Schweitzer Fachinformationen
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Hameln, Südstadt. 21 Kilometer entfernt von Eimbeckhausen. Kaders Fluchtpunkt. Seit der Trennung von ihrem Ex-Mann lebte die 28-Jährige mit ihrem Sohn Cudi in der dritten Etage eines Mehrfamilienhauses an der Königstraße. Bei Mutter Hayriye, ihrer Schwester Nergis und ihrem Bruder Egîd, die beide jünger waren als sie. Es war eng, aber gemütlich. Nur im Winter nicht. Unter dem Spitzdach konnte es unangenehm kühl werden - selbst dann, wenn man die Heizkörperthermostate voll aufdrehte. Kader empfand Temperaturen unter 15 Grad als unangenehm. Vielleicht lag es auch daran, dass sie sich ständig Sorgen um ihren Sohn machte. Der Kleine war anfällig für Viren und Keime. Er wurde schnell krank, hatte schon eine Bronchitis und eine Mandelentzündung durchgemacht.
Doch wichtiger als alles andere war für Kader, dass die Familie zusammenhielt - Mutter und Geschwister hatten sie und Cudi vor zweieinhalb Jahren herzlich aufgenommen. Der Junge war damals erst dreieinhalb Monate alt gewesen. Hayriye, Nergis und Egîd wussten von der Weigerung des Ex-Mannes, die Morgengabe der Braut herauszugeben und Unterhalt zu bezahlen. Schon mehrfach war der Streit um Gold und Geld eskaliert. Nurettin Burov hatte sogar schon Kaders Mutter geschlagen. Ein Tabubruch.
Nach 13 Monaten Ehe war Kader geflüchtet. Sie hatte die Hoffnung aufgegeben, dass sich ihr Mann ändern wird. Immer wieder hatte er sie enttäuscht.
Es klingelte. Kader blickte durch den Spion, um zu schauen, wer vor der Tür stand. Sie hatte Angst, dass Nurettin ihr auflauern würde, um sich an ihr zu rächen. Kader traute ihrem Ex mittlerweile alles zu. Sie erinnerte sich daran, dass er sie schon einmal während eines Streits aus dem Auto gestoßen hatte. Sie war damals hochschwanger gewesen und hatte einen Schutzengel gehabt - wie schon so oft in ihrem Leben. Zum Glück war es nicht Nurettin, der geklingelt hatte. Durch den Türspion sah sie in das lächelnde Gesicht ihrer Freundin Nesrin, die sie besuchen kam.
Die Begrüßung war herzlich. Die Frauen nahmen sich schweigend in den Arm. Kader bat Nesrin, hereinzukommen.
"Magst du einen Tee?", fragte Kader ihre Freundin.
"Ja, gern."
Kader brühte frischen türkischen Tee auf. Sie liebte es, Çay auf traditionelle Art zuzubereiten. Die Teeblätter, die sie nahm, mussten an der Schwarzmeerküste gepflückt worden sein. Am besten im Morgengrauen. Der beste Tee wuchs in der Provinz Rize.
Kader bereitete den Tee vor, wie sie es von ihrer Mutter Hayriye gelernt hatte: in zwei übereinandergestapelten Çaydanlık-Kesseln. In dem unteren größeren Kessel brachte sie das Wasser zum Kochen, den oberen kleineren Kessel füllte sie mit mehreren Löffeln Schwarztee. Als das Wasser kochte, goss Kader den Tee auf und ließ ihn ziehen. Ein Teil des heißen Wassers blieb in dem unteren Behälter zurück. So konnte sich später jeder Gast am Tisch individuell seinen Tee verdünnen. Kader und Nesrin bevorzugten tavsan kanı, was so viel wie Kaninchenblut bedeutet. Diese Farbe musste ein guter Tee haben. Dann schmeckte er so wie in der Heimat.
Kader servierte im Wohnzimmer. Sie füllte die kleinen Gläser bis zur Hälfte und verdünnte den tiefschwarzen Tee mit Wasser, bis er sich hellrot färbte.
Im Hintergrund dudelte leise das Radio. NDR 1 Niedersachsen spielte Kuschelrock. Helene Fischer sang gemeinsam mit US-Softpopper Michael Bolton den 1990er-Hit "How Am I Supposed To Live Without You".
"Sag mir, wie soll ich ohne dich leben?", hieß es an einer Stelle.
Das war zu viel für Kader.
Sie ging zum Radio und schaltete es aus. Kader mochte zwar romantische Songs sehr, aber heute gingen ihr diese Schnulzen, in denen es immer um ewige Liebe und Trennungsschmerz ging, auf den Geist. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt für solche Musik. Die gescheiterte Beziehung, Nurettins Demütigungen, der Rosenkrieg - das alles war ihr aufs Gemüt geschlagen. Aus einer Romantikerin drohte eine verbitterte Frau zu werden. Sie wollte das nicht zulassen.
Die Freundinnen setzten sich auf große weiche Kissen und quatschten drauflos - über alte Zeiten, den Krieg in Kurdistan und die Not der Menschen, die vom sogenannten Islamischen Staat verfolgt und getötet wurden. Nesrin erzählte von mutigen kurdischen Frauen, die, bewaffnet mit Sturm- und Maschinengewehren, an der Front "ihren Mann" standen.
"Im Krieg sind Frau und Mann gleichberechtigt. Im Frieden nicht. Was ist das nur für ein Frauenbild", meinte Nesrin und wischte sich eine Locke aus dem Gesicht.
Schon bald kam das Gespräch auf Nurettin, die gescheiterte Ehe, die erlittenen Torturen und den schwelenden Unterhaltsstreit.
"Und? Wie geht es jetzt weiter?", wollte Nesrin wissen.
