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Ein Märchen
Charlotte seufzte tief, als sie am nächsten Tag spät nachmittags ihren Stapel Hefte vom Biedermeiersekretär nahm und ihr Blick auf das zuoberst liegende Heft fiel.
Lisa Bredow. Klasse 7e.
Die kleine Lisa tat ihr Leid. Kleine Lisa im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie war die Kleinste in der Klasse. Im Vergleich zu den anderen Mädchen, die mit zwölf oder dreizehn Jahren fast alle schon sehr weiblich und reif aussahen, einige davon wirkten schon wie Fünfzehn- oder Sechzehnjährige, war Lisa Bredow geradezu schmächtig. Zart und kindlich und irgendwie zerbrechlich, blass und schüchtern, ein Wesen, das die anderen Kinder herauszufordern schien, sie zu ärgern und zu foppen. Mobbing hieß das schreckliche Wort, das Charlotte ebenso hasste wie die Sache, die damit gemeint war: an die Wand drücken, so lange verachten und demütigen, bis das Opfer sich selbst verachtet.
Lisa Bredow hatte keine Freunde in der Klasse, sie hatte, soweit Charlotte das beurteilen konnte, überhaupt nirgends Freunde. Im Schulhof stand sie allein, wenn Pause war, und sie saß alleine in der Bank. Charlottes vielfältige Versuche, Lisa »in die Gruppe zu integrieren« wie es so schön neupädagogisch hieß, waren fehlgeschlagen. Es gab eine ganze Menge von Gründen. Nicht nur eine schlaflose Nacht hatte Charlotte wegen Lisa verbracht.
Lisa war ein intelligentes Kind, sie schrieb die schönsten Aufsätze und war überragend sprachbegabt. Sie hatte es nicht nötig, ihre Deutschnote aufzubessern. Trotzdem hatte sie ihr Heft abgegeben, schüchtern und wortlos nach der Schulstunde, als alle schon draußen waren, und sie war dann ebenso wortlos in die Pause gegangen. Charlotte hatte Lisa zugelächelt, ein kleines, fast unmerkliches Lächeln war zurückgekommen. Ein Lichtstrahl. Schöne Ferien, hatte Charlotte gesagt, aber Lisa hatte sich nicht umgedreht. Nach den Ferien, das nahm sich Charlotte felsenfest vor, würde sie Lisa noch mehr unter ihre Fittiche nehmen als bisher. Neue Strategien entwickeln, wie sie zu integrieren sei in diese schwierige Zwangsgemeinschaft von zufällig zusammengewürfelten Kindern.
Charlotte machte sich ihren obligatorischen Tee. Frauenpower stand auf der Teepackung, ein Geschenk der netten Sekretärin zum Geburtstag. Ayurvedischer Kräutertee zum Entspannen, aber auch zum Bündeln der positiven Energien, wie die Packungsbeilage verhieß. Charlotte trug die Tee-Utensilien auf ihrem kleinen Lieblingstablett mit Adrian Coortes Erdbeerenmotiv, meisterlich gemalt wie zum Anbeißen, zu ihrem Schreibtisch, schlürfte vorsichtig den noch sehr heißen Tee und schaute dabei aus dem Fenster. Auf der Wiese vor ihrem Arbeitszimmer pickten die Hühner. Sie lebten, sorglose Naturen, im Hier und Jetzt und wussten nichts von Zukunft und nichts von Vergangenheit. Charlotte wünschte sich ab und zu solch ein Schweben in unbeschwerter Zeitlosigkeit. Ihr Blick ging zum Arbeitstisch zurück, und die Realität hatte sie fest im Griff. Sie las Lisa Bredows Aufsatz, dessen Titel Ein Märchen lautete:
Es war einmal ein Mädchen in einem sehr fernen Land, hinter den Wolken und jenseits des Regenbogens. Es hatte nichts als den Mond und die Sonne, den Tau und den Regen, die Tiere im Wald, die Insekten auf den wippenden Grashalmen und die Farben der Blätter im Herbst, Gold-Kupfer-Blutrot-Orange. Alle nannten es arm, aber es hatte doch all dies, den Tag und die Nacht und die Regentropfen auf den Zweigen und den Gesang der Nachtigallen im Sommer und im Winter die Eisblumen am Fenster, silbrige Kristalle. So war es reich, und doch war es auch traurig, das Mädchen, denn wenn es schwieg, hielt man es für dumm, wenn es sprach, für geschwätzig, wenn es tanzte, für übermütig, wenn es still nur so dasaß, für plump.
Aber es tanzte und sprach nicht viel, häufiger schwieg es und war stumm. Es hatte keine Freunde, im Gegenteil. Es wurde verhöhnt, denn es war klein, und am liebsten hätte es sich unsichtbar gemacht. Es war allein sein Geheimnis, dass es die Sprache der Tiere verstand, dass es flink wie die Eichhörnchen war, mit denen es auf die höchsten Bäume kletterte, und dass es spielend mit dem Gesang der Amseln wetteifern konnte. Keiner ahnte, dass es die Katzen auf ihren nächtlichen Streifzügen begleitete und mit den Hunden die tollsten Kunststücke aufführte. Die Hunde, seine liebsten Spielgefährten, verrieten dem Mädchen die Geheimnisse der Tiere. Alle hätten es für verrückt gehalten und es eingesperrt. So schwieg das Mädchen, denn Einsamkeit war noch besser als gefangen zu sein.
Charlotte stützte den Kopf in beide Hände und hielt inne beim Lesen. Die Fantasie dieses Kindes, aber auch dieser Schmerz. Sie musste sich zum Weiterlesen zwingen, doch auch Neugier trieb sie, den Rest des Märchens zu erfahren.
