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Das Erste, was Aris von Frau Xenaki zu sehen bekam, war ihr Gebissabdruck. In Abstufungen von purpur bis dunkellila prangte er auf Claudias linkem Trizeps. Die Zähne hatten sich nicht vollständig in ihre solariumgegerbte Haut bohren können, und doch bestand kein Zweifel. So richtig weg ging das nie wieder. «Ist doch gar nicht schlecht geworden. Sieht aus wie tätowiert», sagte Aris. «Vielleicht noch eins auf die andere Seite?»
Claudia setzte zur Antwort an, doch ließ es bleiben. Sie war nicht gefechtsbereit. Ihr Lidstrich war noch immer verwischt und verriet die vergossenen Tränen. Schmerz und Wut, achtzig zu zwanzig, das Übliche. Beim Betreten des Raumes hatte sie noch etwas stabiler gewirkt.
Am weißen ovalen Plastiktisch im Pausenraum des fünften Stocks löste sie jetzt weiter Sudoku für Fortgeschrittene. Mit Kugelschreiber, nicht wie sonst mit Bleistift und Radiergummi, füllte sie die leeren Felder mit Ziffern. Sie war nicht etwa mutiger geworden, es war nur nicht ihr eigenes Rätselheft.
Hinter den Milchglastüren, auf dem Flur, wurde fleißig gewuselt. Der fünfte Stock war chronisch unterbesetzt, deswegen schafften es hier nur wenige, ihre Pausen zu machen. Allen Kollegen, die wie Aris oder Claudia auf einem anderen Stockwerk arbeiteten, kam das sehr gelegen. Sie konnten ihre Pause in Ruhe im Fünften verbringen, ohne Pausenneider, ohne unterbrechende Notfälle, ohne oberflächlichen Plausch.
Aris goss Filterkaffee in die I HEART LUTHERSTADT WITTENBERG-Tasse nach, dabei sah er absichtlich nicht so genau hin. Das letzte Mal war die Thermoskanne von innen so stark mit Schimmelpilzen besiedelt gewesen, dass er meinte, den Amazonas aus der Vogelperspektive zu sehen. Wer keine Pause macht, kommt auch nicht zum Geschirrspülen. Claudia war das egal. Dreck reinigt den Magen, sagte sie, als Kinder haben wir Hühnerköttel gefrühstückt. Hat uns auch nicht geschadet.
Mit dem, was Aris im Kühlschrank finden konnte, hatte er ihr eine Gorgonzola-Bärchenwurst-Stulle geschmiert, zum Trost, garniert mit fast noch frischer Kresse, doch Claudia konnte jetzt nichts essen. Die Bisswunde war zu tief, um einfach weiterzuarbeiten, aber nicht tief genug, um sich krankschreiben zu lassen.
Gerade Zähne, kaum Plomben, gleichmäßige Bisskraft, das hat Seltenheitswert in Frau Xenakis Alter, dachte Aris, während er ihre Akte durchblätterte. Claudia ließ ihre Beine zu Radio Charivari wippen, zog am Stummel ihrer dritten F6, legte plötzlich ihr Rätselheft weg und wandte sich an Aris.
«Was soll's. YOLO, YOLO. Man lebt nur einmal. So sagt ihr das doch, oder? Nur die Harten kommen in den Garten, so haben wir gesagt.»
Aris staunte über Claudias plötzlichen Sinneswandel. Sonst weinte sich Claudia routiniert bei Aris aus, schilderte jede noch so kleine Verletzung mit dem Enthusiasmus eines Sportreporters beim Länderspiel. Dabei machte sie aus jedem Kratzer eine Blutgrätsche im Strafraum, mit ständiger Zeitlupenwiederholung aus allen Kamerablickwinkeln.
