Schweitzer Fachinformationen
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»Das hat mir gerade noch gefehlt.« Mit einem missmutigen Zug um den Mund blickte Kriminalinspektor August Emmerich nach oben. Dunkle Wolken hatten sich vor die schwache Sonne geschoben und ließen dicke Schneeflocken auf die Stadt fallen.
Was als blütenweiße Reinheit vom Himmel rieselte, verlor, sobald es den Boden erreichte, all seine Unschuld und verwandelte sich in grauen Matsch. Dieser erstickte das junge Gras und die zarten Knospen, die der Frühling in den vergangenen Tagen auf die Wiesen und die Äste der winterkahlen Bäume gezaubert hatte.
Emmerich zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und humpelte weiter, wobei er beinahe auf einer gefrorenen Pfütze ausgerutscht wäre. »Verdammte Schei.« Den Rest der Verwünschung schluckte er hinunter. Er hatte geschworen, unflätige Ausdrücke aus seinem Sprachschatz zu streichen, seit er letzte Woche in die Schule seines jüngsten Sohnes zitiert worden war, um sich dort eine Standpauke bezüglich seiner Ausdrucksweise anzuhören.
»Sie sind Pauls großes Vorbild«, hatte die Lehrerin mit erhobenem Zeigefinger erklärt. »Er ahmt Sie nach. Unter anderem, was die Wahl Ihrer Worte anbelangt.« Sie hatte die Hände in die knochigen Hüften gestemmt und Emmerich mit einem tadelnden Blick bedacht. »Der Kleine ist gerade mal sechs Jahre alt und flucht derber als ein betrunkener Lastenkutscher.«
Emmerich ermahnte sich zur Contenance und humpelte mit hochgestelltem Kragen stadtauswärts. Dabei passierte er abgewohnte Mietskasernen und Fabriken, aus deren Schloten beißender Rauch aufstieg, und ging an windschiefen Lagerhallen und zugemülltem Brachland vorüber. Je näher er dem Schönbrunner Schlosspark kam, desto mehr begann sich die Gegend zu verändern. Die Häuser wurden imposanter, die Gärten weitläufiger. Blank polierte Automobile parkten in großzügig angelegten Einfahrten, hell erleuchtete Fenster ließen glanzvolle Salons erahnen.
In diesem Viertel wirkte Emmerich mit seinen ausgetretenen Schnürschuhen und dem fadenscheinigen Mantel, der mehrfach geflickt und dessen Futter zum Schutz vor der Kälte mit Zeitungspapier ausgestopft war, wie ein Fremder. Ein Außenseiter, ein Eindringling, der hier nicht hergehörte. Dies war das Wien der reichen Leute. Das Wien der Spekulanten und Industriellen, der Bankiers und des ehemaligen Adels. Auf jeden Fall war es kein Ort für einen einfachen, abgebrannten Kriminalbeamten.
Er wischte sich Schneeflocken aus dem Gesicht und blieb vor einem hohen schmiedeeisernen Zaun stehen. Mit ungläubigem Staunen, das ihn täglich aufs Neue überkam, betrachtete er die Villa, die dahinter lag. Es handelte sich um ein Barockpalais mit aufwendig gestalteter Fassade, spitzen Giebeln und breiten Mansardenfenstern.
Emmerich nahm den letzten Zug von seiner Zigarette und zupfte sich einen Tabakkrümel von der Zunge. Er schnippte gerade den Stummel fort, als auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Fenster aufgerissen wurde.
Ein lautes Räuspern erklang und Emmerich wusste genau, was gleich folgen würde.
»Herr Emmerich!« Eine Frauenstimme spuckte den Namen mehr aus, als dass sie ihn rief.
Er biss die Zähne aufeinander und schlang seine Finger derart fest um den Knauf seines Spazierstocks, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Lange Zeit hatte er sich gegen den Einsatz einer Gehhilfe gewehrt, doch die Folgen seiner Kriegsverletzung zwangen ihn dazu.
»Ich weiß, Frau Herschmann«, rief er, ohne sich umzudrehen. »Der Verputz bröckelt, der wilde Wein wuchert. Das Haus ist ein Schandfleck für die Nachbarschaft.«
»Nicht nur das Haus«, rief sie. »Auch die Einfahrt und der Garten. Und die .«
»Die Bewohner«, vervollständigte er den Satz.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber gemeint.«
Sie schnaubte, ging aber nicht weiter darauf ein. »Wann kümmern Sie sich endlich darum?«
»Sobald ich einen Goldesel habe.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, durchschritt Emmerich das herrschaftliche Tor, auf dem die Initialen A.v.B. prangten. Anselm von Breitenberg.
Jedes Mal, wenn er über die kiesbedeckte Auffahrt ging, die zu der Villa führte, überkam ihn ein eigenartiges Gefühl. Eine Mischung aus Verwunderung und Traurigkeit. Er konnte es noch immer nicht glauben. Das Gebäude, das inmitten einer großen Wiese stand, gehörte ihm. Ihm, dem Waisenjungen, dem Tagelöhner und Fußsoldaten, der sich mehr schlecht als recht durchs Leben gekämpft hatte, bevor er über verschlungene Wege bei der Polizei gelandet war.
Jahrelang hatte er nach seinen Eltern gesucht, und als es ihm endlich gelungen war, das Geheimnis seiner Herkunft zu lüften, hatte sich das Schicksal, dieser grausame Ränkespieler, wieder einmal einen Scherz mit ihm erlaubt.
