Schweitzer Fachinformationen
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Richard Gruben stand an einem der mit weißen Hussen überzogenen Stehtische. Das Glas Prosecco vor ihm war unangetastet. Nachdem er mehrmals versucht hatte, der Frau vom Catering verständlich zu machen, dass er ein Glas Wasser wollte, hatte er schließlich resigniert abgewinkt und sie gebeten, den Prosecco einfach dorthin zu stellen. Allerdings war seine Chance, bei einer anderen Servicekraft erfolgreicher zu sein, mittlerweile gleich null. Richard spürte das dringende Verlangen, die Vernissage zu verlassen.
Die lärmende Menschenmenge, die sich in den drei Ausstellungsräumen des Gellerhäger Kunsthauses aneinanderdrängte, zermürbte ihn. Er hatte den Eindruck, dass sich niemand der anwesenden Gäste ernsthaft für Philipps Fotografien zu interessieren schien. Den Lachs-Canapés auf dem Büfett wurde weitaus mehr Beachtung geschenkt. Zum anderen schmerzte das Stimmengewirr in seinem tinnitusgeplagten Ohr. Richard sehnte sich nach der Stille und Abgeschiedenheit im Ferienhaus.
In der Innentasche seines Jacketts spürte er das Handy vibrieren. Er zog es heraus. Eine SMS von Bert Mulsow. Der Polizist hatte ihr Treffen morgen Mittag bestätigt und ein Restaurant in Gellerhagen vorgeschlagen. Richard überlegte, ob er zurückrufen sollte. Auch wenn Mulsow um diese Uhrzeit sehr wahrscheinlich über Bratkartoffeln und Spiegelei saß und ein störender Anruf ihm wenig gefallen dürfte, war es das Risiko wert, bei Mulsow durchzuklingeln. Ein paar Atemzüge in der kühlen Novemberluft würden nicht schaden, und das Telefonat bot ihm die Möglichkeit, dem Höllenlärm für einige Minuten zu entkommen. Kurz entschlossen steckte Richard das Handy zurück in sein Jackett. Mit einem aufgesetzten Lächeln quetschte er sich durch die von Alkohol und Hitze rot glänzenden Gesichter. Der Geruch von scharfem Rasierwasser und schwerem Parfüm raubte ihm fast den Atem. Gerade noch konnte er dem Arm eines eifrig gestikulierenden Schlipsträgers ausweichen, aber bald darauf schoss der nächste Ellenbogen auf ihn zu und stieß ihm hart gegen die Brust.
Im Foyer lichtete sich endlich die Menge. Richard atmete auf, erleichtert, diesem Irrsinn entkommen zu sein. Zügig durchschritt er die Eingangshalle, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte.
»Wollen Sie sich davonstehlen, Professor Gruben?«
Richard drehte sich um und blickte in das rotwangige Gesicht von Isa Wienke. Er hatte Philipps Verlegerin und Jugendfreundin bereits gestern bei einem ersten Rundgang durch die Ausstellung kennengelernt. Eine kleine, burschikose Frau mit kupferrotem Kurzhaarschopf, die etwa in seinem Alter war. Amüsiert sah sie aus hellgrünen Augen zu ihm auf.
»Um ehrlich zu sein, ich habe mit dem Gedanken gespielt«, erwiderte er schmunzelnd.