Als Claudia das letzte Mal was abbekommen hatte, Frau Keller hatte ihr beim Blutabnehmen die Nadel entrissen und ihr in den Brustkorb gerammt, war sie eine Woche lang außer sich gewesen und nicht in der Lage, von etwas anderem zu sprechen. Jetzt wirkte sie fast fröhlich und ging nahtlos zur vierten F6 über.
«Weißt du», sagte sie und ließ den Rauch langsam aus den Nasenlöchern ab, «diese X-Frau, die hat was zu mir gesagt.»
«Was denn?»
«Ich habe es nicht verstanden, es war wohl Griechisch.»
«Na, was hat sie denn gesagt?»
«Was ganz Kurzes. Ein Wort. Monolawe, Mololawe oder so.»
«Molon Lave?»
«Ja, genau. Das war es. Wieso lachst du so? Ist das ein Schimpfwort?»
«Hast du nicht <300> gesehen? Das heißt: Komm und hol sie dir! Das haben die Spartiaten damals zu den Persern gesagt, als die denen angeboten haben, sie am Leben zu lassen, wenn sie ihre Waffen abgeben.»
«Gut, ich brauche jetzt keine Geschichtsstunde. Aber ich sehe, du wirst deine Freude mit ihr haben.»
«Was meinst du? Ich habe mit dem Siebten nichts zu tun. Das weißt du doch.»
«Die X. will einen Griechen, sonst beißt sie wieder. Wie gut, dass wir einen für sie haben.»
Das letzte Mal, als Aris sich aufgrund seiner abstrakten Zugehörigkeit zum Griechentum für einen Sonderjob qualifiziert hatte, endete das für ihn in einer Urindusche und Nasenbluten, weil er sich geweigert hatte, den Lottoschein von Herrn Panajotopoulos aus seiner eigenen Tasche zu bezahlen, bei einer Gewinnbeteiligung von 10 Prozent.
«Die dürfen mir nicht jeden Scheiß aufladen», protestierte Aris.
Er würde trotzdem zu Frau Xenaki gehen. Aris lehnte keinen Job ab, er gab sich einfach keine Mühe und hoffte durch diesen Ansatz, den er als passiven Widerstand bezeichnete, unangenehmen Aufgaben dauerhaft zu entgehen. Der Erfolg dieser Strategie war bislang ausgeblieben, zumindest im Rahmen seiner Beschäftigung in der gerontopsychiatrischen Abteilung des Würzburger Silvaner-Spitals.
«Wo der Ossi versagt, muss der Grieche ran, oder was?»
«Ist doch prima, dass du auch mal für was gut bist.»
«Du kannst mich mal.»
«Darauf komme ich zurück, sobald mein Arm wieder in Ordnung ist. Auf jeden Fall weiß der Dr. Allister schon Bescheid. Er denkt sogar, es wäre seine Idee gewesen. Du hast die X. am Hals und machst auf 6A einfach bisschen schneller, junger Kollege. Und du sollst gleich hoch zu ihr.»
Aris beugte sich resigniert über den Patientenbericht.
«Sag mal, hast du das hier auf Russisch geschrieben? Ich kann das nicht lesen. Warum ist Frau Xenaki hier?»
«Ach, so spricht man das aus? Scheißname. Na warum wohl? Selbstgefährdung, hat versucht, den Abgang zu machen. Kann man ihr nicht übelnehmen. Erst Verdacht auf Demenz, dann sind die auf Tumore gestoßen. Hirn und weiß der Teufel wo. Hat gestreut wie nichts.»
«Wie lange hat sie noch?»
«Bis morgen oder nächste Woche, höchstens bis zum Sommer. Die ist 89, du weißt, da ist der Krebs auch eher träge. Sieht aber fit aus.»
«Warum ist die dann bei uns und nicht zu Hause?»
«Hast du mich das gerade wirklich gefragt?»
«Entmündigung?»
«So sicher wie der Ouzo beim Griechen! Sag mal, musst du nicht arbeiten?»
«Ich lagere gerade die komplette 6A um. Siehst du das nicht?»
