Die Geisterschlacht
von Alfred Bekker
In der Nähe von Bergamo, Norditalien im Jahr 1517
Matteo hörte die schaurigen Schreie und den Schlachtenlärm. Geisterhaft klangen sie durch die Nacht, und der Hall zwischen den schroffen Bergmassiven und Steilhängen klang widernatürlich.
Matteo hielt inne und schluckte. Der zwölfjährige zerlumpte Bauernjunge versuchte das Zittern zu unterdrücken. Er blickte zu der Kette von Anhöhen, hinter der ein geisterhaftes Leuchten zu sehen war. Dort mochten Dinge geschehen, die seine Vorstellungskraft überstiegen. Seit langer Zeit erzählte man sich in der Gegend schaurige Geschichten über jenes Hochtal ...
Dämonische Mächte sollten dort angeblich immer wieder am Werk sein. Armeen von Geistern kämpften gegeneinander.
Das abgelegene Hochtal wurde von den Menschen gemieden. Aber Matteo war fest entschlossen, das Geheimnis zu lüften. Er wollte mit eigenen Augen sehen, was dort geschah, und so hatte der Bauernjunge in dieser Nacht seinen ganzen Mut zusammengenommen.
Er murmelte ein kurzes Gebet. Dann machte er sich an den weiteren Aufstieg. Er war so weit gekommen, dass es jetzt kein Zurück mehr gab.
»Wenn du Dämonen beobachtest, werden sie dir folgen und dich töten«, hatte der Priester gesagt, der ab und zu in das Dorf kam, um die Messe zu lesen und die Toten zu beerdigen. »Deswegen sollte niemand so etwas versuchen.« Danach hatte er sich sofort bekreuzigt, so als wäre es schon gefährlich, nur über solche Dinge zu reden.
Matteo war zu ihm in die Beichte gegangen und hatte offenbart, dass er schon einmal versucht hatte, herauszufinden, was in dem unheimlichen Hochtal vor sich ging.
»Halte dich fern von dem Bösen«, hatte der Priester gesagt und war dabei ganz bleich geworden.
Aber Matteo wollte unbedingt wissen, was es mit den unheimlichen Mächten auf sich hatte, die dort ihr Unwesen trieben. Und dieser Drang nach Wissen war stärker als alles andere. Es war eine Neugier, die sich nicht durch ein paar salbungsvolle Worte eines Priesters einschläfern ließ. Matteo war mit dieser Eigenschaft anscheinend geboren worden. Sie gehörte zu ihm wie der überzählige Zeh an seinem linken Fuß, der immer dafür gesorgt hatte, dass er komisch angesehen wurde. Aber das machte Matteo schon lange nichts mehr aus.
Erneut drangen die schaurigen Schreie zu ihm herüber. Es waren verzerrte Laute sowohl des Schmerzes als auch des Hasses. Ein Frösteln überkam Matteo, als er das hörte.
Er murmelte ein Gebet vor sich hin. Dann setzte er seinen Weg fort. Schließlich erreichte er den Fuß jener Anhöhen, die das Geschehen in dem Hochtal bislang vor ihm verbargen.
Matteo machte sich an den Aufstieg. Die Hänge waren teilweise so steil, dass er sich nur auf allen vieren fortbewegen konnte. Immer wieder flimmerte das geisterhafte Leuchten hinter den Anhöhen hervor.
So ähnliche Lichterscheinungen hatte er schon gesehen, wenn in einem fernen Nachbartal ein Gewitter tobte, von dem aber nur die Blitze aufleuchteten. Aber das hier war kein Gewitter. Es war etwas anderes, etwas Furchtbares, etwas, für das es keine Worte gab.
Der Junge erreichte den Kamm der Anhöhen. Er warf einen Blick hinüber, und dann sah er sie: zwei Heere. Das eine bestand aus Licht umflorten Kriegern, die mit bläulich leuchtenden Schwertern und Lanzen fochten.
Aus den Lanzen schossen Strahlen hervor, die die Gegner zu Staub zerfallen ließen. Weiße Haare hatten die Lichtkrieger. Ihre Augen strahlten so hell wie das Licht der Sonne.
Ihre Bewegungen waren katzenhaft. Ihre dämonischen Gegner hingegen waren sehr viel grobschlächtiger. Viele von ihnen hatten tierhafte Gesichter.
Manche von ihnen besaßen Hörner und Mäuler, aus denen lange Zähne hervorragten. Ihre Körper waren groß und voller Muskeln, monströs große Äxte schwangen sie, schlugen damit oder stießen in Richtung der Lichtkrieger. Wie gebannt sah Matteo zu, was dort geschah.
Körper wurden zerfetzt, Schädel wurden gespalten. Die dämonenhaften Körper wurden durch die Flammen, die aus den Lanzen der Lichtkrieger herauszuckten, zu Asche verbrannt. Und trotzdem schien es unter den Wesen, die hier miteinander kämpften, keinen Tod zu geben.
Die von Äxten und Hellebarden zerrissenen Körper der Lichtkrieger fügten sich wieder zusammen, so als wäre eine magische Kraft in sie gefahren. Und auch aus der Asche, zu der so viele der Dämonenkrieger verbrannt wurden, begannen sich neue Kreaturen zu bilden. Sie formten sich innerhalb von Augenblicken und verstärkten dann erneut ihre Partei in der Schlacht.
