Schweitzer Fachinformationen
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Marica und Hrvoj verließen das Haus um fünf Uhr in der Früh mit der Absicht, nie wieder zurückzukehren, und ließen die Tür, die aus dem kleinen einstöckigen Steinhaus auf den Hof führte, offen. Sie hatte beim Öffnen gequietscht und hätte es beim Schließen erneut getan.
"Schlafende Hunde soll man nicht wecken", sagte Marica, als sie die befestigte Straße erreichten, und Hrvoj verstand nicht, was das bedeutete. Sie hatten keine Hunde und Onkel Petar von nebenan hatte seinen im Frühjahr erschlagen, weil er zu oft grundlos gebellt hatte.
Sie folgten der Straße nach links und erreichten noch vor Sonnenaufgang das Ende des Dorfes. Bis Biograd am Meer waren es etwa zehn Kilometer in südwestlicher Richtung. Sie schlenderten und hatten es nicht eilig. Marica sang für Hrvoj, was er liebte. Er summte oder sang mit, wo er die Worte wusste. Wenn sie zu hoch sang, blieb er mit der Stimmlage unter der ihren und erzeugte eine Harmonie, die so willkürlich und roh klang, wie er es von den Abenden kannte, an denen das halbe Dorf bei ihnen vor dem Haus sang. Immer wenn jemand gestorben war oder geboren wurde, wenn jemand heiratete oder Geburtstag feierte, sang man, je nach Anlass in überschwänglicher Freude oder in ebenso überschwänglicher Trauer. Hrvoj hatte oft unter dem Tisch gesessen und zugehört, sich nicht selten vor Schmerzen krümmend, wenn der Vater oder die Mutter ihn geschlagen hatte, weil er vielleicht eines der Schweine von Onkel Petar geärgert oder heimlich Wein getrunken hatte. Wenn der Vater selbst betrunken und ohne Geld aus der Stadt zurückgekommen war, hatten Hrvoj und seiner Schwester kein Verstecken und schon zweimal kein Flehen genützt. Hrvoj wusste nichts von den alten Geistern, die der Vater zu ersäufen versuchte, und hätte man ihm von ihnen erzählt, er hätte dennoch nicht verstanden, wieso der Vater die Tage des Krieges, oder die vielen Kriege der Tage danach, nun zu denen seines Sohnes machte. Die Schläge und das Grunzen des Vaters waren für Hrvoj ein erprobter Teil seines Daseins und er konnte eine gewisse Vorfreude nicht leugnen, die er während der unkontrollierten Hiebe auf Hintern und Rücken verspürte, waren sie doch in allem Schmerz auch die Vorboten dafür, dass seine Schwester später, wenn sie in einer Ecke des großen Wohnraums eng aneinandergekauert liegen würden, wieder für ihn singen würde. Ihre Stimme war für Hrvoj das tröstende Zeichen der Entwarnung. Ein kleines Ende des Krieges, jedes Mal aufs Neue.
Als sie am Mittag in Biograd ankamen, kauften sie am Busbahnhof zwei Fahrkarten nach Zadar. Marica schlief die ganze Fahrt über, während Hrvoj auf das Meer schaute. Er wäre am liebsten auf eines der Boote gestiegen, von denen er dort mehr erblickte, als er zählen konnte. Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr wurden es. Sie waren zumeist klein und kamen vom Fischen oder fuhren gerade hinaus, das konnte Hrvoj nicht auseinanderhalten. Einige waren größer und grau angestrichen und streckten Kanonenrohre in den Himmel. Ein Schiff für das Essen und ein Schiff für den Krieg, zählte Hrvoj, eins fürs Essen, eins für den Krieg. Dann entdeckte er ein Containerschiff von gigantischem Ausmaß im Hafen des Industriegebiets von Zadar. Ein bunter Koloss, beladen mit unzählbaren Dingen, die in die ganze Welt geschickt wurden. Ein blauer Klotz für China, ein gelber für Amerika, mehr Länder fielen ihm nicht ein. Ein großer, sich über ihm auftürmender Zauber ging von diesem Ozeanriesen aus und es war in diesem Moment, dass Hrvoj beschloss, Matrose zu werden. Zum etwa gleichen Zeitpunkt, knapp tausendfünfhundert Kilometer weiter nordwestlich, stand Herbert am Morgen nach der Sturmflut mit seinem Vater auf dem Deich vor den Trümmern des Bremerhavener Zoos, heulte wie wahnsinnig um die Tiere und beschloss endgültig, kein Matrose zu werden.
Das Verschwinden der Kinder bemerkten Hrvojs und Maricas Eltern erst zwei Tage später und selbst dann wären sie, hätte man sie gefragt, nicht auf die Idee gekommen, nach ihnen zu suchen. Onkel Petar von nebenan war es, der die Mutter anfuhr, sie solle sich Sorgen machen, aber diese wiegelte schroff ab, während sie ein Huhn am Hals hielt. Es gackerte panisch und versuchte vergebens, sich mit seinen dürren Beinchen vom Körper der Mutter abzustoßen. Aber es verfing sich nur immer wieder zwischen den Lagen ihres Kleides und der Schürze.
"Sie werden schon kommen, wenn sie Hunger haben."
Wenige Minuten später rannte das kopflose Huhn gegen die Rückwand des Hauses und kein Hund war in der Nähe, der mit dem zuckenden Kopf hätte spielen wollen.
