Schweitzer Fachinformationen
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Carina eilte zwischen zwei Modeläden hindurch, die Absätze ihrer Ankle Boots klackerten auf den Steinfliesen. Der IC stand bereits am Gleis, vor den Türen stauten sich Fahrgäste. Sie entschied sich für die Treppe, packte ihren Trolley und hetzte hinab.
Ihr reservierter Platz befand sich in einem Großraumwagen. Sie öffnete die Automatiktür, schob ihren Rollkoffer in den freien Raum zwischen Wand und erster Sitzreihe und seufzte. Der erste Teil der Reise war geschafft. »Darf ich?«, fragte sie.
Der junge Mann auf dem Gangplatz sah auf, aus seinen Ohrhörern plärrte Rap. Sie lächelte und deutete auf den freien Platz, er erhob sich.
»Vielen Dank!«
Sie ließ sich auf den Sitz fallen, stellte ihre Handtasche zwischen die Füße und hängte ihre Jacke auf. Der Zug fuhr an und aus dem Bahnhof, rumpelte über die Gleise Richtung Osten.
Carina lehnte sich zurück und sah aus dem Fenster, an ihr zogen alte und neue Gebäude vorbei, gut in Schuss oder verwahrlost. Einige Minuten ließ sie sich treiben, dann zückte sie das Smartphone und checkte die eingegangenen Nachrichten.
Ihre Stellvertreterin auf der Arbeit brauchte bei einem Problem ihren Rat, ihre Freundin Janine wünschte ihr einen schönen Urlaub und ein paar nette Flirts, ihr Vater bat sie um einen baldigen Anruf. Carina schrieb die Antworten und holte anschließend ihren E-Reader aus der Handtasche. Sie las an der Stelle im Roman weiter, an der sie ihn bei der U-Bahn-Fahrt zum Bahnhof hatte abbrechen müssen.
Irgendwann erschien der Zugbegleiter und bat um die Fahrkarten. Sie schreckte aus dem Buch hoch und blinzelte den Mitarbeiter der Deutschen Bahn an. »Wie bitte?«
»Ihre Fahrkarte, bitte.« Der groß gewachsene Blonde lächelte.
»Oh ja, natürlich.« Sie legte den Reader vor sich auf das Tischchen, fummelte das Ticket nicht ohne Schwierigkeiten aus ihrer Handtasche hervor und reichte es ihm.
Sie nutzte die Pause, um etwas Wasser aus ihrer Flasche zu trinken und nach draußen zu sehen. Der Intercity rauschte zwischen Feldern, Wiesen und Wäldern hindurch, ab und zu huschten Dörfer oder einzelne Häuser vorbei. Eines davon war in einem seltsamen Beigeton getüncht und erinnerte mit den farblich abgesetzten Fenstern an einen Menschen mit ungesund blasser Gesichtsfarbe.
Genauer gesagt erinnerte es sie an Monika.
Carina kannte Juist von einem Kurzurlaub und hoffte, dass die Insel der älteren Frau helfen konnte, zu sich selbst und in ein besseres Leben zu finden. Sie hatte vollkommen erschöpft gewirkt. Und die braunen Augen so unglücklich, dass es ihr Herz berührte. Ob das mit ihrem Ehemann zu tun hatte, den sie kaum erwähnt hatte? Außerdem unterstrichen ihre langweilige Kleidung, der brave graublonde Haarzopf und die gebückte Haltung den Eindruck von Zurückhaltung und Vermeidung von Aufmerksamkeit.
Eigentlich hatte sie sich nur deswegen zu Monika an den Tisch gesetzt, weil sie sicher gewesen war, von ihr keine ungewollte Unterhaltung befürchten zu müssen. Dass sie dann selbst eine angezettelt hatte, wunderte sie noch immer. Irgendwie schien die Chemie zwischen ihnen zu stimmen, sonst hätte sie Monika gegenüber nicht so viel von sich erzählt. Oder lag es daran, dass Monika eine Außenstehende war und nichts mit ihrem Leben zu tun hatte? Egal. Wahrscheinlich war nur ihre Nervosität an allem schuld gewesen.
Monika war merklich aufgetaut, und sie selbst war in ihrer Gegenwart etwas zur Ruhe gekommen. Ein unerwartet nettes Frühstück, das ihre eigene Angespanntheit vorübergehend aufgelöst und sie abgelenkt hatte. Erstaunlich, wie schnell sie von einem Thema zum nächsten gewechselt waren. Sie mussten sich in vier Wochen unbedingt über ihre Reisen austauschen!
Carina schmunzelte, senkte den Kopf und vertiefte sich in den Roman.
Die Ansage des Zugbegleiters, dass sie in wenigen Minuten Schwerin erreichen würden, ließ sie hochschrecken. Sie starrte aus dem Fenster. Seitdem sie mit ihren Eltern nach Hamburg gezogen war, war sie nicht mehr im Osten gewesen. Und wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre sie auch heute nicht hier. Sie tat es nur ihrem Vater zuliebe.
Der Zug fuhr in den Schweriner Bahnhof ein, und Carina musterte die neuen, alten und renovierten Häuser rundherum. Es hatte sich einiges verändert.
Wie würde es erst in ihrem Geburtsort aussehen?
Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
Sie verscheuchte die Gedanken mit einem Kopfschütteln und konzentrierte sich wieder auf ihr Buch.
