Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Zwei
Ben
Es regnete. Ben beugte sich ein wenig vor und spähte angestrengt auf die Straße, die sich in Serpentinen um zerklüftete Felsnasen wand - oder zumindest auf das, was er durch den Wasserschleier auf der Windschutzscheibe davon erkennen konnte. Die Scheibenwischer fegten auf höchster Stufe hastig hin und her, aber das machte fast keinen Unterschied. Immerhin wurde es allmählich hell. Was um alles in der Welt hatte er sich nur dabei gedacht, die Nacht durchzufahren? Und wieso hatte er eigentlich geglaubt, frühzeitig von den großen Straßen abzufahren, wäre eine gute Idee? So stark konnte der Verkehr dort um diese Uhrzeit gar nicht sein.
Um Geld zu sparen, natürlich, gab er sich selbst die Antwort. Und Zeit. Der Urlaub war kurz und teuer genug, und das mitten in der Hauptauftragszeit für Malerarbeiten im Außenbereich. Ben hatte lange hin und her gerechnet, ehe er sich endgültig für diese Reise entschieden hatte. Er konnte sich den Ausfall leisten, irgendwie, das eine Mal. Was er aber definitiv nicht einkalkuliert hatte, waren die Nerven, die ihn die Serpentinenstraßen kosten würden. Und der Regen. Und die nahezu absolute Dunkelheit hier in den Bergen.
Die Musik zumindest beruhigte ihn ein wenig. Joaquín Sabina. Er hatte den Sänger durch Riza kennengelernt und - anders als die etwas zu fröhliche Popmusik, die sie sonst bevorzugte - sofort gemocht. Seine raue Stimme passte in die Nacht. Vor allem aber vermittelte sie Entschlossenheit; die Gewissheit, dass das, was Ben hier tat, richtig und wichtig war. Mindestens für Flor.
Er warf einen raschen Blick in den Rückspiegel. Flor schlief gegen das Seitenfenster gesunken, ihre gestreifte Strickjacke unter dem Ohr zu einem Ball zusammengeknüllt. Ein paar feine Strähnen ihres wirren braunen Haars hatten sich in ihren Wimpern verfangen, der Mund war leicht geöffnet, und sie schnarchte leise. Neben ihr, aus den kleinen Händen gerutscht, lag der Brief an ihre Mutter in dem bunten Umschlag von Flors Lieblingsbriefpapier.
Ben lächelte still, ignorierte den Stich in der Brust und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Vor einigen Kilometern hatte er ein Schild passiert, das ihm sagte, dass sie die französisch-spanische Grenze überquerten. Der letzte Meilenstein. Immerhin das Land war jetzt schon mal das richtige. Und der Regen ließ endlich nach, oder kam es ihm nur so vor? Nein, die Scheibenwischer bewegten sich langsamer. Das heftige Prasseln wurde zu einem leichten Trommeln und schließlich zu einem sanften Tröpfeln. Kurz darauf hörte es ganz auf.
Als eine weitere halbe Stunde später der graue Morgen anbrach, stoppte Ben den Wagen an einem Aussichtspunkt in der Außenbahn einer besonders engen Serpentine. Er schnallte sich ab, rutschte hinüber auf den Beifahrersitz und kurbelte die Lehne so weit wie möglich nach hinten, bis das Kopfteil fast auf Flors Schoß lag. Flor regte sich und murmelte etwas, aber sie wachte nicht auf, sackte nur noch ein bisschen tiefer gegen das Fenster und hörte auf zu schnarchen.
Ben schloss die Augen. Alles war still. So unglaublich still, nachdem sich stundenlang Motorengeräusch, Regengetrommel und Gitarrenmusik vermischt hatten.
Endlich . ein bisschen Ruhe.
Das war sein letzter Gedanke, bevor er einschlief.
»Ben? Du, Ben?«
Flors Stimme war ganz nah. Den Worten folgte ein spitzer kleiner Finger, der die Furchen seiner Ohrmuschel nachfuhr. So weckte sie ihn immer. Weil oft nichts anderes half gegen seinen »Schlaf des Todes«, wie sie es nannte. Ben hatte keine Ahnung, woher sie den Ausdruck hatte, und auch nicht, wie sie auf den Finger-ins-Ohr-Trick gekommen war. Aber der kalte Schauer, der ihn dabei überlief, wirkte jedes Mal.
Ben blinzelte, schüttelte sich und knurrte unwillig - er war zu müde, um festzustellen, in welcher Reihenfolge. »Guten Morgen«, nuschelte er, als er sich einigermaßen sortiert hatte.
Flor kicherte zufrieden. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich aus dem Gefängnis zwischen ihrem Kindersitz und Bens provisorischem Bett zu befreien, und hockte nun auf dem mittleren Sitz der Rückbank. »Guten Morgen, Schlafnase!«
Ben angelte in der Mittelkonsole unter dem Radio nach seinem Handy. Eine Nachricht von Telefónica, Willkommen in Spanien! Die Uhr auf dem Display zeigte 08 : 13 Uhr. Er hatte nicht mal drei Stunden geschlafen. Und es lagen noch zwei Stunden Fahrt vor ihm, davon eine auf Serpentinenstraßen. Und das war noch optimistisch gerechnet. Aber die Morgensonne knallte auf das schwarze Autodach, und es wurde schon jetzt stickig warm hier drin. Noch mal einzudösen war sicher keine gute Idee. Ben stöhnte und rieb sich über das Gesicht.
»Darf ich raus?« Flor war inzwischen zur Tür auf der Fahrerseite gekrabbelt und zog ihre Sandalen an.
