Schweitzer Fachinformationen
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Geschehen zu Hamburg und London
im Monat Oktober A. D. 1757
Denn vielleicht wurde er deshalb eine Weile von dir getrennt, damit du ihn für ewig zurückerhältst.
Philemon 1,15
Um Mitternacht blies der erste Herbststurm gegen die verbliebenen Mauern der einst so prachtvollen Michaeliskirche - kein Glockenton, kein Zeiger verkündete mehr die Uhrzeit, als eine schlanke Gestalt zwischen den verstreuten Steinquadern umherschlich, die einst das Kirchenschiff bildeten. Ein Blitzschlag hatte das Wahrzeichen Hamburgs in Brand gesteckt. Die Flammen zerstörten binnen weniger Stunden, was die Menschen für ewig gehalten hatten. Die Glocken waren vom Turm gestürzt, dröhnend auf der Erde aufgeschlagen, das vergoldete Zifferblatt war in unzählige Stücke zerbrochen und hinter dunklen Qualmwolken verbrannt.
Sieben Jahre waren seit der Brandnacht vergangen, doch es erschien Merit, als ob es gestern gewesen wäre. In dieser Kirche, von allen nur liebevoll Michel genannt, waren sie nur zwei Wochen vor der Unwetternacht getraut worden. Merit dachte gerne an ihre Hochzeit zurück. Sie liebte Geertjan noch wie am ersten Tag.
In dieser ersten kühlen Herbstnacht nach einem ungewöhnlich heißen Sommer hatte Merit keinen Schlaf finden können. Halb wach, halb träumend schaute sie der Krähe hinterher, die sich im schwachen Mondlicht vom höchsten Punkt der schwarzen Mauern aus in die Lüfte schwang, dem silbern gesprenkelten Himmel entgegen. Merit legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die dunkle Halbkugel, die sich um die Erde wölbte. Hier fühlte sie sich geborgen - anders als am Tag, wenn das raue Leben nach ihr griff und ihre Geschicke lenkte.
Ob Geertjan den hellen Stern dort im Norden auch sehen konnte? Hoffentlich. Denn das würde bedeuten, er hätte die Äquatorlinie nach Norden hin passiert, und bis zu seiner Heimkehr dürfte es nicht mehr allzu lange dauern. Schon seit Wochen wartete sie jeden Tag darauf, dass er wieder vor der Tür stehen würde und sie ihn in die Arme schließen könnte.
Sie mochte dieses Himmelslicht, seinen strahlenden Glanz, an dem der Steuermann auf offener See die ungefähre Position des Schiffes ablesen konnte. Der Polarstern blieb immer an derselben Stelle und verriet, ähnlich wie die Sonne am Tag, nach einer kurzen Rechnung den Breitengrad. Damit bot er eine Orientierung, wie weit nördlich oder südlich sich das Schiff befand. Mehr aber auch nicht, wie Geertjan zu sagen pflegte. Merit lächelte. Sie kannte ihren Mann. Wahrscheinlich hatte er sich längst mit dem Kapitän wegen irgendeiner Kleinigkeit bei der Steuerung des Schiffes angelegt und musste nun zur Strafe die unbeliebte Wache nach Mitternacht übernehmen. Zuzutrauen wäre es ihm. War er von einer Sache überzeugt, so trat er leidenschaftlich dafür ein. So wie an jenem Tag, als er seinen Zwillingsbruder Manulf vor den Richter bringen wollte und die Familie damit entzweite.
Besonders Ruben litt unter der Situation. Überhaupt hatte es der Junge in letzter Zeit nicht leicht gehabt, das musste sie sich eingestehen. Seit sein Vater zur See gefahren war, hatte er sich immer stiller verhalten, er war regelrecht in sich gekehrt. Ihm fehlte sein Vater. Aber was sollte sie tun?
Unter den Sturm mischte sich ein Geräusch, das Merit aufhorchen ließ. Ein scharfes, rhythmisches Knirschen. Sie drehte den Kopf, um zu ergründen, aus welcher Richtung es kam. Verhaltene Hufschritte näherten sich. Kaum hatte sie sich nach dem Krayenkamp umgewandt, der um die Kirche herum in die Stadt führte, sah sie auch schon den Reiter auf sich zukommen. Eine schlanke, aufgerichtete Gestalt, deren markantes Gesicht von der Laterne erhellt wurde, die er neben sich hielt. Ein Freudenschauer durchrieselte sie, weil sie Geertjan vor sich wähnte, aber nur einen Augenblick später erstarb ihr Glücksgefühl, als sie Manulf im Sattel erkannte.
Er parierte sein Pferd eine Mannslänge entfernt von ihr durch, indem er an den Zügeln riss und der Schimmelstute dabei das Maul bis fast an die Brust drückte. Die Augen des Pferdes weiteten sich, und es blieb mit leicht erhobenem Schweif stehen. Die Flanken bebten. Im Schein der Lampe zeichneten sich die Rippen des Tieres deutlich unter dem Fell ab. Es war am Bauch und an den Hinterbeinen gelb verfärbt und mit Dreckkrusten durchsetzt. Aber das mochte auch von der Straße kommen, dachte sie.
Als Manulf das Wort an sie richtete, fröstelte sie.