Stolz lag in seiner Stimme, denn er hatte es geschafft, eine Lücke im engen Zeitplan zu finden und dabei etwas für das Wohlbefinden aller auf Station 6A zu tun. Die meisten Patienten dort spürten und bewegten ihre Körper kaum noch und bekamen Druckstellen vom Liegen, die sich binnen weniger Stunden entzündeten, wenn Aris sie nicht regelmäßig umlagerte. So verlor er in den ersten Wochen jeden Tag eine halbe Stunde Zeit, denn die Patienten waren oft schwer, und wenn er sie nicht behutsam hob, kam der Dekubitus von seinen Griffen und nicht vom Liegen. Mit einem Sack Tischtennisbällen, die er zum Wochenanfang unter die Patienten schob, und ordentlich Hautcreme nach jedem dritten Frühstück sparte er den Rest der Woche Zeit, die er für Pausen nutzte, und es gab sogar weniger offene Wunden als vorher. Offene Wunden waren das Schlimmste. Trotzdem teilte er seine Innovation nur mit Claudia, schließlich verletzte er dabei sämtliche Dienstvorschriften.
«Lass dich nicht erwischen! Ich geh jetzt den Papierkram machen, und dann fahre ich zum Amtsarzt. Mir egal, ob er wieder rumnervt. Mach den Rauchmelder wieder an, wenn du gehst.»
Auch für Aris wurde es Zeit sicherzustellen, dass zumindest keiner aus dem Bett gefallen war. Eigentlich konnte nichts passieren. Wer auf 6A lag, war angeschnallt, hatte meist die komplette Palette an Einrichtungen durch und entweder keine Verwandten mehr oder aber Verwandte, die ihn wirklich hassten. Paranoia blieb aber nicht aus bei Aris' Job, selbst wenn nicht viel schiefgehen konnte. Oder es keinen mehr interessierte.
Aris schaute kurz auf 6A vorbei, wie erwartet war alles in Ordnung, und nahm die Treppe in den siebten und für ihn unattraktivsten Stock der ganzen Einrichtung. Der PVC-Boden und die seiner Ästhetik nach pissgelben Wände, in der Kommunikation nach außen lemonesque genannt, bereiteten ihm einen Cocktail aus Platzangst und Würgereiz. Im Siebten roch es immer schrecklich, auch dann, wenn gerade kein Norovirus umging. Das lag daran, dass der Siebte Himmel, wie Claudia ihr Stockwerk gern umschrieb, täglich damit beschäftigt war, Menschen ableben zu lassen, und da die Engel des Siebten Himmels dabei nicht nachhelfen durften, war das Ergebnis nicht immer appetitfördernd. Die Alternative war der stechende Geruch nach Desinfektionsmittel, der Aris Tränen in die Augen trieb.
Der eigentliche Grund, warum Aris den siebten Stock mied, war dennoch ein ganz anderer. Er versuchte, Sibel aus dem Weg zu gehen, der Pflegerin, in die er schon als Zivi verknallt gewesen war und die ihn bei der letzten Schwesternfeier kurz vor Weihnachten mit nach Hause genommen hatte, um ohne Absprache ihre eigenwillige Interpretation der Fifty Shades of Grey auszuprobieren. Als sie mit ihm fertig gewesen war, schickte sie ihn weg und tat fortan, als wäre nichts gewesen. Mit brennenden Brustwarzen, Blutergüssen und dem abstrakten Gefühl, entwürdigt worden zu sein, war er damals durch den Schnee nach Hause gelaufen.
Eilig durchquerte Aris den Flur. Er musste, wie er der Akte entnommen hatte, in das Zimmer 707 am Ende des Ganges, das immerhin über zwei Fenster verfügte. Das ganze Stockwerk schien zu schlafen. Aris hörte nur das jazzige Piepen der Todverzögerungsgeräte. Wenn er...
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