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Wer fühlt sich berufen, über was zu sprechen? Situiert zu sein ist Bedingung dafür, wahrnehmen und handeln zu können. Doch dürfen nur diejenigen, die auf eine bestimmte Weise situiert sind, Position beziehen? Bei der Beantwortung dieser Frage kommt der Phänomenologie eine besondere Bedeutung zu, weil »Situation« zu ihren Grundbegriffen gehört. Heidegger und Sartre, Beauvoir und Merleau-Ponty haben ihn eingesetzt, um den Horizont der Möglichkeiten des erfahrenden Ichs zu beschreiben. Thomas Bedorf schließt daran an und entwickelt ein neues, differenzphilosophisches Verständnis von Situiertheit. Es führt zu einer politischen Phänomenologie, die den Raum zwischen Sprechposition und Gesprochenem neu konfiguriert - gegen gewisse Tendenzen in den aufgeheizten Debatten um Standpunkte und Privilegien. Ein hochaktuelles Buch.
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Und Du gib mir ein Versprechen
Und versprich mir, dass Du's hältst
Sei einfach nicht Du selbst
(Jens Friebe)
Situiertheit ist sowohl als theoretischer Begriff als auch als politische Vokabel seit langem ein bekannter Bezugspunkt in zahlreichen Debatten. Sie tritt in kritischer Abkehr von Idealen fraglos herstellbarer Objektivität in Erscheinung, wie sie in erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen, aber auch politiktheoretischen und moralphilosophischen Traditionen common sense waren, und bezeichnet die Markierung des Orts, von dem aus ein Diskurs, ein theoretischer Ansatz oder ein öffentlicher Sprechakt seinen Ausgangspunkt nimmt. In unterschiedlichen Traditionen ist betont worden, dass Theorien ihre eigene Situiertheit zu reflektieren haben, wenn sie nicht in eine bloße doxa zurückfallen wollen. Dazu zählen insbesondere die Standpunkttheorien der feministischen Epistemologie und der Black Feminist Studies sowie die sich daran anschließenden relationalen Ontologien etwa im Ökofeminismus, in posthumanistisch dezentrierten Science and Technology Studies sowie in methodischen Reflexionen empirischer Sozialforschung.
Der Phänomenologie kommt in dieser Theorielandschaft eine besondere Rolle zu, weil die »Situation« zu den Grundbegriffen der existenzialen Phänomenologien gehört. Heidegger, Sartre, Beauvoir und Merleau-Ponty setzen den Begriff ein, um den Horizont der Möglichkeiten des erfahrenden Ichs zu bezeichnen. Auch wenn sich »Situiertheit« in der phänomenologischen Terminologie seltener findet, kommt ihr der von Sartre und Merleau-Ponty gebrauchte Ausdruck des »être situé« nahe. Die situative Differenz als Differenz zwischen Situiertheit und Positionierung ist in der Phänomenologie leib-körperlicher Orientierung durch die Unterscheidung von Ort und Raum bereits prinzipiell angelegt. Indem sie hier systematisch als Differenz gefasst und entfaltet wird, dient sie der Erschließung der ambivalenten Zwischenstellung, die sich zwischen dem Ort des Sprechens und dem Raum des Politischen auftut. Im Zwischen der situativen Differenz liegt die Verantwortung, die zu Politiken der Positionierung führt.
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Für Existierende vollzieht sich Wahrnehmen, Sprechen und Handeln in ihrem Zur-Welt-Sein nie anders als situiert. Ihre verkörperten Formen sind nicht als bloße Vorkommnisse an einem scheinbar neutralen dreidimensionalen Raumpunkt gegeben, sondern an ihre Situation gebunden und in ihr verankert. Da sich von einer Situation aus der Raum als Raum und mithin als Bedeutungszusammenhang erst erschließt, erscheinen Dinge oder Personen mir nicht als diskrete Einzeldinge, deren Zusammenhang konstituiert oder konstruiert werden muss. Die Anderen und die Dinge erscheinen phänomenal vielmehr immer schon im Sinnzusammenhang einer Situation, da ich sie leib-körperlich in ihrer Bezogenheit erfahre - untereinander und in Bezug auf mich selbst.
