Schweitzer Fachinformationen
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Carla Winkelberg war verblüfft, als sie gleich am nächsten Vormittag im Auftrag von Victor Blohfeld die Adresse der Bauers an der Stadtmauer aufsuchte, denn es handelte sich um eine wahrhaft außergewöhnliche Behausung: Die Familie lebte in einem der unzähligen Stadtmauertürme, von denen Carla wusste, dass die Stadt etliche von ihnen vermietete. Sie selbst hatte noch nie die Gelegenheit dazu gehabt, eine so extravagante Wohnlage in Augenschein zu nehmen. Ihr ungeliebter Auftrag schien also auch gute Seiten zu haben, dachte sie, als sie einen im rötlich-braunen Sandstein eingelassenen Klingelknopf drückte.
Eine ältere Frau, weißhaarig mit gebeugtem Rücken, öffnete. »Sie sind sicher das Fräulein von der Zeitung, das sich vorhin angekündigt hat.« Freundlich bat sie Carla herein.
»Danke, es ist wirklich nett, dass Sie bereit sind, meine Fragen zu beantworten.« Carla trat in einen beengten Vorraum, der von unverputzten Mauern umschlossen war und unmittelbar in ein Treppenhaus mündete.
»Die Fragen richten Sie lieber an meinen Sohn Waldemar«, sagte die Frau. »Er hat das bessere Gedächtnis. Ich kann die vielen Putzhilfen, die hier schon ein- und ausgegangen sind, nicht mehr unterscheiden.« Sie fasste Carla am Arm und raunte ihr zu: »Wenn mein Waldi nur endlich heiraten würde, könnten wir uns den ständigen Personalwechsel ersparen. Fünfundvierzig ist er vorletzte Woche geworden - und noch immer ist keine Ehefrau in Sicht. Keine ist ihm recht. Als Mutter hat man es mit einem solchen Sohn nicht leicht.«
Carla entging keineswegs, dass die alte Frau sie dabei musterte, als würde sie sie als mögliche Kandidatin für ihren ewigen Junggesellen in Betracht ziehen.
Eine steile hölzerne Treppe führte über zwei Zwischengeschosse hinweg bis hinauf in einen Wohnraum, dessen Einrichtung rustikal war und dem etwas düsteren Ambiente des Wehrturms entsprach. Auf einem tannengrünen Ledersofa, das auch in einen englischen Club gepasst hätte, saß ein beleibter blasser Mann mit Halbglatze. Er erhob sich nicht ohne Mühen und streckte Carla seine fleischige Hand entgegen. Sie war warm und feucht.
»Bauer«, sagte er mit einem Grinsen, das Carla nicht ganz geheuer war. »Waldemar Bauer. Meine Mutter Gudrun haben Sie ja schon kennengelernt.«
»Habe ich, danke«, sagte Carla und setzte sich, nachdem sich der Haus- oder Turmherr ebenfalls wieder niedergelassen hatte, auf einen antik anmutenden Stuhl. »Wie Sie wissen, bin ich Reporterin und verfasse einen Bericht über das Verschwinden von Elena Yvanova, Ihrer Haushaltshilfe.«
»Ja, eine schlimme Geschichte, aber leider können wir Ihnen da gar nicht weiterhelfen. Wir wissen auch nicht, was mit ihr geschehen ist«, sagte Waldemar Bauer und fügte betrübt hinzu: »Elena war so ein zuverlässiges und freundliches Geschöpf. Es ist besonders schade um sie.«
Carla blickte von ihrem Notizblock auf. »Sie sagen >war<? Gehen Sie davon aus, dass Elena nicht mehr lebt?«
»Sie etwa nicht? Warum sind Sie sonst hier? Elena ist seit zwei Wochen überfällig. Bei ihren Eltern hat sie sich, sofern ich weiß, auch nicht gemeldet. Die Polizei fahndet nach ihr, bisher ohne Erfolg. Was denken Sie?«
»Mein Sohn hat die Hoffnung aufgegeben«, meinte Gudrun Bauer, die mit einem klappernden Tablett voller Kaffeetassen, Zucker und Milch hereinkam. »Dabei war er sehr angetan von dem charmanten russischen Fräulein.«
»Mutter«, sagte Waldemar Bauer streng. »Unterlass bitte deine Kommentare. Das tut nichts zur Sache.«
»Können Sie mir Näheres über Elena berichten?«, fragte Carla und ließ sich Kaffee eingießen. »Hatte sie sich in der Zeit vor ihrem Verschwinden verändert? Hatte sie Probleme, womöglich Schwierigkeiten finanzieller Natur?«
Die Bauers stellten daraufhin nur Mutmaßungen an, die Carla nicht weiterbrachten. Das Interview wäre deshalb schneller beendet gewesen als beabsichtigt, doch dann konnte Carla nicht umhin, ein paar Fragen zu stellen, die eigentlich nichts mit der Sache zu tun hatten, sie aber persönlich interessierten - weit mehr als der Vermisstenfall, der sich sicherlich bald als harmloses Missverständnis aufklären würde: »Wie lange wohnen Sie eigentlich schon in diesem Turm?«
Waldemar Bauer schmunzelte. »Ein Leben lang. Ich bin hier geboren worden.«
Da sich Carlas Stirn ungläubig kräuselte, fügte Gudrun Bauer hinzu: »Die Stadt hat strenge Auflagen, wenn es um die Vermietung der Türme geht.«
»Genau«, pflichtete ihr Sohn ihr bei. »Die Chance, eine solche Wohnung zu ergattern, kommt einem Lottogewinn gleich.«
»Deshalb gibt man einen Turm, den man einmal in Beschlag genommen hat, nicht wieder her«, sagte Frau Bauer und verschränkte die Arme vor ihrer Brust, als wollte sie ihre Worte mit dieser Geste untermauern.
