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Montag, 7. Mai 2018. Das Konzert der irischen Popgruppe U2 im SAP-Center in San Jose war zu Ende. Wo zuvor eine großartige Lightshow mit Tausenden von LED-Lampen die Konzerthalle beleuchtete, strahlte nun die Hallenbeleuchtung trostlos auf die Zuschauer hinab, die sich von ihren Plätzen erhoben und hinausströmten in die Nacht.
Jessie summte seinen Lieblingssong «Staring at the Sun», während er mit all den andern die Tribünentreppen hinunterstieg. Am Ausgang wurde er angerempelt und verlor beinahe das Gleichgewicht. Zuerst dachte er, jemand hätte ihn erkannt, aber so war es nicht.
Er zog seine Baseballmütze noch tiefer ins Gesicht und ließ sich dann mit der Menschenmenge hinaustreiben auf den riesigen Parkplatz, wo ihn sein goldener Pontiac Catalina Station Wagon erwartete. Eigentlich war es ein Irrsinn, den ganzen Weg von L.A. hochzufahren nur für dieses eine Konzert, aber U2 waren nun mal seine Lieblingsband. In wenigen Stunden würde er wieder in Los Angeles sein, wo das große Finale wartete.
Auf dem Parkplatz beobachtete er einige Arbeiter, die damit beschäftigt waren, auf einem gigantischen Stahlgerüst ein neues Filmposter aufzukleben. Einige Buchstaben fehlten noch, aber Jessie kannte den Film sowieso bereits. In riesigen Lettern stand da: «A Netflix Original Series, coming up this fr.. Hollywood J..»
Auf dem Rücksitz seines Wagens lag seine braune Ledersporttasche mit seinen Habseligkeiten, denn die Zeit war zu knapp, um zum Schlafen nach Hause zu fahren. Also würde er versuchen, im Wagen ein paar Stunden Schlaf zu kriegen.
Beim ersten Drehen des Zündschlüssels sprang der V8-Motor ohne Murren an und blubberte vor sich hin. Nach kurzem Rauschen meldeten sich aus den Lautsprechern U2: «You're not the only one, staring at the sun .»
Am nächsten Morgen waren die Autoscheiben seines Wagens beschlagen vom Morgennebel, der über der Küste schwebte wie eine weiße Bettdecke, die jemand nachts vom Meer her über die Stadt der Engel gezogen hatte.
Jessie schlief zusammengerollt auf der Ladefläche seines Pontiac-Kombis. Sein Kopf ruhte auf seiner Ledertasche, und sein Körper war zur Hälfte bedeckt mit einer grünen Army-Jacke, unter der sein Gesicht verborgen war.
Im Innenraum des Autos roch es ein wenig nach Benzin. Jessie war die ganze Nacht von San Jose durchgefahren. Auf halbem Weg musste er irgendwo in der Nähe einer kleinen Stadt namens El Paso de Robles tanken. Beim Herausziehen des Zapfhahns ergoss sich ein kleiner Schwall Benzin über seinen Unterarm und bildete sofort einen großen dunklen Fleck auf seinem Ärmel. Er machte einen Sprung rückwärts und verbrannte sich dabei seine Lippen am heißen Kaffee, den ihm ein mürrischer Tankwart zuvor in einen Styroporbecher gefüllt hatte.
Mit einem Schlag war er hellwach. Er stieg ein und steuerte seinen Wagen über die staubige Tankstelleneinfahrt zurück auf den Highway. Der Pontiac schnurrte wie eine vollgefressene Katze. Jessie nahm eine bedruckte Seite Papier aus einem Stapel und murmelte leise die Worte, die auf den untersten zwei Linien standen: «Vater, nimm diesen Becher weg von mir, doch nicht, was ich will, sondern was Du willst, soll geschehen.» Dann schob er die Seite zurück in den Stapel.
Als die Sonne aufging, rollten die Weißwandreifen seines riesigen Kombis über den Santa Monica Boulevard. Es war Dienstagmorgen, noch sehr, sehr früh. Jessie lenkte seinen Wagen hinunter auf das Deck des Santa Monica Piers und zog einen Parkschein. Er musste noch ein paar Stunden schlafen, bevor der letzte große Tag begann. Er stieg aus und öffnete den riesigen Kofferraum, rollte sich hinein und zog von innen die Hecktür zu. Dann griff er nach der Tasche auf dem Sitz vor ihm und legte seinen Kopf darauf. Er zog die Jacke über sich und schlief sofort ein.
Aus dem Tiefschlaf weckte ihn ein Pochen und Klopfen auf das Dach seines Wagens. Die Parkplätze links und rechts von ihm hatten sich gefüllt, und auf dem Pier bildete sich eine große Menge.
Jessie rieb sich die Augen. Draußen rief ein Mann lautstark: «Da bist du ja, Jessie, komm schon raus, heute ist dein letzter Tag! Action, Jessie, Action!» Er stieg aus und schlug die Heckklappe seines Kombis zu. Durch die Ritzen der Holzplanken des Santa Monica Piers schimmerte das Meer. Eine der Möwen, die über ihm kreisten, setzte zur Landung auf dem schmalen Geländer an.
Der Himmel war strahlend blau, und ein frischer Wind trug den Duft von Meersalz, Muscheln und Seetang hinauf auf den Pier. Rostige Nägel ragten in Reih und Glied aus dem Holz wie eine Garnison römischer Soldaten in Marschformation. Aus den Gondeln des weißen Riesenrades, das sich gemächlich im Wind drehte, erklang das Lachen von Kindern. Einige Meilen im Hintergrund zierten weiße Buchstaben einen kargen Hügelzug: Hollywood.