Nehmen wir eine Situation, wie sie mir (aber gewiss auch anderen) bekannt ist. Ein Vortragsraum gewinnt Gestalt durch Dinge wie Tische, Pulte und Sitzreihen, die mir in ihren Gebrauchsweisen und Zuhandenheiten vertraut sind und mir dadurch eine Orientierung im Raum ermöglichen. Die leib-körperliche Orientierung vermisst nicht Abstände und Distanzen, sondern erfährt diese im Hinblick auf die eigenen Wünsche, Zwecke und Begehren als passend und unterstützend oder ungeeignet und widerständig. So schützt das Pult einen Teil meines Körpers (nämlich den im akademischen Diskurs vernachlässigbaren Unterleib: relevant und sichtbar sind nur meine Gestik, Mimik und die Sprechwerkzeuge) vor den Blicken der Zuhörerschaft, während es mich zugleich stützt, da ich mich in meiner Unsicherheit hinsichtlich der Resonanz meines Vortrags an etwas festhalten kann. Die Anzahl der Körper im Hörsaal oder Seminarraum ist ihrerseits von Bedeutung, insofern sie mit meinen affektiven Dispositionen korrelieren kann. Könnte der Raum weit mehr Körper fassen, wären zu wenige anwesend. Meine eigene Versagensangst korrespondiert mit der Projektion von potentiellen Gründen für die Leere, die in meiner Person oder meiner Wahl des Vortragsthemas begründet sein könnte. Ist der Raum wider Erwarten gut gefüllt, summieren sich mir die Erwartungen im Raum zu einem unerfüllbaren Anspruch. Ebenso wenig wie die Anzahl ist die Verteilung der Körper im Raum beliebig. Denn die Menge hat ein Bedeutungsrelief, insoweit ich mit manchen Zuhörer:innen mit einer mehr oder minder langen und intensiven Geschichte verbun9den bin, während mir andere ganz fremd sind. Die mir vertrauten Gesichter geben Halt wie das Pult; wird der Selbstzweifel zu groß, kann ich nur diese adressieren und die übrigen in den Hintergrund treten lassen. Umso größer die Erschütterung, wenn ein vertrautes Gesicht leer zurückschaut, da ich darin nur Skepsis oder Langeweile lesen kann; Müdigkeit oder gedankliche Abwesenheit, die nicht mich meinen, ziehe ich als Erklärung nicht in Betracht. So oder so: Gut, dass der Raum auch Öffnungen hat, durch die ich gekommen bin. Durch sie könnte ich im Notfall auch rasch wieder hinaus. Eingänge sind immer auch potentielle Notausgänge.
Diese soeben beschriebene Situation im Raum ist meine Situation. Ihre Gestalt ist abhängig von meinen Intentionen, Erwartungen, Stimmungen und Ängsten. Aber auch unabhängig von mir sind bereits Atmosphären und Stimmungen zu spüren, die den Raum »stimmen« wie ein Instrument. Nicht immer ergibt sich zwischen dem Raum und meinem Leib-Körper eine Resonanz, die Eigenschwingungen ver- und bestärkt. Die Stimmung kann mir den Beginn meines Sprechens leichter machen, als ich erwartete. Doch kann sie mir auch ebenso kalt entgegenkommen und mir die Stimme belegt werden lassen. Situationen sind immer »ko-affektiv«,[1] insofern sich in ihnen eigene und fremde Affekte miteinander verschränken.
Um Missverständnissen hinsichtlich der Rede von meiner Situation vorzubeugen, wie sie für die Erste-Person-Perspektive der Phänomenologie charakteristisch ist, sei präzisiert, dass erstens diese Perspektive immer schon sozial und kulturell vermittelt ist. Die Sozialität des singulär pluralen Sinns ist immer »Mit-«.[2] Da es keine »Privatsituationen« gibt - ebenso wenig wie es eine Privatsprache geben kann -, wäre es treffender, wenn auch unschön, von »Erste-Person-Plural-Perspektive« zu sprechen. Zweitens ist gemäß der Dezentrierung der »ersten Person« darunter genauso wenig ein Bewusstseinssubjekt zu verstehen, das die Erfahrungsperspektive und die Bedeutung der in ihr erscheinenden Gegenstände »konstituiert«, sondern ein leib-körperlich exponiertes und sich aussetzendes, d.h. 10in korporaler Differenz[3] zur Welt seiendes Subjekt. Erfahrungen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie etwas mit mir machen, während ich Erfahrungen mache, lassen sich mit Bernhard Waldenfels treffenderweise als »Widerfahrnisse«[4] bezeichnen. Entsprechend ist das seit Husserl bekannte phänomenologische »Ich kann« keineswegs die einzige Erfahrungsmodalität in Situationen, da uns in Widerfahrnissen vielmehr auch Momente des Zustoßens, des Entzugs und der Unmöglichkeit begegnen. Das Begehren, die Intentionen und die vielen Formen des Ausdrucks und des Handelns stoßen auf Widerstände, die die Situation formen und Möglichkeitsräume beschränken.[5]
Von meiner Situation zu sprechen, ist jedoch weniger trivial, als es klingt. Denn für eine Reflexion der eigenen Situiertheit muss die Situation vergegenständlicht werden, was genau deswegen eine Schwierigkeit darstellt, weil die Situation kein Außen hat. Sich in einer Situation zu befinden, bedeutet eben nicht, dass es die Wahl gäbe, auch außerhalb der Situation zu stehen und sich gleichsam von draußen Aufschluss darüber zu verschaffen, was >drinnen< geschieht. Insofern wir nicht außerhalb der Situation stehen können, kann sie nicht wie ein Phänomen, das sich der...
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