»Guten Abend, Merit.«
»Guten Abend, Manulf.« Sie versuchte, trotz des ungewöhnlichen Zusammentreffens ruhig und sachlich zu bleiben. Es gab keinen Grund, Angst vor ihm zu haben. Äußerlich war er Geertjans Ebenbild, bis auf den kleinen anatomischen Makel, den Schwimmhautlappen an der linken Hand. Und doch war dieser Mann ihr über all die Jahre fremd geblieben. Nie hatte sie sein Haus betreten, obwohl ihre Schwester dort gelebt hatte, der Tag von Barbaras Niederkunft war eine Ausnahme gewesen. Auch in der Uhrenwerkstatt hatte sie im Lauf der Jahre nur das Notwendigste mit Manulf gesprochen. Einzig am Tag ihrer Hochzeit hatten sie sich kurz die Hand gereicht, nachdem Manulf seinem Zwillingsbruder Geertjan die eigens gefertigte Taschenuhr als Hochzeitsgabe überreicht hatte. Eine feste, zupackende Hand, rau wie ein Stein. Danach war er wieder vom Fest verschwunden. Es gab eine Distanz zwischen ihnen, vom ersten Tag der Begegnung an, die sie beide in stummer Abmachung aufrechterhielten.
Die ganze Zeit über hatte sie die nächtliche Kälte nicht gespürt, jetzt aber zitterte sie. Oder war es aus Angst? Der Wind kroch über ihre Wangen und zupfte an ihrer Kleidung. Sie zog den Umhang enger um die Schultern.
Manulf ließ sich vom Pferd gleiten. »Ich habe erwartet, dich hier zu treffen. Am Ort eurer Trauung . Die Sorge um Geertjan treibt dich wohl um. Glaubst du immer noch, dass er zurückkommt?«
Unwillkürlich wich Merit einen Schritt zurück.
»Natürlich glaube ich das! Was willst du überhaupt hier? Stellst du mir nach?« Sie sah ihm direkt in die Augen, in Geertjans Augen. Ihr Zorn schwankte.
Manulf lachte auf. Ein tiefes, kraftvolles Lachen. Sie kannte es. »Wohin denkst du? Ich kann nicht schlafen. Genauso wenig wie du. Und was liegt da näher, als hierherzukommen?«
»Dann kann ich ja gehen.«
»Natürlich. Du bist frei. Wieder frei.«
Wieder frei. Sie schluckte die Worte hinunter wie ein trockenes Stück Brot.
»Schlaf gut, Merit«, rief er ihr halblaut hinterher, als sie sich einige Schritte von ihm entfernt hatte.
»Du auch.« Im selben Augenblick verfluchte sie sich für die Antwort, die ihr wie von selbst über die Lippen gekommen war, nachdem sie die vertraute Stimme in ihrem Rücken gehört hatte.
Der Heimweg verhieß einen Fußmarsch von rund einer halben Stunde quer durch eine ungewöhnlich helle Stadt. Mehrmals drehte sie sich noch nach Manulf um, doch, soweit sie das sehen konnte, folgte er ihr nicht.
Nahezu eintausend Leinöllampen leuchteten unregelmäßig verteilt aus der Dunkelheit wie die Sterne am Himmel. Das Entzünden der Laternen richtete sich nach dem Mond- und Leuchtenkalender. Bei Vollmond arbeiteten die Anstecker und Nachpurrer nicht, war hingegen Neumond, dauerte ihr Dienst im Winter zehn Stunden und länger.
Beim Pulverturm traf sie auf einen Stocklaternenträger, der sich wie viele der armen Tagelöhner noch nächtens ein paar Schillinge als Zubrot verdiente. Sie war vernünftig genug, seine Dienste zusätzlich in Anspruch zu nehmen, auch wenn sie die Ausgabe schmerzte. Ungeachtet der städtischen Beleuchtung würde für sie als verdächtige, im Finsteren dahineilende Gestalt ein Zusammentreffen mit dem Nachtwächter unangenehm und vor allem teuer werden. Trotz dieser Vorkehrungen fühlte sie sich auf dem Heimweg unbehaglich. Sie folgte ihrem Begleiter durch die Neustadt, über Brücken, die die wassergefüllten Lebensadern der Stadt überspannten, über schmale und breite Fleete, auf denen tagsüber Waren vom Hafen an der Elbe mittels kleiner Schiffe zu den Kaufmannshäusern gebracht wurden, um deren Speicher zu füllen. Auf einem kolorierten Kartenstich hatte sie einst gesehen, dass die Stadt von oben betrachtet wie ein Auge aussah, umgeben von einem Wimpernkranz dicht an dicht stehender Bastionen, die das blühende Leben im Inneren schützten.
Bei stärker werdendem Wind passierten sie die Trostbrücke zur Altstadt hin. Der fröhliche Zecherlärm aus dem Kaiserhof, in ihren Ohren Kriegsgeschrei wild gewordener Männer, trieb sie vorwärts. Am Rathaus bogen sie nach rechts und schlängelten sich durch die wurzelartig verflochtenen Straßen bis zu dem dreistöckigen Haus in der Niedernstraße, unweit des Mariendoms, dessen baufälliger Kirchturm dem Herumtreiber Ruben immer wieder den Weg nach Hause wies.
Auf Zehenspitzen trat Merit über die Türschwelle. Der vertraute Geruch des harzigen Feuerrauchs, der an den feuchten Kalkwänden haften blieb und dort schwarze Stellen hinterließ, stieg ihr in die Nase.
Die Dunkelheit im Haus erinnerte sie an die Unziemlichkeit ihres nächtlichen Ausflugs, weshalb sie sich mit nunmehr schlechtem Gewissen die Treppe hinaufschlich. Wenigstens war Pauline auch schon zu Bett gegangen - und damit nicht in der Lage, ihr irgendwelche Vorhaltungen zu machen. Ihr Vater hingegen war noch wach, das Geräusch seiner ruhelosen Schritte drang aus seinem häuslichen Gefängnis.
Oben angelangt, hatte Merit kaum mit einem Seufzer ihren Gedanken Ausdruck verliehen, als sich neben ihr die schmale Tür zur Schlafkammer der Schwiegermutter öffnete. Mit ausdrucksloser Miene erhob Pauline ihre stumme Anklage.
Merit...
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