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Sankt Wendel, im März 1829
SEITDEM ICH VON den bösen Geistern in unserem Haus wusste, konnte ich kaum noch schlafen. Meine ältere Schwester Katharina sagte, dass Geister die unreinen Seelen Verstorbener seien. Seelen, dieses Wort, das die Erwachsenen so oft verwenden. Ich stelle mir unreine Seelen wie schwarze Wolken vor, gefüllt mit viel Dreck und so stinkend wie unser Ochse und die Kuh draußen im Stall, wenn tagelang nicht ausgemistet wurde.
Katharina wusste außerdem von der Mittelwelt, diesem Ort zwischen Himmel und Hölle, wo das schreckliche Fegefeuer, vor dem ich so viel Angst hatte, loderte und die Seelen nach dem Tod hinkamen. Dort gäbe es eine Leiter in den Himmel zu Gott, behauptete sie, viel breiter als die Leiter, die an unserem Heuboden lehnte, damit auch alle Seelen Platz darauf fanden. Bevor die Seelen dem Himmelreich entgegensteigen durften, mussten sie sich reinigen, wie wir Kinder der Familie Demuth es an Sonntagen im Holzzuber im Hof taten. Dermaßen gereinigte Seelen sind Geister des Segens. Sie tragen weiße Kleidung oder erscheinen uns gleißend hell. Dreckige Seelen, die noch auf den ersten Sprossen der Leiter stehen, sind Geister der Hölle, die uns zur Sünde verführen. Sie tragen schwarze Kleidung. Letzte Nacht, Katharina hat es uns gleich nach dem Aufstehen erzählt, hatte ein schwarzer Geist ihre Wange berührt.
Wann immer ich seit dem Morgen daher einen Blick auf Katharinas Wange warf, konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Meine Hände zitterten deshalb schon den ganzen Tag vor Angst, und mir war so schrecklich heiß, als befände ich mich bereits im Fegefeuer und nicht in der Stube unseres Hauses in Sankt Wendel. Wie sehr wünschte ich mir doch kaltes Wasser herbei. Wasser gegen meine Angst, gegen schwarze Geister und schwarze Wolken.
Ein Poltern holte mich in die Stube zurück, ich riss die Augen auf. Eine gelbe dicke Masse und Scherbenstücke bedeckten meine Schuhe. Sofort versteckte ich meine zitternden Hände hinter dem Rücken.
»Helena, was hast du gemacht? Das war unsere Kartoffelsuppe!«, rief Mutter erbost vom Tisch zu mir herüber. »Und die letzte irdene Schüssel! Erzähl bloß keinem, dass du bereits acht Jahre bist!« Meine Geschwister schauten mich mit großen Augen an. Sie saßen neben der Mutter eng um den Tisch mit dem Unschlittlicht herum, das wir jeden Tag bei Einbruch der Dämmerung anzündeten. Der Geruch dreckigen Rindertalgs war bis zu mir herüber zu riechen.
»Der Name >Zitterhand< passt besser zu dir als Helena!«, schimpfte Barbara, meine älteste Schwester.
Ihre Worte machten mich sehr traurig. Zitterhand, so hänselten mich auch die Kinder anderer Tagelöhner und Ackerer aus Sankt Wendel, allen voran Hilga, die Tochter von Bäckermeister Klempe.
»Dein Ungeschick wird uns alle noch ins Grab bringen!«, sagte Mutter. Vor weniger als drei Wochen erst hatte sie Maria entbunden, seitdem waren ihre Augenlider rot. Mutter schlurfte zu mir herüber und schlug mir mit der flachen Hand auf die Wange.
»Aua!« Wir Kinder bekamen Mutters Zorn immer häufiger zu spüren. Uns alle hatte sie schon einmal geohrfeigt, wobei es mich wegen meiner Ungeschicktheit am häufigsten traf.
Ich wankte von der Heftigkeit des Schlags, während Mutter zurück zum Tisch schlurfte. In diesem Moment heulte Maria los. Mit ihrem blonden Haar und den abstehenden Ohren kam sie ganz nach Pabbi. Wir anderen fünf Kinder sähen dagegen wie Mutter aus, sagte unsere Nachbarin. Wir besäßen die gleich großen braunen Augen, Mutters hohe Stirn und ihr glattes Haar in der Farbe von Haselnüssen, die ich so gerne naschte.
Meine Hände hinter dem Rücken zitterten heftiger, als mein Herz schlug, so als schüttelte sie jemand Unsichtbares. Der Streichelgeist? Ich schaute zum Bild des heiligen Wendelin an der Wand über dem Esstisch, dem einzigen Schmuckstück in unserer Stube. Hilf mir, Heiliger, hilf mir, dass ich nicht immer zittere, und mache, dass der böse Geist verschwindet, bat ich still.
Ein rauer Lappen klatschte mir ins Gesicht. »Steh nicht so nutzlos herum!«, verlangte Barbara. Ich glaube, mich mochte sie von uns Geschwistern am wenigsten. Seit der vergangenen Missernte reichte Pabbis Lohn nicht mehr aus, um uns alle satt zu kriegen, weswegen er auch den Feldknecht hatte fortschicken müssen. Seitdem übernahmen Katharina, die Zweitälteste, und ich tagsüber die Arbeit des Knechts auf dem Acker mit dem Roggen und den Kartoffeln. Ganz früh am Morgen, bevor es auf den Acker ging, zeigte ich Elisabeth, wie man Wäsche wusch und das Haus rein hielt. Solange Pabbi uns noch satt bekommen hatte, hatte ich Mutter im Haushalt geholfen.
