Schweitzer Fachinformationen
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Dezembertod
Das Gewitter zog schnell. Es kam aus Nordnordost und schien das Meer gegen sich aufzubringen. Die Wellen erreichten acht Meter und zerrten an der "Seemöwe". In den Aufbauten pfiff der Wind seine schaurig-schönen Lieder. Käpt'n Jan Willem Freese hatte Mühe, sein Boot auf Kurs zu halten. Seine kräftigen Hände hielten das kleine Steuerrad aus kubanischem Mahagoni, das ihm seine Frau Grete zur Silberhochzeit geschenkt hatte, fest umklammert. Freese wusste: Eine falsche Ruderbewegung könnte das Schicksal des Krabbenkutters und seiner dreiköpfigen Besatzung besiegeln. Sein Decksmann Kurt Rasmussen hielt sich am Türgriff fest und schien mit angstvollen Augen ins Nichts zu starren. Seit mehr als 30 Jahren fuhr Fischer Freese nun schon raus, aber einen dermaßen schnellen Wetterumschwung hatte er noch niemals zuvor erlebt. Der Sturm frischte auf. Windstärke 9 bis 10. Die weiße Gischt, die die kräftigen Schauerböen von den zackigen Wellenkämmen riss, flog in schaumigen Fetzen auf und davon - und verschwand in der Finsternis. Im Scheinwerferlicht des 16-Meter-Kutters sah die See jetzt aus wie ein brodelnder Kessel mit starkem Ostfriesentee. Schwarz wie die Nacht - mit schneeweißen Sahnewolken. Doch das dort draußen war kein Tee mit Wulkje. Vor ihren Augen wurde die Nordsee zur Mordsee - wie schon unzählige Male zuvor zeigte die Naturgewalt den Menschen Grenzen auf. Heute war so eine Nacht. Das spürte Freese. Die Schauerböen verhießen nichts Gutes. Das Boot wurde zum Spielball der Wellen. Es wurde von den Brechern, die seitlich gegen den Holzrumpf krachten, immer weiter nach Steuerbord gedrückt. Die "Seemöwe" kam dem Strand von Langeoog zu nahe. Das zeigte das Radar an. Kapitän Freese konnte nichts dagegen tun. Der Schiffsdiesel lief auf vollen Touren. Aber gegen diese Wellen kam er nicht an. Vergeblich versuchte Freese, seinen Kutter durch ein Wendemanöver wieder auf freie See zu bringen. Die Verzweiflungstat war nicht von Erfolg gekrönt. Der alte Kutter drohte auf dem berühmt-berüchtigten Westerriff bei der Otzumer Balje aufzulaufen und von den Riesenwellen in aufgewühlter See zerschmettert zu werden. Freese glaubte Flocken zu sehen. Er kniff die Augen zusammen und schaute angestrengt durch die Scheibe, auf der eine Wasserschicht zu kleben schien, nach draußen. Der Scheibenwischer rotierte, schaffte es aber nicht, die Gischt des tosenden Meeres und die dicken Regentropfen zu beseitigen.
"Los, Kuddel, mach dich mal nützlich und schwing deinen Hintern auf Deck", wies Freese seinen Decksmann an, der immer noch stumm neben ihm stand. Der Käpt'n nannte Kurt bei seinem Spitznamen. Das tat er nur, wenn er stinksauer war oder total unter Strom stand.
Kurt Rasmussen schien von dieser Idee nicht begeistert zu sein. Er runzelte die Stirn und musterte seinen "Boss" beinahe verächtlich von oben bis unten. Dann gelang es ihm endlich, seine Gedanken in Worte zu fassen.
"Und, was soll ich bei diesem Schietwetter da draußen? Willst wohl, dass ich über Bord gehe, du Menschenschinder. Schick doch unseren Azubi Ronny da raus. Das verfluchte Arschloch liegt schön in seiner warmen Koje und macht auf seekrank. Dieser Nichtsnutz hat doch mehr Angst als Vaterlandsliebe. Und ich soll mir den Tod holen."
