Schweitzer Fachinformationen
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Der Fischstand gegenüber dem Ozeaneum war gut besucht, Richard Gruben hatte den letzten freien Stehtisch unter einem Schirm erwischt. Nach einem ersten lauwarmen Schluck Kaffee spähte er über die Schulter zurück zum Verkaufswagen. Bert Mulsow, in ein dunkles Polizeihemd gekleidet, stand noch wartend in der Schlange. Augenscheinlich zog sich seine Bestellung länger hin. Richard krempelte die Hemdsärmel nach oben und stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte. Sein Blick schweifte über den weitläufigen Stralsunder Hafen.
Wie überall in der Innenstadt wimmelte es an diesem späten Nachmittag auch hier von Menschen. Für Anfang Mai war es ungewöhnlich warm, das Thermometer zeigte über zwanzig Grad. Zahlreiche Touristen nutzten das sonnige Wetter, um das Ozeaneum sowie die von der Backsteingotik geprägte Altstadt zu besichtigen. Und für die nächsten Tage versprachen die Meteorologen weiter sommerliche Temperaturen. Angesichts solcher Aussichten dürfte es auf der Insel Rügen ebenfalls zu einem starken Besucherzustrom kommen. Vollgestopfte Straßen und überfüllte Urlaubsorte waren vorprogrammiert. Richard hoffte inständig, dass Jette nicht gescherzt hatte, als sie am Telefon meinte, Hollvitz wäre so abgelegen, dass sich nicht einmal die Zeugen Jehovas dahin verirrten.
Als Jette ihm von ihrem Auftrag auf Rügen erzählt hatte, war Richard überrascht gewesen. Seit den traumatischen Ereignissen in Gellerhagen vor eineinhalb Jahren hatte sie nicht mehr in ihrem Beruf als Kirchenrestauratorin gearbeitet. Nach ihrem Klinikaufenthalt samt anschließender Reha war sie zwar physisch vollständig genesen, hatte aber noch lange mit den seelischen Folgen zu kämpfen gehabt.
Außerdem war im Dezember Jettes Debütroman erschienen. Neben einem kleinen, regionalen Literaturpreis hatte sie sogar ein Arbeitsstipendium für ihr aktuelles Manuskript erhalten. Richard war immer in dem Glauben gewesen, dass sich Jette nun ganz dem Schreiben widmen würde. Wobei ihm durchaus bewusst war, dass viele Autoren vom Honorar allein nicht leben konnten und für gewöhnlich einen Erstjob zum Broterwerb ausübten. Durchgreifender Erfolg war nun einmal schwer planbar.
Doch Jette Herbusch passte in kein vorbestimmtes Muster. Sie definierte finanzielle Sicherheit anders als die meisten ihrer Mitmenschen. Seine Person eingeschlossen. Dass er als freiberuflicher Kunsthistoriker freiwillig in eine Rentenversicherung einzahlte, hatte sie oft belächelt. Jettes Entscheidung, wieder in ihren Beruf zurückzukehren und den Altar einer Dorfkirche auf Rügen zu restaurieren, hatte Richard daher erstaunt.
Seine Enttäuschung wog jedoch schwerer.
Seitdem er Jette vor gut vier Monaten wiederbegegnet war, hatte es nur wenige Tage gegeben, an denen sie sich nicht gesehen hatten. Aus anfänglichen Wochenenden waren schnell Besuche unter der Woche geworden. Meist kam Jette zu ihm nach Dortmund, weil es sich so am unkompliziertesten in die Betreuung seines dreijährigen Sohnes einbinden ließ. Henriks Mutter lebte ein paar Häuserecken weiter, und sie und Richard teilten sich die elterliche Fürsorge. Irgendwann war Jette nur noch in ihre eigene Wohnung gefahren, um den Briefkasten zu leeren oder die Grünpflanzen zu bewässern. Und zum ersten Mal in seinen sechsundvierzig Lebensjahren fühlte sich Richard wirklich zu Hause. Umso heftiger hatte ihn Jettes Entschluss getroffen, für sieben Monate nach Rügen zu gehen.