An manchen Stellen kämpften Lichtkrieger und Dämonenkrieger vollkommen ungeordnet gegeneinander. An anderen wiederum bildeten sie Formationen, die gegeneinander prallten.
Matteo verstand natürlich nichts vom Kriegshandwerk. Dazu war er viel zu jung. Aber ihm war schnell klar, dass die Schlacht niemals enden konnte. Denn sobald es auf einer Seite zu großen Verlusten kam, standen die Toten wieder auf und kämpften erneut.
Ein Sieg war vollkommen unmöglich - für beide Seiten.
Eine Ewige Schlacht, dachte Matteo, die niemals zu Ende sein wird.
Matteo blickte wie gebannt auf die Grausamkeiten der furchtbaren magischen Schlacht. Er sah, wie sich die miteinander kämpfenden Kreaturen gegenseitig Arme, Beine und Köpfe abschlugen. Er sah, wie magisch glühende Lanzen Körper durchbohrten, wie groteske Mischungen aus menschlichen und tierischen Elementen miteinander kämpften.
Das magische Glühen breitete sich aus und verbrannte sie zu Asche. Einige der Lichtkrieger sengten mit ihren Strahlenlanzen Feuerstöße in die Reihen der Dämonenkrieger hinein. Ein furchtbarer Fäulnisgeruch vermischte sich mit dem von verbranntem Fleisch über dem Schlachtfeld und drang sogar bis zu Matteo vor.
Wie ein übler Pesthauch raubte es dem Jungen den Atem. Ein Blitz zuckte durch die Luft, und für einen Moment hatte man den Eindruck, als ob sich eine Tür öffnete, eine Tür in eine andere Welt. Ein gewaltiger, riesiger Dämonenkrieger trat daraus hervor, woraufhin sich die Tür wieder schloss.
Der Riese hatte die Größe eines Kirchturms. Sein Kopf ähnelte dem eines übergroßen Wolfs, aus dessen Schädel Hörner wuchsen. Eine wabernde Aura aus Schwarzlicht umflorte den gewaltigen, grobschlächtigen Körper.
Die Aura schien ihn vor den Strahlen der Flammenlanzen zuverlässig zu schützen. Denn natürlich hatten die Lichtkrieger ihn sofort unter Beschuss genommen. Doch deren magische Strahlen wurden durch das Schwarzlicht verschluckt.
Sie drangen nicht bis zum Körper des Giganten vor. Der riesenhafte, gehörnte Wolfskrieger stieß einen grollenden Laut aus, der so tief war, dass Matteo den Ton in seinem Magen spürte. Es war ein dumpfer, dunkler Laut, der alles zum Erzittern brachte, selbst die Erde unter ihm.
Der junge Matteo spürte das Zittern dort, wo er den Boden berührte, sehr deutlich. Und hier und da bildeten sich sogar Sprünge und Risse im Felsgestein. Als der Gigant einen weiteren Ton hervorbrachte, brachen ganze Felsbrocken an den umliegenden Hängen ab.
Allein das Erscheinen des Giganten bewirkte, dass sich das Heer der Lichtkrieger merklich zurückzog. Erschrockene, fast panisch klingende Stimmen hallten über das Schlachtfeld. Die Dämonenkrieger hingegen stießen ein triumphierendes Geheul aus.
Das Erscheinen des Giganten hatte sie offenbar zu neuer Angriffswut angestachelt. Es schien sogar jene unter ihnen zu motivieren, die bereits zu Asche verbrannt oder in Stücke gehauen worden waren. Denn ihre Regeneration beschleunigte sich sichtlich.
Asche und zerschlagene Knochen fügten sich wieder zu frischen Körpern zusammen. Manche der neu entstandenen Krieger waren so grotesk missgestaltet, dass man annehmen konnte, die unheimliche Wiederauferstehung sei vielleicht etwas zu schnell vonstattengegangen. Brüllend stürzten sie sich auf die zurückweichenden Reihen der Lichtkrieger.
Der Gigant mit dem gehörnten Wolfskopf hielt in der Rechten einen stabähnlichen Gegenstand. Er bestand aus schwarzem Metall und glänzte auf eine unheimliche Weise, die allen Naturgesetzen zu widersprechen schien. Unten war ein Schädel angebracht, bei dem auf den ersten Blick erkennbar war, dass es sich nicht um einen menschlichen Schädel handelte, sondern um den irgendeiner anderen Kreatur.
Die Augen des Schädels glühten rot auf. Insgesamt wirkte der Gegenstand, den der Gigant in der riesigen Hand hielt, wie der Griff von etwas, dessen eigentliche Natur noch nicht erkennbar war. Aber das sollte sich nun ändern.
Eine schlangenartige Spur aus Feuer drang aus dem oberen Ende des Stabes hervor und schoss hoch in die Luft auf. Der riesenhafte Dämon hatte jetzt eine Peitsche aus Feuer, die er wild um sich schwang. Es knallte und zischte, wenn die Flammenpeitsche auf den Boden schlug.
Auch auf die Krieger des eigenen Dämonenheeres nahm er dabei keinerlei Rücksicht. Er senkte mit der Flammenpeitsche über den Boden und brannte dabei alles nieder, was der zuckenden Feuerschlange in den Weg kam. Grauenhafte Schreie gelten...