Freese hielt immer noch das Steuerrad krampfhaft fest. Sein Blick war auf den Bug gerichtet, der von Zeit zu Zeit überspült wurde. Der alte Kutter senkte und hob sich. Mensch und Maschine kämpften gegen Wellen, Wind und Wetter. Doch die Weißen Hunde, so nennen Seeleute die hohen Wellen, die über das Deck hinweggehen, wurden immer mehr.
Der Käpt'n war Widerworte nicht gewohnt. Er war viele Jahre als Oberbootsmann bei der Marine zur See gefahren und hielt etwas von Befehl und Gehorsam. Leute mit Dickkopf, die nicht spurten, nervten ihn. Gerade in Situationen wie dieser.
Freese schaute nur kurz zur Seite. Dann schrie er Rasmussen an. "Mach, was ich dir gesagt habe. Schnack hier nicht lang rum, sag mir lieber, ob das da draußen Schnee ist - und schau gleich mal nach dem Motor. Das Steuerrad vibriert so komisch. Nicht, dass jetzt noch der Diesel schlappmacht. Dann sind wir verloren. Na, geh schon. Du hast dir doch vorhin schon extra deine Schwimmweste angezogen, du Süßwassermatrose. Los, verpiss dich endlich. Der Klabautermann wird dich schon nicht gleich holen." Während Rasmussen die Tür öffnete, stieß Freese ein verächtliches Lachen aus. Der Kutterkapitän trug keine Rettungsweste. Davon hielt er nichts. Er verließ seinen Steuerstand nur höchst selten. Die Chance, als Käpt'n eines Fischkutters über Bord zu gehen, stand zum Glück schlecht. Die gefährlichen Außenarbeiten erledigte Rasmussen. Dafür wurde er bezahlt. Das war sein Job. Freeses Aufgabe war es, das Schiff zu steuern, gute Fanggründe aufzuspüren und die "Seemöwe" wieder sicher in den Hafen zu bringen. Der erfahrene Fischer sah auf den Windmesser. Mit 22 Metern pro Sekunde fegten Böen heran. Das entsprach Windstärke 9. "Hauptsache, wir kommen mit heiler Haut aus diesem beschissenen Unwetter heraus", dachte der Kapitän, während der Kutter in den Wellen schaukelte. Es ging hoch und runter. Immer wieder. Auf und nieder. Die Schleppnetze hätte er bei diesem Seegang ohnehin nicht ausbringen können. Das war klar. Diese Fangreise war volles Mett in die Hose gegangen. Kein Hol, kein Geld. Außer Spesen nichts gewesen. Freeses Stimmung war im Keller.
Rasmussen kam zurück. Als der Decksmann die Tür zum Steuerstand öffnete, musste er sie mit beiden Händen festhalten, damit sie nicht vom Sturm erfasst und aus den Angeln gerissen wurde. Der Fischer hatte keinen trockenen Faden am Leib.
"Ich konnte mich da draußen kaum auf den Beinen halten", stieß der Decksmann hervor und schüttelte sich wie ein nasser Pudel. "So ein Scheiß . Du hattest leider recht. Der Motor macht Probleme. Er verliert viel Öl und läuft nicht rund. Der rattert wie blöde. Hört sich nicht gut an. Und in der Bilge steht jede Menge Wasser. Aber so genau konnte ich das nicht sehen - zu dunkel da unten. Ach ja. Unser Leichtmatrose ist blass wie der Tod und kotzt sich die Seele aus dem Leib. Glaub mir: Aus Ronny wird nie ein Fischer. Das kannst du dir abschminken."