Emmerich hatte seinen Vater gefunden, nur um ihn sofort wieder zu verlieren. Ihm war nichts geblieben, außer einer blassen Erinnerung sowie als Erbe ein mysteriöser Schlüssel und diese baufällige Villa, die ihm mittlerweile mehr Ärger als Freude bereitete.
Er öffnete die Haustür und betrat die Eingangshalle. Im ersten Moment wirkte alles elegant und durchaus luxuriös: Der Boden bestand aus fugenlos gegossenem Terrazzo, an der Decke hing ein riesiger Kronleuchter, eine elegant geschwungene Treppe führte in die oberen Stockwerke. Erst bei näherem Hinhören offenbarte sich der desolate Zustand des Hauses. Der Wind, der durch eine Vielzahl undichter Ritzen pfiff, brachte die schmutzigen Lusterkristalle zum Klimpern. Morsches Holz ächzte und knackte, und dann war da auch noch der Niederschlag, der durch das undichte Dach in verschiedene Eimer und Töpfe tropfte.
»Und?« Am oberen Ende der Treppe erschien eine groß gewachsene Schönheit, deren schwarzes Haar zu einem modernen Bubikopf geschnitten war. Irina Novotny, eine ehemalige Nackttänzerin, die seit dem Tod seiner geliebten Luise als Mitbewohnerin und Mutterersatz für Emmerichs drei Stiefkinder fungierte, kam herunter und sah ihn erwartungsvoll an.
Emmerich zog die Tür hinter sich zu, lehnte seinen Stock an die Wand und nahm seine Schiebermütze ab. »Wieder mal Fehlanzeige«, erklärte er. »Das beschi.« Er räusperte sich. »Das vermaledeite Ding hat zu keinem der Spinde im Ruderclub gepasst.« Er holte einen filigranen silbernen Schlüssel aus der Manteltasche und warf ihn ihr zu.
Geschickt fing Irina ihn auf. »Schon wieder eine Sackgasse.« Sie hielt den Schlüssel ins Licht, drehte und wendete ihn, wie sie es bereits zigmal getan hatte. »Wo gehörst du hin, du kleiner Schlingel?«
»Die Sache mit dem Erben hatte ich mir anders vorgestellt.« Emmerich trat ans Fenster und fuhr mit der Fingerspitze vorsichtig über einen Sprung in der Scheibe. »Anstelle von Reichtümern eine Bruchbude und einen Schlüssel, der nirgendwo passt.«
»Nun ja.« Irina zuckte mit den Schultern und sah sich um. »So wie deinem Vater erging es im Krieg vielen Adeligen. Sie haben schnell gemerkt, dass Lebensmittel und Medikamente wertvoller sind als Schmuck und Seide.«
Tatsächlich waren die Perserteppiche des Barons für Morphium draufgegangen, ein Großteil der Möbel für Brot und Fleisch. Manschettenknöpfe und Siegelringe waren gegen Kohlebriketts eingetauscht worden, und als der einstige Millionär nicht mehr in der Lage gewesen war, Löhne und Gehälter zu bezahlen, suchte selbst das treueste Personal nach und nach das Weite.
Emmerich blickte zu dem lebensgroßen Gemälde seines Vaters, das am oberen Ende der Treppe hing, und musterte dessen Züge. »So ein alter Kasten braucht Geld, um in Schuss gehalten zu werden«, murmelte er. »Und ich habe nicht annähernd genug. Unsere letzte Hoffnung ist der Schlüssel - oder besser gesagt, das, was sich möglicherweise hinter seinem Schloss verbirgt.«
Emmerich und Irina hatten bereits die ganze Villa auf den Kopf gestellt. Sie hatten sämtliche Banken, Bahnhöfe und Postämter aufgesucht und dort probiert, die Schließfächer zu öffnen. Vergebens.
»Wir sollten darüber nachdenken, das Haus zu verkaufen.« Emmerich durchquerte die Halle und öffnete eine schmale Doppelflügeltür. Dahinter lag das Zimmer, in dem früher das Personal gespeist hatte. Der Raum war klein und daher einfacher zu beheizen als die großen herrschaftlichen Salons. Im Kamin prasselte ein Feuer und verbreitete wohlige Wärme. Der Tisch war für das Frühstück gedeckt. Emmerich legte Holz nach und blickte hinaus in den Garten. »Das Grundstück ist einiges wert. Mit dem Geld könnten wir uns eine nette Wohnung nehmen.«
Irina, die ihm gefolgt war, trat neben ihn. »Das haben wir doch schon besprochen. Die Inflation würde den Verkaufserlös schneller auffressen, als du Wohnung buchstabieren kannst. Außerdem ist dieses Gebäude das Vermächtnis deines Vaters. Du hast so lange nach deinen Wurzeln gesucht.« Sie deutete um sich. »Und hier sind sie.«
»Desolat und heruntergekommen. Wie passend.« Emmerich zündete eine Zigarette an und rauchte gedankenverloren vor sich hin. »Ich denke, für die Kinder .«, setzte er an.
»Für die Kinder ist es hier genau richtig«, fiel ihm Irina ins Wort. »Die drei lieben den Garten und die Tatsache, dass sie so viel Platz und sogar eigene Zimmer haben. Die Sache mit dem undichten Dach und den kaputten Fenstern kriegen wir auch noch hin. Es wird uns schon was einfallen.« Sie stupste ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. »Alles wird sich finden.«
»Und die Nachbarn?«
»Seit wann legst du Wert auf die Meinung dieses aristokratischen Gesindels?« Irina sah ihn fragend an. »Der August Emmerich, den ich kenne, würde...
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