»Woran liegt's? Am miserablen Büfett oder an der endlos langen Laudatio unserer Museumsleiterin?«
»An der Rudelbildung.« Richard nickte zu dem Raum, aus dem er eben geflohen war. »Ich bin wohl das, was man gemeinhin als einsamen und inzwischen auch grauen Wolf bezeichnet.«
»Oh, das kommt mir reichlich bekannt vor. So ein Exemplar habe ich auch zu Hause.« Lachend deutete sie mit dem Daumen in eine unbestimmte Richtung hinter sich. »Mein Mann Sven ist Natur-Ranger im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Nichts tut er lieber, als allein und schweigend mit dem Fernglas durch sein Revier zu streifen.«
»Ich kann nicht behaupten, dass es mir Ihren Mann unsympathisch macht.«
Sie rollte belustigt mit den Augen. »Für Außenstehende mag das alles nach furchtbar verwegenen Männerabenteuern klingen. Doch ich schätze, Sven kennt seine haarigen Fischotter und quäkenden Wasservögel besser als die eigene Ehefrau.«
Richard grinste, obwohl er nicht sicher war, ob sie tatsächlich nur spaßte. »Wie viele Hektar umfasst das Gebiet, für das Ihr Mann im Nationalpark verantwortlich ist?«
»In Zahlen kann ich das auf die Schnelle gar nicht so exakt sagen«, überlegte sie und zupfte dabei am Kragen ihres marineblauen Blazers. »Auf jeden Fall erstreckt sich Svens Revier von der Boddenseite bis hin zum Darßer Weststrand.«
»Dann ist Ihr Mann also schuld.«
»Schuld? Woran?«, fragte sie irritiert.
Richard machte eine umfassende Geste. »An Philipps plötzlichem Interesse an Landschaftsfotografie. Er hat mir erzählt, viele der Aufnahmen im Bildband stammen aus dem hiesigen Nationalpark. Insbesondere die Schwarz-Weiß-Fotografien vom Weststrand.«
»Ach das.« Sie winkte ab. »Glauben Sie mir, mein Mann trägt an vielem die Schuld, aber daran gewiss nicht.«
Isa Wienke hatte es zwar in scherzhaftem Ton gesagt, aber ihre Augen hatten dabei nicht gelächelt. Er beschloss, besser ein anderes Thema anzuschneiden.
»Habe ich es bei der Laudatio richtig verstanden? Das Kunsthaus wird durch einen privaten Verein unterhalten?«
»Das haben Sie«, bestätigte sie nickend. »Beim Bau wurden wir zwar durch Zuschüsse von Land und EU unterstützt, doch jetzt finanzieren wir uns allein durch selbst erwirtschaftete Erlöse aus dem Museumsbetrieb, regelmäßigen Veranstaltungen und einem kleinen Buchverkauf. Derzeit stellen wir Überlegungen an, eine Stiftung zu gründen.«
»Wir?«
»Ich bin Mitglied im Verein und arbeite hin und wieder als ehrenamtliche Museumsbegleiterin.« Isa Wienke legte den Kopf in den Nacken und musterte ihn fragend. »Ich kann Ihnen bei Gelegenheit gern mehr über unseren Verein erzählen, wenn Sie das Thema interessiert. Wie lange beabsichtigen Sie, in Gellerhagen zu bleiben?«
»So genau weiß ich das noch nicht.« Richard hob die Schultern. »Vermutlich, bis Philipp genug von meinen Marotten hat und mich im hohen Bogen rauswirft.«
»Sollten Sie beide anfangen, sich auf den Wecker zu gehen, kommen Sie gern auf einen Kaffee zu uns ins Kapitänshaus«, sagte sie lächelnd. »Mein Mann und ich wohnen im Bernsteinweg. Direkt am Saaler Bodden. Das Haus können Sie nicht verfehlen.«
Auf einmal huschten ihre Augen nervös an ihm vorbei. Richard wandte den Kopf zur Seite. Am Eingang erblickte er die nach vorn gebeugte Gestalt eines Mannes. Obwohl das ausgedünnte hellgraue Haar ihn um zehn Jahre älter erschienen ließ, vermutete Richard, dass er um die fünfzig war. Der dürre Körper in brauner Strickjacke und zerbeulter Jeans wirkte wie ein Fremdkörper zwischen all den durchgestylten Gästen. Mit aschfahlem Gesicht starrte der Mann auf Philipps Ausstellungsplakat in der Nähe der Eingangstür.