Freese biss sich auf die Unterlippe. Das tat er immer, wenn er angestrengt nachdachte. Rasmussens Sprüche über seinen Ziehsohn Ronny Rosslau, der davon träumte, später einmal selbst als Kutterkapitän rauszufahren, überhörte er einfach. Er mochte Ronny, der früher wie er beim Bund gewesen war. Der "Junge", so nannte Freese seinen inzwischen 29 Jahre alten Schützling, hatte es nicht immer leicht gehabt im Leben. Nach mehreren abgebrochenen Ausbildungen war er zu ihm an Bord gekommen, um Fischwirt zu werden. Freese wollte, dass Ronny nicht auf die schiefe Bahn geriet. Er wusste, dass der "Junge" mit 20 irgendetwas ausgefressen hatte. Was genau, wusste Freese nicht. Es war ihm auch egal. Der Käpt'n hatte auch schon mal Scheiße gebaut. Ronny sollte in seine Fußstapfen treten. Sein Sohn Hinerk zeigte kein Interesse daran, Fischer zu werden.
Freese wurmte das. Sein Gesicht war rot angelaufen. Er sah Rasmussen verächtlich an.
"Hast du Öl nachgekippt? Oder kannst du nur andere Menschen ankacken?", wollte er von seinem Decksmann wissen.
"Ja, klar doch", sagte Rasmussen. "Hältst du mich für einen ollen Döskopp - oder was?"
Was Freese von Rasmussen hielt, sprach er lieber nicht laut aus. Er hätte jetzt einen Seemannsfluch ausstoßen können, behielt ihn aber hinter verschlossenen Lippen.
"Wir müssen so schnell wie möglich raus aus diesem Schlamassel, sonst verlieren wir den Kutter und bekommen Besuch von Freund Hein", sagte Freese. "Spürst du das? Das Schiff kommt immer mehr ins Schlingern. Ich kann es kaum noch halten." Freese wischte sich mit dem rechten Handrücken ein paar feine Schweißperlen von der Stirn. Bekam er etwa Panik? Ausgerechnet er, ein alter Seebär .
Der Decksmann nickte nur stumm. Er sprach nicht viel. Und wenn er mal was sagte, dann waren es meist nur kurze Sätze. Rasmussen war kein Freund von Nebensätzen. Das Reden lag ihm nicht.
Sie waren zweifelsohne in eine brenzlige Situation geraten. Die Nähe des Todes schien nicht nur Freese zu spüren. Aber Rasmussen spielte den teilnahmslosen Beobachter. Er schien amüsiert von der Vorstellung, dass das Ende nahte. Dabei saßen er, der Käpt'n und Ronny im selben Boot. Würde der Kutter in die Tiefe gerissen, würden er und die anderen ein nasses Grab finden. Das stand fest wie das Amen in der Kirche. Trotzdem hatte Rasmussen keine Angst. Er wunderte sich selbst darüber. Stattdessen stellte er sich vor, wie der Kapitän von einer Monsterwelle ins Meer gespült wurde und in den eisigen Fluten um sein Überleben kämpfte, wie er salziges Wasser schluckte und dabei zappelte wie ein Fisch an Land. Das bereitete ihm Freude. Bunte Bilder reihten sich aneinander, wurden zu einem fiesen Horrorfilm, den nur Rasmussen vor seinem geistigen Auge sehen konnte. Der Film glich einem bösen Tagtraum, den der Decksmann im Angesicht des Todes in vollen Zügen genoss. Dass er selbst bald bei den Fischen liegen könnte, kam ihm in diesen Sekunden nicht in den Sinn. Dabei war ihm durchaus bewusst, dass er in Lebensgefahr schwebte. Dennoch wurden sein Denken und Handeln in diesem Moment von Gleichgültigkeit und Neugier bestimmt. Der Reiz, etwas Neues zu erfahren und Verborgenes kennenzulernen, war übermächtig und drängte alles andere in den Hintergrund. Er musste diesen Moment auskosten - auch wenn es absurd anmutete.
Käpt'n Freese drehte das Steuerrad hin und her. Er versuchte die Wellen, die auf ihn zurollten, von...
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