"Wo trinkt die Henne Wasser?", fragte Marica ihren Bruder.
Und dieser legte den ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand in die Mitte der offenen Handfläche der linken und jauchzte: "Hier, hier!"
Sie wiederholte die Frage und er wiederholte die Bewegung.
"Hier, hier, hier!", quakte er vergnügt.
So hatten sie es gespielt, seit er denken konnte, und Hrvoj hatte noch nie darüber nachgedacht, warum die Henne ausgerechnet hier, in seiner Hand, Wasser trinken sollte. Es war ein Fingerspiel, mehr nicht. Aber an diesem Abend, als sie im Keller des noch unfertigen Hauses saßen und darauf warteten, dass ein Wunder geschehen möge, war er sich mit einem Mal unsicher.
"Wieso trinkt die Henne hier Wasser?" Er zeigte auf seine linke Hand.
"Wieso nicht? Irgendwo muss sie trinken", entgegnete Marica.
"Ja, sonst verdurstet sie am Ende." Hrvoj hatte auch Durst.
Marica schien es zu bemerken oder sie hatte selber Durst und ging an den Wasserhahn, der aus der groben Wand ragte, und füllte eine Karaffe. Sie beide tranken daraus und Hrvoj überlegte, ob er wohl auch aus seiner linken Hand trinken könnte wie die Henne.
In einer Ecke des Kellers war ein Matratzenlager. Der Vater kam oft hierher, wenn er in der Stadt war. Er war mehr in der Stadt als auf dem Dorf. Er hauste dann zumeist hier auf der Baustelle des Hauses, an dem er seit Jahren baute. Für wen, war niemandem so recht klar. Er hatte das Grundstück in einem günstigen Moment von einem slowenischen Geschäftsmann gekauft. Dieser hatte es von einem Notar aus Zadar erstanden, noch während des Krieges. Und dieser hatte vor dem Krieg vorgehabt, hier seine Villa zu errichten, hoch genug, um eine Aussicht auf das Meer zu haben. Als die Nazis gekommen waren, hatte er sich zu einer höheren Aufgabe berufen gefühlt und sich der Ustascha angeschlossen. Er hatte rasch Karriere gemacht und am Stadtrand von Diklo eine fertige Villa mit Meerblick bezogen. Als diese bei heftigen Luftangriffen der Briten zerstört worden war, war der ehemalige Notar schon übermotiviert selbst in den Kampf gezogen. Mehr hatte der Slowene nicht gewusst und mehr wusste Hrvojs Vater nicht. Oder er hatte es nie erzählt, zumindest nicht Hrvoj.
Über Marica und Hrvoj lag jetzt ein unfertiges Erdgeschoss. Durch die Decke roch es nach Eisenbahn. Warum, wusste Hrvoj nicht, aber er erkannte den Geruch von den wenigen Malen, als er mit seinem Vater am Bahndamm gewesen war. Lange konnten sie hier nicht bleiben, denn wer wusste schon, wann der Vater wieder hierherkäme. Später, als Marica eingeschlafen war, löste sich Hrvoj aus ihrer Umklammerung und tastete sich zur Kellertür vor. Flüsternd zählte er die sechs Treppenstufen, die seitlich an der Außenseite des Hauses zu einem kleinen Platz vor dem Gebäude führten. Das Haus lag da wie eine Ruine. Echte Ruinen gab es ringsumher genug. Hrvoj erinnerte sich, wie sein Vater an einem kalten Januarmorgen mit dem Spaten in der Hand geprahlt hatte, er könne das Haus ganz alleine bauen. Das war vor zwei Jahren gewesen und viel war seither nicht geschehen. Obwohl sich die Stadt seit einiger Zeit in einem enormen Aufschwung befand und überall alte Hotels in neuem Glanz erstrahlten, fand man in den Vierteln des vom Meer abgelegenen Teils der Stadt noch immer ein Chaos aus zerstörten Häusern, zu denen keine oder nur unbefestigte Straßen führten, an Kratern und brachliegenden Grundstücken vorbei.
Hrvoj hörte das Treiben der Stadt, wandte sich vom Haus ab und lief den Weg entlang zur großen Straße. Die Sonne war schon fast untergegangen und färbte mit dem letzten verbleibenden Licht alles in ein taumelndes Blau. Vor einer Metzgerei auf der leicht abschüssigen Hauptstraße wurden Hühner gebraten. Mehrere Männer standen um die kopflosen und sich drehenden Hühnerkörper herum, darunter ein Polizist. Hrvoj setzte sich auf ein Mäuerchen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtete die Gruppe. Sie gestikulierten wild und lachten schallend. Es unterschied sie nichts von den Männern im Dorf. Sie alle sahen für Hrvoj wie sein Vater aus und er hätte nicht mit Sicherheit sagen können, ob dieser nicht vielleicht unter ihnen war. Er bekam Angst und lief weiter Richtung Busbahnhof. Dort war es fast menschenleer. Ein Rudel Hunde lungerte am oberen Eingang. Hrvoj überlegte, wer die Hunde wohl geweckt hatte.
Es fuhren nicht viele Autos. Hrvoj schlug den Weg Richtung Altstadt ein. Er zählte die Schritte von einer Laterne zur nächsten. Das Blau der Dämmerung wich dem Gelb der...
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