Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Teil 1
Es ist ein heißer Sommertag, Anfang Dezember. Etwa sechshundert Kilometer südlich von Santiago überqueren wir die Grenze - die Brücke über den Río Bío-Bío, unweit der kleinen Ortschaft Santa Barbara. Voran marschiert Maxim mit seiner schweren Kamera, gefolgt von Videotechniker Sergej und Frank, dem Toningenieur. Genau auf der Mitte der Brücke bleibt Maxim stehen, bedeutet Sergej mit einer knappen Handbewegung, wohin er das Stativ stellen soll, und fixiert die Kamera. Sie ist nach Osten gerichtet, stromaufwärts. Die gleißende Mittagssonne zaubert Myriaden wild tanzender Punkte auf die grünlichen Wellen, die sich im breit ausladenden Kiesbett des Flusses kräuseln - Lichtreflexe, aufblitzend und verlöschend wie Sternschnuppen. Am Horizont schimmern in feinem bläulichem Dunst die Kordilleren, aus denen wie geometrische Figuren die schneebedeckten, ebenmäßigen Vulkankegel des Callaqui und Copahue aufragen, dreitausend Meter hoch. Unter dem wolkenlosen Himmel zieht ein mächtiger Kondor seine Kreise. Und auf dem staubigen Weg am Ufer treibt ein Bauer mit kehligen, monotonen Rufen die vor seinen zweirädrigen Holzkarren gespannten Ochsen an.
Es dauert lange, bis sich Maxim von diesem Bild lösen kann und die Kamera wieder vom Stativ nimmt. Es wird die erste Einstellung unseres neuen Films sein. Jenseits des Flusses beginnt Indianerland, das Land der Mapuche. «La Frontera» wird es bis heute in Chile genannt, «Grenzland». Es ist das Tor nach Patagonien.
Patagonien geographisch einzugrenzen, das werden wir im Verlauf unserer Reise immer wieder erfahren, ist gar nicht so einfach. Jeder, mit dem wir darüber sprechen, scheint unter Patagonien etwas anderes zu verstehen. Für die einen gehört bereits alles Land südlich von Buenos Aires und Santiago de Chile dazu. Für andere beginnt Patagonien erst tausend Kilometer tiefer im Süden, dort, wo der Río Chubut den Kontinent durchquert und Richtung Atlantik fließt. Und jüngste Darstellungen sehen die Nordgrenze genau dazwischen - entlang der Flüsse Bío-Bío und Colorado.
Heftig umstritten ist auch die Frage, wo Patagonien endet. Manche Reiseführer zählen Feuerland und Kap Hoorn noch dazu, für andere ist die von Fernando de Magallanes entdeckte Meerenge, die Feuerland vom übrigen Festland trennt, die Grenze. Unbestritten sind nur die westlichen und östlichen Grenzen, die Küsten des Pazifik und des Atlantik. Und außerdem sind sich fast alle Gesprächspartner, mit denen wir auf unserer Reise dieses Thema erörtern werden, einig: Das wirkliche Patagonien ist da, wo sie leben.
Ähnlich kontrovers diskutiert wie die geographische Ausdehnung Patagoniens werden Herkunft und Bedeutung des Namens dieser Region am südlichen Ende der Welt. Als sich der portugiesische Generalkapitän Magellan am 20. September 1519 von Spanien aus auf den Weg machte, um einen westlichen Seeweg zu den Gewürzinseln im Indischen Ozean zu suchen, hatte er eine Weltkarte im Gepäck, auf der bereits ein Großteil Patagoniens skizziert war - unter der Bezeichnung res nullius, eine Sache, die niemandem gehört. Magellans Bordschreiber, der junge italienische Edelmann Antonio Pigafetta, hat in seinem Tagebuch minutiös alle Stationen der Weltreise festgehalten, auch die Entstehung des Namens «Patagonien».
Im März 1520, so Pigafetta, habe die Flotte Magellans an der Ostküste des südamerikanischen Kontinents einen «guten Hafen» gefunden und ihm den Namen San Julián gegeben. Da man eine günstigere Jahreszeit abwarten wollte - auf der südlichen Halbkugel beginnt im März der Herbst -, beschloss man, dort einige Zeit zu ankern. «Zwei Monate vergingen», hält Pigafetta fest, «ohne dass wir einen Einwohner des Landes zu sehen bekamen, und allmählich zweifelten wir nicht mehr daran, dass wir uns in einem unbewohnten Lande befanden . Eines Tages jedoch erblickten wir zu unserem Erstaunen an der Küste einen Mann von Riesengröße, der unbekleidet tanzte und sang und sich dabei Sand über den Kopf warf . Dieser Mann war so groß, dass ihm der Kopf des Größten von uns nur bis zur Taille reichte . Ein zweiter Riese war noch größer und schöner gewachsen, tanzte und sprang mit solcher Heftigkeit, dass seine Füße mehrere Zoll tiefe Eindrücke im Sand hinterließen . Unser Kapitän gab diesem Volk wegen seiner großen Füße den Namen Patagonier.»