»Würden Sie mir einen Gefallen tun, Professor Gruben?« Isa Wienke berührte ihn leicht am Arm. Ihre Stimme war nun angespannt.
»Jederzeit.«
»Können Sie Philipp suchen und ihm ausrichten, dass ich ihn dringend sprechen muss?«
Er nickte. »Ja, sicher.«
»Danke«, murmelte sie wie geistig abwesend und ließ ihn stehen.
Richard sah Isa Wienke nach, wie sie hektisch um sich blickte und schließlich in der Menge untertauchte. Dann machte er sich auf die Suche nach Philipp.
Er fand ihn im Ausstellungsraum zu seiner Rechten. Philipp lehnte an einem Stehtisch und war angeregt in ein Gespräch mit der Museumsleiterin vertieft. Eine ältere, freundlich blickende Frau, deren Namen Richard jedoch entfallen war. Sie nippte an einem Rotwein, Philipps Finger umklammerten ein halb volles Glas Wasser. Zumindest ließ die Zitronenscheibe darin es vermuten. Das Jackett hatte er ausgezogen und die weißen Hemdsärmel leger aufgekrempelt. Wenngleich sich die Spuren des Alkohols in seinem Gesicht mit den Jahren eingegraben hatten, war Philipp Stöbsand immer noch von kräftiger, sportlicher Statur. Seine dunkelblonden Haare standen ihm wirr auf dem Kopf. Die freie Hand wedelte durch die Luft. Er schien aufgekratzt, aber nüchtern.
Philipp bemerkte ihn erst, als er unmittelbar vor ihm stand. »Ah, Richard! Wir haben gerade von dir gesprochen.« Er deutete mit dem Glas zu der Museumsleiterin. »Man ist hier schwer beeindruckt, dass ich mit einer Koryphäe wie dir befreundet bin.«
Die Frau lächelte Richard verlegen an. »Als Kunstliebhaberin habe ich selbstverständlich mitbekommen, dass Sie vor einiger Zeit Smiths >Windflüchter< bei uns in der Gegend aufgestöbert haben.«
Er nickte nur stumm. Zu viele Gesichter waren mit dem Gemälde des deutsch-englischen Ausnahmekünstlers verbunden. Einige, die er vergessen wollte, andere, die er vergessen musste, weil er den Zeitpunkt verpasst hatte. Johanna war seit fünf Monaten verheiratet.
Schnell schüttelte Richard den Gedanken ab und sah Philipp an. »Deine Verlegerin sucht dich.«
»Worum geht's?«
»Das hat sie nicht gesagt. Sie meinte nur, es sei dringend.«
Philipp verzog spöttisch das Gesicht. »Bei Isa ist immer alles dringend.«
»Sie können Ihren Freund ruhig begleiten, Herr Stöbsand«, versicherte die Museumsleiterin. »Wir haben doch so weit alles miteinander besprochen.«
Philipp machte eine theatralische Geste. »Papperlapapp! Isa kann warten. Es dürfte wohl auch im Interesse meiner Verlegerin sein, wenn das Kunsthaus eine meiner Arbeiten ankaufen möchte.« Er schaute auffordernd zu Richard. »Was meinst du? Welche Aufnahme sollte ich veräußern?«
Statt einer Antwort zuckte er nur unschlüssig mit den Achseln. Richard wusste, dass diese Frage rein rhetorisch gemeint war. Philipp Stöbsand befolgte grundsätzlich keine Ratschläge von Außenstehenden, die seine künstlerische Arbeit betrafen. Und auch in privaten Dingen hörte er selten auf das, was Freunde ihm nahelegten. Endlich einen Alkoholentzug zu machen, war nur ein Beispiel von vielen.
Philipp ließ nicht locker. »Nun komm. Sag schon!«
Richard tat ihm schließlich den Gefallen und blickte sich in dem...
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