Schweitzer Fachinformationen
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Entweder ich habe bei unserem Mädelsabend gestern doch zu viel getrunken, oder mir hat jemand was ins Sektglas gemischt. Wie auch immer, jedenfalls hat gerade eben in aller Herrgottsfrühe der Weihnachtsmann bei mir geklingelt. Der echte Weihnachtsmann - zumindest behauptet er das.
Schlaftrunken lehne ich mich an den Türrahmen, der sonst auch weniger schwankt, und ziehe den Gürtel meines Bademantels enger. An Heiligabend hätte ich mir so eine Aktion ja noch gefallen lassen - mit einem großen Sack voller Geschenke im Schlepptau. Aber heute ist der zweite Dezember.
»Volltreffer!«, ruft der Rauschebart, und seine ernste Miene wird zu einem Sechser-im-Lotto-Strahlen. »Sie sind die Richtige!«
»Ahm, und wofür, bitte?« Ich ziehe die Stirn in Falten, was meine Kopfschmerzen augenblicklich verstärkt. Er zögert seine Antwort so genussvoll hinaus, dass ich glaube, bei einem Gewinnspiel den Hauptpreis gewonnen zu haben.
Allerdings habe ich nirgendwo mitgemacht. Ziehen die Staubsaugervertreter neuerdings im langen roten Mantel durch die Gegend?
Vorsorglich lege ich meine Hand auf die Türklinke. Wenn der es wagt, mir was verkaufen zu wollen ... Aber vielleicht habe ich ja auch mal Glück. Das könnte ich als Mutter von zwei pubertierenden Kindern und gerade frisch getrennt von meinem Mann, der vor vier Wochen Knall auf Fall bei seiner Arbeitskollegin - natürlich deutlich jünger als ich mit meinen zweiundvierzig Jahren und ohne Schwangerschaftsandenken - eingezogen ist, gerade ganz gut gebrauchen.
Er breitet die Arme aus, so als hätte er mich nach einer langen Reise endlich gefunden.
»Sie sind das neue Christkind!« Seine Begeisterung kennt keine Grenzen, während meine hochgeschraubte Erwartungshaltung einem »Sie haben eine Heizdecke gewonnen«-Gefühl weicht.
Er klopft auf das Türschild, weil ich in seinen Augen noch nicht ganz überzeugt scheine. Ich nenne es eher Fassungslosigkeit darüber, wie jemand sonntagmorgens um sechs so dreist sein kann.
»Sarah Christkind! Sie sind es! Das neue Christkind. Und was für schöne Engelslocken Sie haben. Sie könnten nur etwas blonder und ordentlicher gekämmt sein, aber das macht nichts, das bekommen wir hin.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Um diese Uhrzeit ist mein Nervenkostüm noch sehr, sehr dünn - insbesondere, wenn ein durchgeknallter Weihnachtsmann vor mir herumturnt, während ich noch völlig neben mir stehe.
»Ihnen geht s ja wohl zu gut! Was soll der blöde Scherz? Ich bin nicht das Christkind, ich heiße nur so. Das ist wie bei Ihnen, Sie sind ja auch nicht der Weihnachtsmann. So, und jetzt lassen Sie mich und meinen Kater gefälligst in Ruhe!«
Ich hätte wissen müssen, dass sein Fuß schneller in der Tür ist, als meine sektgetränkten Synapsen schalten können.
»Das ist kein Scherz. Und natürlich bin ich der echte Weihnachtsmann.«
»Natürlich«, seufze ich. Wenn überhaupt, dann ist der Weihnachtsmann alt und dick, aber der Typ vor mir ist noch keine fünfzig und stammt offenbar aus dem Portfolio einer Modelagentur, wie Jeff Bridges in seinen besten Jahren mit Rauschebart und unverschämt blauen Augen. Doch ganz gleich, wie gut er aussieht, mir können zurzeit sämtliche Männer gestohlen bleiben. Besonders solche merkwürdigen Typen um diese Uhrzeit.
»Was auch immer Ihr Problem ist, wir können gern darüber reden. Das ist mein Job, aber nicht sonntagmorgens.« Ich angle eine Visitenkarte unserer psychologischen Gemeinschaftspraxis vom Garderobenschränkchen, die sich im selben Haus befindet. »Rufen Sie morgen in meiner Praxis an und lassen Sie sich einen Termin geben.«
Der Rauschebart vom Laufsteg schüttelt den Kopf. »Ich habe kein Wir-müssen-darüber-reden-Problem. Das ist ein Wir- brauchen-Schaufel-und-Müllsack- Problem.«
»Ein ... bitte was?«
Aus seinen arktisblauen Augen weicht aller Glanz. »Ich ... ich habe das Christkind umgebracht ... « Die Worte fallen ihm schwer, und mir wird ganz anders. Was faselt der da? Oder anders gefragt: Was hat man dem armen Kerl eigentlich ins Bier gekippt? Seine breiten Schultern heben und senken sich wie unter einer schweren Last.
»Allerdings nicht mit Absicht, das müssen Sie mir glauben! Die Schlittenkollision war ein Unfall. Durch den Zusammenstoß ist das Christkind ohnmächtig geworden und vom Himmel gefallen. Ich wollte das wirklich nicht! Jeder denkt, ich hätte etwas gegen das Christkind, aber das stimmt nicht, Ehrenwort! Ich stehe jetzt nämlich ganz allein da - kurz vor dem Weihnachtsfest. Aber nun habe ich ja ein neues Christkind gefunden!«
Der Ernst, mit dem er seine Geschichte vorträgt, bringt mich fast zum Lachen. Immer wieder phänomenal, was eine kranke Seele mit einem Menschen machen kann.