Die Indianer, denen Magellan und seine Leute bei San Julián begegnet waren, gehörten zu einem Stamm, der von den späteren Kolonisatoren als Tehuelche bezeichnet wurde. Sie selbst nannten sich, jüngsten Forschungen zufolge, wahrscheinlich Chonque, was in ihrer Sprache schlicht «Menschen» bedeutet. In den Augen von Magellans Chronisten Pigafetta lebten sie «im Stande völliger Wildheit»; sie waren nicht sesshaft und ließen sich «wie die Zigeuner bald an diesem, bald an jenem Ort nieder», aßen mit Vorliebe rohes Fleisch, sogar «Mäuse, ohne ihnen vorher die Haut abzuziehen». Sie kleideten sich in das Fell eines wundersamen Tieres, das «den Kopf und die Ohren eines Maultieres, den Leib eines Kamels und die Beine eines Hirsches» hatte - gemeint sind die Guanakos. Die riesenhaften Menschen stellten, so Pigafetta weiter, Pfeilspitzen und Werkzeuge aus «schwarzem und weißem Feuerstein» her, bemalten Gesicht und Körper mit roter und gelber Farbe und liefen «so schnell wie ein Pferd im vollen Galopp».
An Größe und Mächtigkeit des Körperbaus überragten die Tehuelche zweifellos die meisten anderen Indianerstämme Südamerikas; pata heißt im Spanischen «Tatze, Fuß», und patagon soll so viel bedeuten wie «großfüßig». Doch ob der Name «Patagonien» tatsächlich auf die großen Füße der Männer dieses Stammes zurückgeht - die Frauen werden von Pigafetta als klein und gedrungen beschrieben -, war immer wieder umstritten. Eine andere Theorie besagt, dass das Wort aus der Sprache der Inka kommt und den Süden bezeichnet, mit den Patagoniern also die Menschen des Südens gemeint sind. Von einem Professor in Buenos Aires wiederum erhielt Bruce Chatwin den Hinweis, dass die Tehuelche-Indianer Hundemasken trugen und der Held eines 1512 in Spanien erschienenen Romans ein Ungeheuer mit Hundeohren namens Patagón ist; Magellan also könnte, falls er das Buch gelesen hat, die Riesen von San Julián nach dieser Figur benannt haben. Doch einen Beweis dafür, dass Magellan den Roman, «Primaleón von Griechenland», je zu Gesicht bekommen hat, gibt es bis heute nicht. Allerdings auch nicht für das Gegenteil.
Als sicher hingegen gilt, dass William Shakespeare den Reisebericht Pigafettas kannte und wusste, was mit den ersten Patagoniern geschah, deren Magellan ansichtig wurde. In der Absicht nämlich, «diese Riesengattung nach Spanien zu verpflanzen» und sie seinem Kaiser Karl V. als Trophäe vorzuführen, beschenkte er - wie Pigafetta akribisch notierte - die zwei Größten von ihnen mit einer «Menge von Messern, Spiegeln und Glasperlen». Und während die beiden den Tand des weißen Mannes noch bewundernd in ihren Händen wogen, ließ ihnen Magellan eiserne Fußfesseln anlegen, wobei er erklärte, es handele sich ebenfalls um eine Art Schmuck. «Als die Riesen innewurden, dass sie überlistet worden waren und die Fesseln nicht mehr abzustreifen vermochten», so Pigafetta, «gerieten sie in Wut, schnaubten, heulten und riefen den Setebos, ihren mächtigsten Gott, um Hilfe an.» Fast auf den Tag genau neunzig Jahre nach dieser Begebenheit wird in London zum ersten Mal William Shakespeares «Der Sturm» aufgeführt. Der Gegenspieler des weisen und mächtigen Zauberers Prospero, der Hauptfigur des Schauspiels, ist der blutrünstige Inselbewohner Caliban, eine Missgeburt aus Mensch und Tier. Als Caliban am Ende erkennt, dass er sich dem edlen Prospero unterwerfen muss, ruft er verzweifelt seinen höchsten Gott an - «O Setebos!». Caliban - ein Patagonier?
Die Idee, eine Drehreise an das südliche «Ende der Welt», el fin del mundo, wie Patagonien und Feuerland in der Sprache der spanischen Eroberer heißen, zu unternehmen, entstand in Sibirien. Im äußersten Nordosten, an der Beringstraße, auf der Halbinsel Tschukotka. Sie wird, in der Sprache der russischen Eroberer, ebenfalls «Ende der Welt» genannt, konjez mira. Dort haben wir vor drei Jahren mit Maxim, meinem russischen Kameramann, nach den Spuren der Vorfahren der nordamerikanischen Indianer gesucht, die einst aus dem Baikalgebiet über Tschukotka und die Beringstraße nach Alaska gezogen waren. Von hier, vermuten Forscher, sind manche von ihnen weitergewandert, und ihre Nachfahren erreichten schließlich den äußersten Süden des amerikanischen Kontinents, Patagonien und Feuerland. Was ist aus den Ureinwohnern am südlichen Ende der Welt geworden, was von ihrer Kultur geblieben? Und was verbindet die Bewohner Feuerlands, Patagoniens und Sibiriens bis auf den heutigen Tag? Das sind nur einige der Fragen, denen wir mit Maxim aus St. Petersburg sowie Frank und Sergej aus Köln in den nächsten Monaten nachgehen wollen.
Für die erste Etappe unserer Reise ist Manuel, ein Mapuche-Indianer, der wichtigste Helfer. Wir haben ihn in Temuco kennen gelernt, der etwa hundertfünfzig Kilometer südlich des Bío-Bío gelegenen Hauptstadt der Region La Araucanía; so wird das Mapuche-Gebiet heute offiziell genannt - wahrscheinlich nach dem Baum Araukarie, dem Wahrzeichen der Region. Eine andere Version besagt, dass der Name aus der Inka-Sprache stammt und «tapferes Volk» bedeutet. Gegründet 1881 von der chilenischen Armee...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.