Da kam, als es eines Tages auf dem Brunnenrand saß, seinem Lieblingsplatz, denn man konnte in den Brunnen hinabsehen und stundenlang so sitzen, und man sah doch nichts als schwarzes Wasser, und man konnte sich so allerlei Fabelwesen erträumen auf dem Grund des Brunnens, eine Gestalt auf es zu. Die Gestalt war wunderschön und hell und licht. Sie reichte dem Kind die Hand, und eine große Kraft durchströmte das Kind, und es fühlte sich stark wie niemals zuvor. Es fühlte sich nicht mehr hässlich und plump und einsam wie zuvor.
Schön war es und graziös, und es war nicht mehr allein. Die Gestalt führte das Mädchen zum Waldrand und in den Wald hinein, und die Wölfe heulten, rot funkelnde Augen leuchteten durch das Dunkel, das kleine Mädchen erschrak und wollte laut schreien, doch dann fühlte es eine große Kraft in sich, denn die helle Gestalt nahm es fest an der Hand und ließ nicht los. Und das Gefühl von Kraft blieb, auch als ein Riese auf es zukam und es an den Schultern packen wollte. Die Gestalt umfasste die andere Hand des kleinen Mädchens, und der Riese verschwand im Dickicht und löste sich in Nichts auf. Wir sind Freunde, und ich werde dich beschützen, sagte die helle Gestalt. Freunde für alle Zeit. Das kleine Mädchen strahlte vor Glück. Nie zuvor hatte es Freunde gehabt. Ihm war, als sei es eben erst neu geboren worden. Ein neues, ein schönes Leben würde beginnen. Ein Leben ohne Angst, ohne Einsamkeit. Denn unter der Einsamkeit hatte es sehr gelitten. Du darfst niemandem von unserer Freundschaft erzählen, sagte die helle Gestalt. Sonst wird sie zu Ende sein. Und das kleine Mädchen versprach, zu schweigen. Denn diese Freundschaft durfte niemals sterben.
Als Charlotte geendet hatte, saß sie eine Weile reglos da und starrte vor sich hin. Sie wusste nicht recht, wie der Sinn des Märchens einzuordnen war. Da hatte ihr Außenseiterkind offensichtlich einen Beschützer gefunden. Je mehr Charlotte grübelte, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass ein hypersensibles, sehr einsames, mit sehr viel Fantasie begabtes Kind hier seinem Wunschdenken nachgegeben und sich eine Freundin oder einen Freund erfunden hatte. Und doch zögerte Charlotte, Bedenken mischten sich in ihre Gewissheit, und sie nahm sich vor, Lisa nach den Ferien, sanft und vorsichtig freilich, auf die Bedeutung des Märchens anzusprechen. Sie schrieb einen kleinen Kommentar unter den Aufsatz, der lobend und ermutigend war, und die Note Eins, ihr Kürzel und das Datum.
Sie war in Arbeitslaune und korrigierte in einem Zug alle Hefte, alle erfreulich, aber kein Aufsatz halbwegs so fantasievoll, so kreativ wie Lisas Aufsatz.
Danach rief sie Bernhard an. Es war inzwischen später Abend geworden. Bernhard tat empört, wie man ihn bei seinem Kultfilm Inspektor Columbo stören könne.
»Du hast doch bestimmt diesen Columbo schon ein Dutzend Mal angeschaut. Ist das heute nicht der Film mit dem supergemeinen Bestattungsunternehmer? Ich hab es in der Programmzeitung gesehen.« Charlotte konnte sich das Frotzeln nicht verkneifen.
»Mindestens ein Dutzend Mal«, konterte Bernhard, »aber es ist immer wieder herzerfrischend, wie Columbo den kaltschnäuzigen Fieslingen auf die Schliche kommt.«
»Dann mach ich es ganz schnell. Ich wollte dir nur erzählen, dass mein Kummerkind Lisa Bredow ein Märchen geschrieben hat, worin sie einen Beschützer findet. Eine helle Gestalt, wie sie schreibt.«
»Und deshalb zerrst du mich von meinem geliebten Kultfilm weg? Und du glaubst doch nicht, dass sie wirklich eine solche Person gefunden hat?«
»Natürlich nicht.« Charlottes Stimme war etwas unsicher.
Lisa war ab und zu Gesprächsstoff für Bernhard und Charlotte, denn wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über, und Bernhard, der manchmal eine andere Sicht der Dinge, der Menschen und der Situationen hatte, diente Charlotte gelegentlich dazu, ihre eingefahrene Sicht auf Dinge, Menschen und Situationen neu zu überdenken und zu relativieren.
»Es ehrt dich sehr, dass die Sorgen deiner Schüler dich nicht kalt lassen, Charlotte, aber darf ich jetzt zu meiner Serie zurück? Wir unterhalten uns über Lisa und das Märchen in Ruhe und nicht am Telefon.«
»Du Nichtlehrer mit deinen Vorurteilen«, scherzte Charlotte, »meinst du, ich bin die einzige Lehrerin, der die Sorgen und Nöte der Schüler nicht gleichgültig sind? Die sich um so ein armes Würstchen, so ein gemobbtes - blödes Wort - so ein geplagtes Kind sorgt?«
»Du hast Recht. Gut, dass wir uns getroffen haben, wir zwei. Sonst hätte ich nie erfahren, dass Lehrer nicht automatisch Monster sind.«
»Und jetzt schleunigst zurück zu deinem Inspektor Columbo«, befahl Charlotte. »Und grüße ihn von mir. Ich mag ihn...
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