Knappe drei Stunden nach Abfahrt in Hamburg verlangsamte der Lokführer das Tempo und fuhr auf Stralsund zu, der Zugbegleiter machte seine Ansage. Carina packte ihre Sachen zusammen, zog sich an und trat auf den Gang hinaus. Der junge Mann neben ihr war bereits in Rostock ausgestiegen.
Sie holte ihren Koffer aus seinem Verschlag, rollte ihn zur Wagentür und blickte hinaus. Noch vor dem eigentlichen Stadtgebiet fuhr der Zug an einem riesigen Einkaufscenter vorbei, es folgten Schrebergärten und Vorstadthäuser, und schließlich rückte die Bebauung an die Gleise heran.
Carina konnte auch hier teilweise immense Veränderungen ausmachen. Das Bild der Stadt aus ihren Erinnerungen schob sich vor ihr geistiges Auge. Wie oft hatten sie und ihre Freundinnen sich samstags hier aufgehalten. Shoppen, Kino, abhängen. Oder sie waren nach der Schule gleich hiergeblieben. Bloß nicht zurück nach Hause.
Ihre Clique hatte aus vier Mädchen bestanden, Sandra, Katharina, ihrer besten Freundin Mandy und ihr selbst. Sie hatten fast jede freie Minute zusammen verbracht, doch wenige Wochen nach ihrem Umzug war der Kontakt eingeschlafen.
Carina seufzte innerlich. Hamburg war mit Altefähr nicht zu vergleichen, und es war ihr schwergefallen, in der Großstadt Kontakte zu knüpfen. An der Realschule war sie die Außenseiterin geblieben, die Ossi-Braut, die sich hinter ihren Büchern versteckte. Auch in den beiden Oberstufenjahren bis zum Fachabitur, für das sie noch einmal die Schule gewechselt hatte. Erst im Laufe der Ausbildung zur Hotelfachfrau hatte sich das geändert.
Der Intercity hielt auf dem äußeren Gleis des Hauptbahnhofs, und sie war überrascht, wie viele Fahrgäste mit ihr ausstiegen. Ihrem Aussehen und Gepäck nach zu urteilen, überwiegend Touristen. War Stralsund inzwischen so beliebt?
Sie rollte ihren Koffer ein Stück aus dem Weg, schloss die Augen und atmete tief die salzige Luft ein. Hier am Strelasund roch es vollkommen anders als an der Elbe, und der Geruch beschwor weitere Erinnerungen herauf. Keine Bilder oder Ereignisse, aber Gefühle. Carina drängte sie zurück, sie wollte jetzt nicht an die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens denken.
Nach einem Orientierungsblick ging sie hinüber zum Fahrstuhl, fuhr eine Etage tiefer und am Ende der Unterführung wieder hinauf. Es blieb ihr noch eine knappe halbe Stunde bis zur Abfahrt des Regionalexpress nach Rügen, also ging sie in die geschichtsträchtige Eingangshalle hinüber.
Beim Bäcker bestellte sie sich einen großen Cappuccino zum Mitnehmen und blieb einen Moment vor dem Reisezentrum stehen, unterhalb des Wandgemäldes der Hansestadt. Von dort aus hatte sie einen guten Blick auf den anderen Teil, der Stralsund und Rügen zeigte. Der Künstler hatte die Wandgemälde Mitte der Dreißigerjahre gemalt, vor dem Zweiten Weltkrieg, und sie konnte sich daran erinnern, dass sie in ihrer Kindheit keine Farbkraft besessen hatten. Sie mussten vor nicht allzu langer Zeit restauriert worden sein.
Überhaupt war der Bahnhof in einem viel besseren Zustand, und sie machte die schwere Messingtafel aus, die den Hauptbahnhof als »Bahnhof des Jahres 2016« auswies.
Carina schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie erwartet gehabt, dass alles noch so aussah wie damals.
Sie schlenderte zu ihrem Gleis hinüber, trank den Cappuccino aus und warf den Becher in einen Mülleimer. Der Regionalexpress nach Binz startete hier und wartete bereits mit geöffneten Türen. Bis rüber nach Altefähr waren es nur zwei Haltepunkte und wenige Minuten, die Suche nach einem Sitzplatz wäre verschwendete Zeit gewesen, also blieb sie im Eingangsbereich an der Seite stehen. Kurze Zeit später schlossen sich die Türen, und die Bahn setzte sich in Bewegung.
Der Zug machte einen Bogen um den Süden der Stadt, hielt noch einmal am Rügendamm und fuhr dann über die Brücken und Dänholm nach Rügen.
Sie hatte die Seite des Zuges gewählt, von der aus sie auf der Brücke auf Altefähr schauen konnte. Sie sah den Hafen und das Strand-Freibad dahinter, konnte die Kirchturmspitze von St. Nikolai erahnen. Vereinzelt machte sie Häuser aus, insgesamt wirkte es grüner als damals.
Ihr Magen verkrampfte sich, Erinnerungen stürmten auf sie ein. Schwimmen im Freibad, Rumhängen am Hafen, Eis oder Fischbrötchen, Streifzüge durch den Wald. Die Bilder kamen immer schneller und hinterließen ein beklemmendes Gefühl in ihrer Brust.
Carina schluckte, schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch.
Verdammt, sie hatte von Anfang an gewusst, dass diese Reise keine gute Idee war.
Sie hatte niemals zurückkommen wollen.
Carina drückte dem Taxifahrer den Fahrpreis und ein kleines Trinkgeld in die...
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