Jessie bahnte sich einen Weg durch die Menge. Alle wollten heute dabei sein, hatten seine Wundertaten am Fernsehen mitverfolgt, und die Social-Media-Kanäle waren voll mit Berichten über ihn.
Der Showdown begann! Tausende waren zum Pier gekommen, um mit eigenen Augen zu sehen, wie er Kranke heilen, Blinde sehend und Taube hörend machen würde - und wie er den Menschen ihre Sünden vergab. Andere waren da, weil sie das angekündigte Spektakel aus erster Hand beobachten und beurteilen wollten.
Eine kleine Frau mit verkrümmter Wirbelsäule und in alte Lumpen gekleidet folgt ihm durch die Menschenmasse und berührt seinen Trenchcoat. Umgehend wird sie von der Kraft, die von ihm ausgeht, ergriffen und richtet sich auf der Stelle kerzengerade auf. Sie hebt die Hände gegen den Himmel und beginnt, Gott in einer fremden Sprache zu loben. Sie tanzt aufrecht vor den Menschen, die verwundert stehen bleiben, und klatscht mit ihren Händen über dem Kopf. Ihre Lumpen verwandeln sich in ein edles, mit Goldfäden durchwobenes Kleid und glitzern in der Sonne. Ihre wegen der Schmerzen zerfurchten Gesichtszüge verschwinden, und Freude strahlt aus ihren funkelnden Augen. Sie stimmt ein Kirchenlied an, und einige der Umstehenden summen mit: «Du gibst mir Schönheit statt Asche.»
Die Leute scheinen zu Tränen gerührt. Jessie dreht sich um und läuft weiter. Ein Kind, in weißes Leinen gewickelt, wird ihm vor die Füße gelegt, offensichtlich ist es gestorben. Wehklagen schwingt durch die Luft, Frauen schluchzen. «Hört auf zu weinen», sagt er sanft. «Das Kind ist nicht tot, es schläft nur.»
Einige Männer lachen, während Jessie niederkniet, das Mädchen bei der Hand fasst und ruft: «Kind, steh auf!» Das Mädchen erhebt sich, springt zur Mutter und umarmt sie. Ein Raunen geht durch die Menge. Das Wehklagen schlägt um in Freudengeschrei.
Jessie schaut hinauf zum blauen Himmel und blinzelt in die Sonne. Vom Helikopter aus filmt ein Team die Szene aus der Luft. Die Umstehenden strecken ihre Smartphones aus und posten ihre Aufnahmen mit Kommentaren in die Datenwolken, damit geschehe, was geschrieben steht: «Seht, er wird auf den Wolken kommen. Alle Menschen werden ihn sehen, auch die, die ihn ans Kreuz geschlagen haben.»
Ein kleinwüchsiger rundlicher Mann, der in Los Angeles diverse Night-Clubs und auf dem Santa Monica Pier ein Restaurant besitzt, will Jessie um jeden Preis sehen, doch niemand macht ihm Platz. Wer ihn kennt, weiß, dass er sich seinen Reichtum ergaunert und erschwindelt hat. Er klettert vor seinem Etablissement auf einen Abfallkorb, der an einer Laterne befestigt ist, um einen Blick auf Jessie zu erhaschen. Als dieser an ihm vorübergeht, spricht er ihn an: «Steig von der Laterne, Zaccini, ich werde heute bei dir einkehren.»
Einige, die an ihrer Kleidung als eine religiöse Gemeinschaft erkennbar sind, murmeln erzürnt. Jessie aber lässt sich nicht beirren und setzt sich mit Zaccini an einen freien Tisch auf der Veranda. Die Kellner bringen umgehend einen Korb Brot und verneigen sich.
Die Menge vor dem Restaurant tobt, einige Reporter schimpfen: «Wir sind doch nicht gekommen, um ihm beim Essen zuzusehen!» Zaccini jedoch tanzt vor Freude um den Tisch und ruft: «Lieber Jessie, ich werde die Hälfte meines Vermögens an die Armen in der Stadt verteilen, und wem ich zu Unrecht Geld abgeknöpft habe, dem gebe ich es vielfach zurück.»
Jessie umfasst seine Hand und zieht ihn auf den Nachbarstuhl. Er nimmt ein Brot aus dem Strohkorb und bricht es in zwei Teile. «Wie viele davon habt ihr noch?», fragt er einen Kellner. «Wir haben nur noch wenige Brote, denn die Bäckerei konnte heute wegen dem Getümmel auf dem Pier nicht liefern», antwortet dieser. Da fordert Jessie die Menschen mit einer Geste auf, still zu sein. Er erhebt sich, spricht ein Dankgebet und teilt die Brote an die Kellner aus, die diese weiterverteilen.
Kurze Zeit später stehen Tausende kauend auf den Planken des Santa Monica Piers. Nur das Summen einiger Drohnenkameras ist zu hören. Das Riesenrad hat aufgehört, sich zu drehen, und das Lachen der Kinder ist verstummt. «Er hat das Brot vermehrt, ein weiteres Wunder», flüstert eine Reporterin in ihr Mikrofon, während sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht wischt und mit einem Taschentuch eine Träne aus dem Auge tupft.
Jessie wendet sich an Zaccini: «Heute hat Gott dir und allen, die mit dir leben, Rettung gebracht. Ich bin gekommen, um Verlorene zu suchen und zu retten: Heute habe ich dich gefunden.»
Er tritt von der Veranda und geht durch die Gasse, die von den Menschen vor ihm gebildet wird. Er weiß, es ist sein letzter Gang, denn draußen auf dem Pier wartet John Anghrist, der bekannte TV-Evangelist, auf ihn. Er hatte Jessie in seinen Fernsehsendungen angegriffen und ihm vorgeworfen, seine Wundertaten seien Magie und Hexerei,...
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