»Unsere Familie lebt seit dem siebzehnten Jahrhundert in diesem Turm«, verkündete Waldemar Bauer stolz. »Und zwar ohne Unterbrechung.«
»Das Wohnrecht ist von Generation zu Generation weitergereicht worden«, ergänzte die Mutter.
»Nichts und niemand konnte uns aus diesen Mauern vertreiben«, sagte Waldemar Bauer. »Weder Feuersbrünste, Unruhen, Epidemien noch Kriege. Die Bauers haben sich wacker geschlagen und ihr Heim gegen jegliche Unbilden verteidigt.«
Fast acht Stunden Schlaf hatten Wunder gewirkt, und als Paul pfeifend den Frühstückstisch deckte, fühlte er sich schon wieder viel besser. Die Eindrücke des gestrigen Tages kamen ihm jetzt vor wie aus einem bösen Traum. Vielleicht hatte er doch ein wenig überreagiert, als er die Parallelen zu Gruselgeschichten aus dem Alten Ägypten gezogen hatte, dachte er nun selbstkritisch.
Noch immer summend goss er Kaffee ein, auch für Katinka, die gerade die Zeitung aus dem Briefkasten holte.
»Hallo, Schatz, da bist du ja!«, rief er, als sie hereinkam.
Zunächst konnte er sich den zornigen Ausdruck in ihrem Gesicht gar nicht erklären, doch als sie die aktuelle Ausgabe auf den Tisch knallte, war ihm sofort klar, was sie so aufgebracht hatte.
»DER FLUCH DES HEILIGEN: FORSCHERIN DURCH GIFTSPOREN GETÖTET?« lautete die Schlagzeile auf Seite eins. Paul suchte und fand schnell den Namen des Verfassers: Wie nicht anders zu erwarten lautete er auf Victor Blohfeld. Er musste gestern Abend gleich nach ihrem Gespräch in die Redaktion geeilt sein, um den Artikel zu schreiben. Viel Zeit für die Recherche hatte er nicht gehabt. Aber so wie Paul Blohfeld kannte, machte ihm das nichts aus. Dennoch fragte er sich, wie der Reporter es geschafft hatte, die Titelstory auf der Seite eins zu so später Stunde noch zu platzieren; das gelang sonst nur bei Sportereignissen wie Fußballspielen. Wahrscheinlich hatte er so lange auf den Chef vom Dienst eingeredet, bis dieser den Andruck stoppte und die Schlagzeilen austauschte.
»Das ist doch absoluter Nonsens!«, schimpfte Katinka und tippte mit dem Zeigefinger auf die berühmte Schwarz-Weiß-Abbildung des legendären Howard Carter in der Gruft von Tutanchamun. »Diese Verbindung zu den Pharaonen ist auf deinem Mist gewachsen. Hast du Blohfeld davon erzählt?«
»Und wenn es so wäre?«, setzte sich Paul zur Wehr. Allerdings war er zugegebenermaßen selbst erschrocken über den riesigen Zeitungsaufmacher. »Du wolltest mir ja nicht glauben.«
»Weil ganz einfach nichts dran ist an diesem Quatsch. Man muss nicht in jeden Tod ein Verbrechen oder Rätsel hineininterpretieren, schon gar nicht so ein völlig abstruses. Erwartest du etwa, dass ich ein Ermittlungsverfahren gegen einen Geist einleite? Den Geist von Sebaldus?«
Paul sagte erst einmal gar nichts mehr, zumal er keine Argumente besaß, mit denen er hätte kontern können. Er beobachtete Katinka dabei, wie sie sich energisch eine blonde Strähne aus der Stirn wischte und mit grimmigem Ausdruck in ihr Marmeladenbrötchen biss. Dabei landete ein Tropfen Erdbeerkonfitüre auf ihrer weißen Bluse.
»So eine gottverdammte Sch.!« Sie sprang auf. »Jetzt muss ich mich umziehen, obwohl ich ohnehin schon spät dran bin.«
»Es, äh, es tut mir leid«, rang sich Paul ab.
»Das sollte es auch. Aber immerhin hast du dein Ziel erreicht.« Sie funkelte ihn böse an. »Ich werde gar nicht anders können, als eine Untersuchung einzuleiten, weil uns die Presse jetzt nicht in Ruhe lassen wird. Vergeudete Ressourcen und Steuergelder. Danke, Paul. Vielen Dank!«
Allein in der Wohnung beschloss Paul, sich nicht länger über diese ungünstige Entwicklung zu grämen,...
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