"Eigentlich ist alles geregelt", antwortete Kader. "Und dennoch ist es kompliziert. Er muss zahlen, aber er will sich nicht von seinem geliebten Geld trennen. Du weißt ja: Er liebt Geld über alles. Die Briefe von meiner Anwältin ignoriert er einfach. Je öfter sie ihn auffordert, endlich Unterhalt zu zahlen, desto aggressiver reagiert er. Aber jetzt wird er zahlen müssen. Dafür hat meine Rechtsanwältin gesorgt."
"Wie will sie ihn denn zwingen, wenn er auf die Briefe nicht reagiert?", wollte Nesrin wissen.
"Ganz einfach", sagte Kader mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen. "Sie lässt jetzt seinen Lohn pfänden. Dagegen kann er nichts unternehmen."
"Der Arme", sagte Nesrin mit einem ironischen Unterton und grinste dabei. "Er wird gepfändet. Sieh mal einer an ."
"Er hat es verdient", sagte Kader. "Dieser Mann hat mich monatelang gequält, er hat mich immer wieder belogen und wie eine Leibeigene gehalten. Anfangs hat er mir den Himmel auf Erden versprochen. Er wollte mich auf Rosen betten. Aber schon kurz nach der Hochzeit hat er sein wahres Gesicht gezeigt."
Tränen liefen Kader über die Wangen. Ihre Augen waren rot geweint. Gern hätte sie ein unbeschwertes Leben geführt. In Ruhe und in Frieden. Gern wäre sie geliebt, geachtet und respektiert worden von ihrem Mann. Aber es hat nicht sollen sein.
"Er wollte keine gleichberechtigte Frau. Er wollte eine Dienerin. Eine, die ihm gehorcht, nicht widerspricht. Er hat immer wieder versucht, meinen Willen zu brechen. Er hat mich bedroht, beleidigt, erniedrigt und dauernd angespuckt. Über Wochen und Monate ging das so. Ich hatte mich schon daran gewöhnt, angespuckt zu werden. Er hat mir das Leben zur Hölle gemacht. Ich habe damals viel geweint."
"Warum hast du ihn denn nicht schon viel früher verlassen?", fragte Nesrin, reichte Kader ein Tempo-Taschentuch und nahm sie tröstend in den Arm.
"Ich weiß es auch nicht. Wahrscheinlich habe ich geglaubt, es sei nur so eine Phase. Er kann ja auch nett und freundlich sein, weißt du. Immer wieder hat er mich bequatscht. Immer wieder habe ich mich von ihm täuschen lassen. Am Ende hat er immer wieder sein wahres Gesicht gezeigt. Ich habe gedacht: Er wird sich ändern, wenn erst einmal das Kind da ist. Aber es wurde alles noch viel schlimmer."
Kader ließ ihre Hände kraftlos auf ihre Oberschenkel fallen und starrte auf den Teppich. Mit leiser Stimme fuhr sie fort: "Ich bin in diesen 13 Monaten Ehe durch die Hölle gegangen, Nesrin. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was er mir alles angetan hat."
"Warum hast du mich nicht angerufen? Ich hätte dich da rausgeholt", sagte Nesrin.
"Ja, wie denn? Ohne mein Handy? In dem Ding habe ich doch alle Telefonnummern gespeichert - auch deine." Kader schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. "Ich habe ja nicht alle Handy-Nummern im Kopf. Ich bin doch kein Autist. Und vom Festnetz wäre es nicht gegangen. Das hätte er sofort gemerkt. Wer weiß, was mir dann geblüht hätte ."
Kader wischte sich mit dem Taschentuch Tränen aus den Augenwinkeln. Sie musste schluchzen. "Er hat mir schon kurz nach der Heirat das Smartphone weggenommen und mir verboten, Kontakt mit dir und der Clique aufzunehmen. Freunde durften mich nicht besuchen. Ich durfte nicht telefonieren. Ich durfte nicht einmal meine Mutter treffen. Alles hat er mir verboten. Er hat mich gehalten wie eine Sklavin. Es war der blanke Horror. Ich war gefangen in diesem Dorf."
Während sie das sagte, schaute Kader aus dem Fenster. Sie sah auf die Dächer der Südstadt-Häuser, die allesamt aus der Gründerzeit stammten. Tränen rollten über ihre Wangen. Ihr Blick war leer.
"Du irrst. Ich kann mir das sogar ganz gut vorstellen", sagt Nesrin leise. Mit gesenktem Kopf schaute sie dabei auf den handgeknüpften Orient-Teppich, der im Wohnzimmer der Kader-Familie lag. "Ich habe doch auch so einen Idioten von Mann zu Hause. Nur gut, dass er die meiste Zeit in der Türkei lebt. Von dort hat er keine Macht über mich."
Kader zeichnete ein düsteres Bild von dem Mann, dessen Vater im Jahr 2013 bei ihrer Mutter um ihre Hand angehalten hatte.
"Er ist ein Teufel. Er hat eine schwarze Seele", sagte sie und trank einen Schluck Tee. "Im Nachhinein frage ich mich, wie ich einer Heirat überhaupt zustimmen konnte. Gott, war ich blöd. Ich habe ihn nie geliebt. Er wollte mich zu seiner Frau nehmen - und ich habe schließlich Ja gesagt. Ich weiß auch nicht, warum ich das gemacht habe. Es ist halt passiert. Ich bin selbst überrascht. Das ist wohl mein Schicksal ."
"Du hast geglaubt, er sei ein guter Mann", sagte Nesrin.
"Ja, es war so. Als er um mich geworben hat, hatte er Tränen in den Augen. Er hat geweint, er sah so hilflos aus. Ich dachte damals: Wer Gefühle zeigen kann, muss ein...
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