Anstelle einer Antwort kritzle ich ein paar Zahlen auf einen Zettel. Die Nummer des sozialpsychiatrischen Diensts, genau für solche Notfälle gedacht.
Der Typ sollte mit der Behandlung nicht mehr bis morgen warten. »Rufen Sie da an. Die sind jederzeit erreichbar und haben von solchen ... Unfällen schon öfter gehört. Dort sind Sie an der richtigen Adresse.«
»Nein, das bin ich bei Ihnen. Sie sind meine Rettung - ach, was sage ich, die Rettung des Weihnachtsfests! Sie müssen mir helfen!«
Wenn das hier noch länger so weitergeht, muss ich in eigener Sache dort anrufen - weil ich so langsam nur noch rotsehe, was sicher nicht an seinem Mantel liegt.
»Ich, Sarah Christkind, muss gar nichts, außer dringend zurück ins Bett! Und Sie lassen mich gefälligst in Ruhe!«, schmettere ich dem Spinner entgegen. Erst die Worte, danach die Tür.
Wieder allein, atme ich tief durch, fahre mir durch die schulterlangen Locken und frage mich, ob das gerade wirklich passiert ist oder ich vielleicht in einem merkwürdigen Traum stecke. Mein Kneiftest beweist mir, dass ich mich mitten in der Realität befinde - wenn auch noch nicht ganz wach, weil ich gerade mal drei Stunden Schlaf hatte.
Wenn ich das meinen Freundinnen erzähle - die lachen sich kaputt. Warum passieren eigentlich immer nur mir solche komischen Sachen? Durch meinen Berufsalltag könnte ich ganze Bände mit kuriosen Geschichten füllen, aber so was habe ich dann auch noch nicht erlebt.
Nun schaltet sich doch mein Gewissen ein, und ich frage mich, ob ich ihn in diesem Zustand abweisen durfte, wenn das nicht nur ein blöder Scherz war - allerdings frage ich mich das nur vom Flur bis ins Schlafzimmer.
Oder besser gesagt: nur so lange, bis es erneut klingelt. Sturm klingelt.
Wie um alles in der Welt mache ich diesem sturen Rauschebart begreiflich, dass ich nur zufällig Locken habe und mit Nachnamen Christkind heiße - und dass er nicht der echte Weihnachtsmann ist, sondern einen echten Dachschaden hat, um es mal ohne Umschweife zu sagen.
Zu diesem Zeitpunkt ahne ich noch nicht, dass das für die nächsten knapp 24 Tage mein kleinstes Problem sein würde.
***
Als ich gegen Mittag beschließe, aus dem Bett zu kriechen und meinen Kater und damit auch mich an die frische Luft zu setzen, kann ich über die frühmorgendliche Begegnung bereits lachen. In meinem zehnjährigen Berufsleben sind mir schon einige skurrile Typen und sämtliche psychoneurotischen Störungen untergekommen - aber noch keiner hat sich für den Weihnachtsmann gehalten und dabei auch noch geglaubt, das Christkind umgebracht zu haben.
Die Wintersonne blendet mich, als ich aus dem Schatten unseres schönen Altbaumehrfamilienhauses auf die ruhige Seitenstraße am Kaiserplatz trete, wo die Glocken der gegenüberliegenden St.-Ursula-Kirche den Mittag einläuten. Ein Spaziergang auf meinem Lieblingsweg durch den Englischen Garten an der Isar entlang wird mir bestimmt guttun. Also Sonnenbrille aufsetzen und hoffen, dass die Kopfschmerzen besser werden.
Bis die Kinder heute Abend nach Hause kommen, muss ich wieder fit sein. Meine Pubertiere sind heute zum ersten Mal seit der Trennung übers Wochenende bei ihrem Vater und damit auch bei seiner neuen Flamme. Ich bin gespannt, was sie erzählen. Hoffentlich hassen sie dieses Weibsstück.
Für solche Gedanken sollte ich mich eigentlich schämen, aber ich tue es nicht. Dafür liebe ich meinen Mann noch zu sehr, und selbst wenn in unserer Ehe das einzig Aufregende nicht mehr die Nächte, sondern die Diskussionen mit unserer 13-jährigenTochter und dem 15-jährigen Sohn waren, hatte sie kein Recht, mir meinen Mann auszuspannen. Natürlich sagt mir mein Verstand, dass dazu immer zwei gehören, aber mein Herz ignoriert das.
Den Weihnachtsmann kann ich nicht ignorieren. Noch weniger seinen prächtigen Schlitten samt der Rentiere auf der verschneiten Grünfläche vor der Kirche, wo sich auch der Spielplatz befindet.
Doch der ist wie leergefegt, weil sämtliche Kinder und Erwachsene entweder die Tiere streicheln, in der Kutsche sitzen oder den Weihnachtsmann belagern, der mit großen Gesten gerade von seinem Leben erzählt.
Wow, eine ganz schön interessante Form der dissoziativen Störung, denke ich fasziniert. Könnte aber auch eine aus dem bipolaren Formenkreis sein. Er wäre nicht der Erste, der Haus und Hof im Glauben an eine andere Identität versetzt - und dabei alles verliert, vor allem sich selbst.
Dem Mann muss dringend geholfen werden - oder doch besser mir?, kann ich mich gerade noch fragen, nachdem er mich entdeckt hat, seine Geschichte abrupt unterbricht, die Arme in die Luft wirft und durch den Kreis seiner irritierten Zuhörerschaft auf mich zustürmt.
»Na, endlich ausgeschlafen?« Er will mich zum Schlitten hinüberziehen. »Kommen Sie, die Fahrt geht los!«
»Sie lassen mich jetzt sofort los!«, schreie ich wutentbrannt und zugegebenermaßen...
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