Richard konnte nicht sagen, ob sie den Auftrag im Falle eines Vetos seinerseits abgelehnt hätte. Er hatte diese Möglichkeit ungenutzt gelassen. Nicht weil er dachte, dass es ihm in dieser Phase ihrer Beziehung nicht zustand, sondern weil er gehofft hatte, sie würde ihn ungefragt in ihre Pläne einbeziehen. Doch das war nicht geschehen. Vor drei Wochen hatte Jette dann ihren betagten Kombi beladen und war Richtung Rügen aufgebrochen. Da sie beide schon schwierigere Zeiten durchgestanden hatten, war Richard optimistisch, dass sie auch das hinbekommen würden. Dennoch beschäftigte ihn seither der Gedanke, welche Rolle er in Jettes Leben einnahm.
»Wohin genau hat es Frau Herbusch denn auf Rügen verschlagen?« Mulsow war an den Tisch getreten und stellte einen üppig belegten Teller ab.
Richard richtete sich auf. »Hollvitz.«
»Hollvitz? Nie gehört.«
»Das liegt im Norden, in der Nähe von Sassnitz. Mit dem Auto fünfzehn Minuten ins Landesinnere.«
»Ah, auf Jasmund.« Mulsow spießte mit der Plastikgabel ein Stück Backfisch auf. »Für mich die schönste Ecke von Rügen. Kreidefelsen, Bäderarchitektur, Buchenwälder .«
Ruhe reicht völlig, dachte Richard. Aber da selbst einem gebürtigen Stralsunder wie Bert Mulsow der Name fremd war, schienen seine Befürchtungen womöglich unbegründet.
»Und wo ist Frau Herbusch untergekommen?«, wollte Mulsow wissen.
»Im ehemaligen Küsterhaus.« Richard leerte seinen Kaffeebecher und wischte sich mit der Serviette den dunklen Bart. »Es wird vom Hollvitzer Kirchenverein unterhalten, der auch die Spendengelder für die Restaurierungsarbeiten in der Kirche eingeworben hat. Bisher wurde aber erst eine Gebäudehälfte saniert. Jettes Äußerungen nach zu urteilen, ist das Haus noch eine halbe Baustelle.«
»Da bin ich froh, dass die Beschwerden diesmal nicht an mich gehen, Professor Gruben«, sagte Mulsow und grinste.
Richard musste lachen. »Habe ich mich jemals beklagt?«
Bert Mulsow lebte auf Fischland-Darß-Zingst und war auf der Halbinsel bis vor Kurzem als Kontaktbeamter der Polizei im Dienst gewesen. Während Richards Aufenthalten an der Ostsee hatte Mulsow ihm häufiger mit einer Unterkunft aus der Patsche helfen müssen. Und auch andere, bedeutend brenzligere Situationen wären ohne den Polizisten weniger glimpflich geendet. Vor gut vier Monaten war Mulsow in das Kriminalkommissariat Stralsund gewechselt, und da es einige Zeit her war, dass sie sich gesehen hatten, hatte Richard in der Hansestadt einen Zwischenstopp eingelegt, um sich mit dem Freund zu treffen.
Mulsow beäugte ihn nun prüfend. »Hast du dir das gut überlegt? Zwei Wochen auf einer Baustelle?«
»Die ruht. Die Sanierung der Kirche hat Priorität. Allen voran Jettes Altar.« Richard zerknüllte die Serviette. »Wenn es deine Zeit zulässt, Bert, komm die Tage vorbei. Ich würde mich freuen«, sagte er und fügte mit einem bedeutsamen Lächeln hinzu: »Wir beide.«
Richards Handy klingelte. Er angelte es aus seiner Jeans und schaute aufs Display. Jette. Mit einer Geste entschuldigte er sich bei Mulsow und entfernte sich einige Schritte. Den Blick auf die geschwungene weiße Metallfassade des Ozeaneums gerichtet, nahm Richard den Anruf entgegen.