Ich ging in die Hocke und begann, die Scherben aufzusammeln und die Suppe aufzuwischen. Mutter holte Brot und das letzte Stückchen Butter aus dem Vorratsraum. Die Butter roch herrlich süß, als sie an mir vorbeigetragen wurde. Ich wollte jetzt so gerne mit den anderen essen, aber stattdessen reinigte ich auf Knien den Boden. Wenn niemand guckte, nahm ich mit den Fingerspitzen die Kartoffelsuppe vom Boden auf und leckte sie ab.
Als ich das nächste Mal aufschaute, war auf dem Tisch nicht einmal mehr ein Brotkanten übrig. Meine Familie war dazu übergegangen, die letzten Pflichten des Tages zu erledigen. Mutter fertigte im Schein des Unschlittlichts Bänder aus rohem Garn, die dann von Hausierern verkauft wurden. Die Bänder konnten als Kleiderschmuck oder zum Zusammenbinden der Haare verwendet werden. Am besten kamen sie an den Schuten zur Geltung, den großen, mit einer Krempe versehenen Damenhüten, wie sie von den Töchtern des Schultheißen getragen wurden.
Auch an diesem unglücklichen Abend setzte sich Barbara wieder zu Mutter und half ihr. Inzwischen sagten die Leute, meine älteste Schwester würde die besten Bänder in ganz Sankt Wendel fertigen. Sie arbeitete schneller und geschickter als Mutter, die immer öfter bei der Arbeit einschlief. Meine Schwester Katharina trieb das Spinnrad an. Peter, der nach Katharina geboren worden war, saß im Halbdunkel über seine Schreibtafel gebeugt und buchstabierte laut. Wann wohl Pabbi endlich nach Hause käme? Er kam oft als Letzter heim und verließ den Hof als Erster am Morgen. Als ich die Suppe fertig aufgewischt und den Lappen sauber gemacht hatte, ging ich in den Hof. Meine letzte Aufgabe des Tages war es, noch einmal nach unserem Ochsen und der Kuh zu schauen. Im Hof befanden sich die Scheune, der Abort und ein Gemüsebeet. Im Stall füllte ich den Wassertrog auf, warf frisches Stroh auf den Boden und hievte im Dunkel des Märzabends Eimer voller stinkender Scheiße zum Misthaufen beim Abort, direkt neben dem Kuhstall. Nur fort mit dem Dreck, der unreine Seelen anzog. Meine zitternden Hände beruhigten sich, je länger ich alleine war. Mutter würde es sicher gefallen, wenn ich vom Haus in die Scheune zöge, war ich überzeugt und verlor eine Träne deswegen.
Ich stellte den letzten geleerten Eimer beiseite, ließ mich an der Wand des Aborts, einem kleinen Haus mit schrägem Dach, hinabgleiten und nickte weg.
Erst der Geruch rauchigen Honigs ganz nahe vor meiner Nase weckte mich wieder. »Pabbi!« Pabbis wie so oft gerötetes Gesicht war ganz nah bei meinem. Endlich war er da.
»Mein Lenchen«, sagte er und nahm mich auf den Arm.
Pabbi war sehr stark. Ich glaube, sogar stärker als unser Ochse, der die schwere Egge tagelang über den Acker zog.
»Warum bist du so spät noch draußen?«, fragte er.
»Ich habe wieder eine .«, begann ich, stockte dann aber und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Wie schon zuvor beim Abendbrot den Geruch frischer Butter, sog ich nun Pabbis Atem ein. Er roch nach rauchigem Honig, was von seinem Kautabak kam. Schon öfter hatte Mutter versucht, Pabbi das Tabakkauen zu verbieten, weil er so hässlich und unkontrolliert, wie sie sagte, »braune Soße ausspie« und immer größere Stücke nahm. Oft gab sie erst dann auf, wenn er vortrug, dass ihn das lange wach hielt und seinen Hunger unterdrückte. Müde könne er schließlich kein Geld verdienen!
»Du bist ja ganz kalt«, bemerkte Pabbi, als er mir über die Wange strich und mich ins Haus trug. In der offenen Herdstelle loderte noch Glut, es musste kurz nach Mitternacht sein.
Pabbi setzte mich auf die Bank am Esstisch und legte Holz nach. Er war immer in Bewegung, selten sah ich ihn ruhen.
»Warte kurz, Lenchen«, bat er und verschwand noch einmal nach draußen.
Zwei halb fertige Bänder aus dunkelrotem Garn, die auf dem Tisch lagen, fingen meinen Blick ein, und ich stellte mir vor, wie sie wohl in meinem Haar aussehen würden. Da stand Pabbi auch schon wieder vor mir. In der einen Hand hielt er seine Tabakdose und einen Spucknapf, in der anderen ein seltsames Kissen, das gerade groß genug für die Puppe war, die ich mir so sehr zum nächsten Geburtstag wünschte. Eine mit gelbem Kleid.
»Ich glaube, du bist schon klug genug dafür.« Pabbi deutete auf das Kissen, das ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Ich und klug? Die Töchter von Bäcker Klempe schimpften mich strohdumm. Wer mit den Händen so zittere wie ich, sei zu nichts zu gebrauchen, am allerwenigsten zum Denken! Einmal, als mir beim Wasserholen der gefüllte Eimer vom Brunnenrand fiel, war sogar mein Bruder Peter in ihre Hänseleien mit eingefallen. Seitdem holte ich das Wasser aus der Blies. Schon damals wusste ich, ohne Tränen zu weinen. In mich hinein weinen nannte ich das.
»Wofür klug genug?«, wollte ich wissen und strampelte vorfreudig mit den Beinen unter der Bank.
Pabbi legte Kissen sowie Napf ab und presste seinen Zeigefinger kurz auf die Lippen. Während er seine Tabakdose öffnete, zündete ich das Unschlittlicht auf dem Tisch...
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