßigen Personalausweis gründlich, einen regulären Personalausweis durften die Berliner Behörden wegen des Viermächtestatus nicht ausstellen. »Fred Lemke, geboren am 5. Juli 1935.« Er lachte auf. »Zu jung für die Hitlerjugend, right?«
Fred kniff die Lippen zusammen und nickte nur.
»Was arbeiten Sie, Fred?«
»Die letzten zwei Jahre war ich in der Ausbildung. Heute wird mein erster Arbeitstag sein, bei der Kriminalpolizei.«
Der Sergeant schien zu überlegen, ob Fred ihn auf den Arm nehmen wollte. Er deutete auf den Stoffsack. »Bitte auspacken.«
Fred bemühte sich, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Der MP machte nur seinen Job und das deutlich freundlicher, als es ein deutscher Polizist täte. Nein, sein Ärger galt seiner Vermieterin. Er hatte ihr beim Abendessen lediglich vorsichtig angedeutet, dass er sich irgendwann vielleicht und je nachdem, wie es sich in seinem neuen Leben als Kriminalassistent anließ, eine neue Bleibe würde suchen müssen, weil sein neuer Arbeitsplatz beim LKA in der Keithstraße doch recht weit entfernt lag - und sie hatte die Fassung verloren. Die erste Welle ihres Wutausbruchs hatte er noch an sich abprallen lassen, überrascht, wie sehr sie sich aufregte. Vor allem aber war er gekränkt. Er hatte ihr in den zwei Jahren, die er dort wohnte, nie Schwierigkeiten gemacht. Im Gegenteil, wie oft hatte er ihr geholfen, wenn sie mit ihren schweren Einkaufsnetzen nach Hause kam, wenn die Gardinen zum Waschen abgehängt oder ihr Fahrrad repariert werden musste.
Doch dann, als sie einfach nicht aufhören wollte, ihn zu beschimpfen, hatte auch er seinem Ärger Luft gemacht: über die schlechte Matratze, das immer noch undichte Dach, das Fenster, das bei jedem Windstoß aufsprang, und über die unsäglichen Kohlsuppen, die sie für ihre Mieter fast täglich zubereitete. »Pension Himmelbett - wohnen und essen wie bei Muttern« stand auf einem handgemalten Schild neben der Haustür. Von wegen!
Sie starrte ihn an, und anstatt mit ihren Tiraden fortzufahren, fing sie an zu weinen. »Gehen Sie«, schluchzte sie. »Nun gehen Sie doch endlich.« Er fühlte sich in dem Moment so furchtbar elend, auch wenn seine Vorwürfe kein...
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