»Wo bist du?«, begann Jette ohne Begrüßung. Sie hörte sich leicht gehetzt an.
»In Stralsund. Mit Bert.«
»Was denkst du, wie lange ihr noch braucht? Eine Stunde? Zwei?«
»Jette, ich bin gerade erst angekommen.« Mit der freien Hand fuhr er sich durch die schwarzen, grau durchzogenen Haare. »Was ist überhaupt los?«
»Du musst noch jemanden vom Bahnhof abholen.«
»Und wen?«
»Susanne Ortlepp.«
Richard erinnerte sich dunkel, den Namen in einem ihrer Telefonate gehört zu haben, konnte aber keinen Zusammenhang herstellen.
»Das ist wer noch mal?«
»Die Mitarbeiterin von der Landesdenkmalpflege in Schwerin. Frau Ortlepp überwacht alle Baumaßnahmen in der Kirche. Mit ihr musste ich die Restaurierung des Altars abstimmen. Das hab ich dir doch alles erzählt.«
Am anderen Ende war leichte Verwunderung zu vernehmen.
»Hast du. Ich stand bloß auf dem Schlauch«, sagte Richard und beeilte sich zu fragen: »Wann und wo trifft ihr Zug denn ein?«
»Zehn vor acht in Sassnitz.«
»Und wie spät ist es jetzt?«
»Fast Fünf.«
Rasch überschlug er die Zeit. »Krieg ich hin.«
»Ich dank dir!« Jette schien hörbar erleichtert. »Frau Ortlepp hätte auch wie immer ein Taxi genommen, aber da du eh auf dem Weg bist, habe ich ihr angeboten, sie könnte bei dir mitfahren. Das macht dir doch nichts aus?«
»Nein«, sagte Richard wahrheitsgemäß. Allerdings hatte er sich seinen ersten Abend in Hollvitz anders vorgestellt, als mit einer Denkmalpflegerin über kirchliches Kulturgut zu philosophieren. Dazu drängte sich ihm in Anbetracht der späten Ankunftszeit noch eine andere Frage auf.
»Was gibt es denn so Dringendes?«
»Das wüsste ich auch gern«, erwiderte Jette. »Frau Ortlepp hat am Telefon nur gesagt, dass sie unbedingt meine Meinung als Außenstehende hören will.«
»Klingt nach Schwierigkeiten mit dem Kirchenverein. Vielleicht reicht die Höhe der Spendengelder nicht aus.«
»Möglich. Bisher ist mir aber nichts zu Ohren gekommen. Zumal ich gestern noch mit dem Vereinsvorsitzenden gesprochen habe.«
»Neue Änderungswünsche, die sie durchboxen will?«, mutmaßte Richard.
»Kann ich mir nicht vorstellen. Frau Ortlepp war erst vor zwei Tagen zur Besprechung in Hollvitz. Wir beide hatten alles miteinander abgestimmt.«
Richard wandte sich zum Strelasund um, vom Wasser blies eine schwache Brise herüber. »Es scheint jedenfalls keinen Aufschub zu dulden, wenn die Landesdenkmalpflege zu dieser Uhrzeit noch Termine wahrnimmt.«
»Frau Ortlepp und ich sind für morgen verabredet.«
»Morgen? Also verbringt sie den Abend nicht mit uns?«
»Nein«, sagte sie gedehnt. »Außer du lädst sie ein.«
»Eher nicht.« Richard atmete innerlich auf. »Und wo soll ich sie dann absetzen? Hotel? Pension?«
»Soweit ich verstanden habe, hat sie ein Zimmer in Sassnitz gebucht. Wohin sie aber heute noch so dringend in Hollvitz will .?« Jette machte eine Pause, als ginge sie in Gedanken die...
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