Ben unterdrückte ein weiteres Gähnen. »Musst du mal?«
Flor schüttelte den Kopf. »Man kann das Meer sehen!« Die Aufregung verlieh ihrer Stimme einen hellen Klang. Ben blinzelte verwirrt. Das Meer? Sie waren mitten in den Bergen, was erzählte dieses Kind?
Schwerfällig richtete er sich auf und sah Flor hinterher, die bereits die Tür aufstieß und auf den ockerfarbenen Schotter hinaushüpfte. »Sei vorsichtig«, rief er ihr im letzten Moment noch nach, »es ist vielleicht steil am .«
Da fiel die Tür schon hinter ihr zu.
Ächzend stieß Ben die Beifahrertür auf und wuchtete sich ebenfalls aus dem Auto.
Und da sah er es.
Zwischen den Bergen hindurch blitzte es, ein winziges Stück tiefes, sattes Blau in weiter Ferne, das am Horizont mit dem Himmel verschwamm.
Ben hatte nie viel über das Meer nachgedacht, nicht mal jetzt, wo er praktisch auf dem Weg dorthin war. Nun aber brachte der Anblick etwas tief in ihm zum Schwingen, das sich sogar gegen seine schwere Müdigkeit durchsetzte.
Er stellte sich neben Flor, die am Rand der Aussichtsplattform auf die Stufen vor einem Münzfernglas geklettert war und sichtlich frustriert hindurchzuspähen versuchte.
»Hast du einen Euro, Ben?«
Ben schmunzelte und fingerte sein Portemonnaie aus der Seitentasche seiner Cargohose. »Für dich doch gern, Mäusekind.«
»Hey!« Flor verzog das Gesicht. »Du sollst mich doch nicht mehr so nennen!«
»Schon gut, schon gut. Ist mir so rausgerutscht. Entschuldige.« Er reichte ihr das Geldstück. Flor warf es in den Schlitz und presste hingebungsvoll die Augen gegen die Okulare.
»Wooooow«, flüsterte sie. »Es ist so blau!«
Und dann sagte sie nichts mehr, was ungewöhnlich für sie war. Sie stand nur da und starrte durch das Fernglas, bis das Geldstück klappernd durchfiel und die Okulare sich wieder verschlossen.
»Och!«, machte Flor enttäuscht. »Hast du noch einen?«
Ben schüttelte mit einem bedauernden Lächeln den Kopf. »Leider nein.« Er hätte selbst gern einen Blick durch das Fernglas geworfen. Es war, als ob dieser kleine, ferne Fleck Blau nach ihm riefe, und fast glaubte er, schon von hier den Geruch von Salz und Fisch wahrzunehmen. Aber er hatte ohnehin das Gefühl, dass Flor diesen ersten Schatz ihres Spanien-Abenteuers für sich allein brauchte. Schließlich war es ihre Reise.
»Aber wie wär's?«, fragte er also stattdessen und deutete auf einige Picknicktische in der Nähe. »Nehmen wir heute Frühstück mit Luxusaussicht?«
Und natürlich war das keine Frage, die tatsächlich eine Antwort erforderte. In Windeseile hatte Flor ihren Kinder-Wanderrucksack von der Rückbank geholt und schüttete auf einen der groben Holztische alles, was von den Süßigkeiten, die Bens Mutter ihr als »Proviant« eingepackt hatte, noch übrig war. Ben stapelte belegte Brote, Käsewürfel, gekochte Eier und Gemüsesticks aus seinem eigenen Rucksack daneben, dazu je eine Thermoskanne Früchtetee und Kaffee, und wischte das Wasser von einer der Holzbänke. Ein leichter Morgenwind strich über ihren Picknickplatz, warm und ein bisschen feucht - das war alles, was noch an den heftigen Regen der vergangenen Nacht erinnerte. Am strahlend blauen Himmel hingegen war inzwischen nicht einmal mehr eine einzige Wolke zu sehen.
»Das ist das beste Frühstück aller Zeiten!«, schwärmte Flor und biss genüsslich in ihren Schokoladenkeks. Nach der Lagerung im warmen Auto war der Kakaoüberzug geschmolzen, und Flors Gesicht und Hände waren innerhalb von Sekunden völlig verschmiert. Während sie aß, legte Ben dankbar die Hände um den mit Milchkaffee gefüllten Deckel der Thermoskanne. Diese Nacht würde ihm noch eine Weile in den Knochen sitzen.
»Ist es eigentlich noch weit?« Flor schob sich ein Stück Tomate in den Mund und einen Zimtcracker gleich hinterher.
»Ein Stück noch.« Ben unterdrückte ein Seufzen und schlürfte an seinem Kaffee. »Heute Mittag sind wir da.«
Flor kaute nachdenklich. »Hm. Und kommen wir am Meer vorbei?«
»Ich glaube nicht. El Pont liegt ja im Inland. Wahrscheinlich bekommen wir das Meer nur von hier aus den Bergen zu sehen. Aber wir können von El Pont aus hinfahren«, fügte er schnell hinzu, als er Flors enttäuschte Miene sah. »Mit dem Auto ist man ganz schnell an der Küste.«
Flors Gesicht hellte sich wieder auf. »O ja! Vielleicht mit Mamà!« Sie hielt inne, und wieder fiel ein Schatten über ihr Gesicht. »Glaubst du, dass sie schon da ist?«
Jetzt konnte Ben das Seufzen nicht mehr unterdrücken. Flor fragte ihn das bestimmt zum hundertsten Mal, und er hätte ihr so gern eine ermutigende Antwort gegeben. Schon gar nicht wollte er von ihren Fragen genervt sein. Aber an Riza zu denken, war für ihn...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.