Schweitzer Fachinformationen
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Erster Teil
1934-1938
Das Einlaufen der Fähre in den kleinen Hafen, unmittelbar nach dem Umrunden der Inselspitze, schien nicht ohne Gefahren. Sibyl, mit den zwei Kindern an der Hand unter Dutzenden Reisenden an der Reling, blickte hinunter auf die durch das Schiffsmanöver aufgewühlte, weiß schäumende Wasseroberfläche. Die Fahrrinne, die der Bug zerteilte, war schmal, und aus der Tiefe drohten die Spitzen scharfkantiger Felsen als dunkle Schatten nach dem Schiffsrumpf zu greifen.
Doch die Fähre glitt elegant in das Hafenbecken ein. Ihre Besorgnis kam Sibyl plötzlich kindisch vor, vielleicht sogar angestoßen durch altes Seemannsgarn, Schauergeschichten, die sie kürzlich über die Insel und ihre Bewohner gelesen hatte. Sie musste über sich selbst den Kopf schütteln.
Edvard und Signe, die beiden Fünfjährigen, sahen sie verwundert an.
Sie beugte sich zu ihnen hinunter und brachte die Lippen dicht an ihre Ohren. »Die Inselbewohner früher«, rief sie inmitten des Lärms der dröhnenden Schiffsmotoren und umherflatterndender Stimmfahnen, »sollen ankommende Schiffe mit Absicht auf Felsen oder Sandbänke vor der Küste gelockt haben. So konnten sie nicht mehr fortsegeln.«
»Aber warum haben sie das getan?« Signes Blick drückte Empörung aus.
»Wegen der Schiffsladung. Sachen zum Essen. Die Menschen auf der Insel waren arm damals, aßen immerzu Hering.«
»Hering?«, wiederholte Edvard.
»Ja, der war billig. Morgens, mittags und abends Salzhering, stellt euch das vor.« Sie verzog das Gesicht, und die Kinder taten es ihr nach.
Das Fährschiff dockte an und wurde nach einigen weiteren Manövern am Kai vertäut. Das Wasser beruhigte sich schnell und glitzerte flaschengrün unter dem lichtblauen Himmel. Motorboote und kleine Segler lagen auf der Oberfläche wie Wasservögel, die in der Sonne dösten. Über den wippenden Landgang balancierte ein Teil der Fahrgäste mit ihnen zusammen zum Kai hinunter, beäugt und beschimpft von einem Möwengeschwader, das dicht über ihren Köpfen lärmte.
Geschäftiges Treiben herrschte auf dem mit klobigem Granit gepflasterten Gelände, das rechter Hand von einem wuchtigen Backsteingebäude begrenzt wurde, dem Pakhuset, wie ein Schild verriet. Es roch nach Salz und Motorenöl und nach stinkendem Fisch. Männer in blauer Drillichkleidung eilten mit Schubkarren über den Platz und entluden Frachtpakete. Passagiere mit Gesichtern, die ihr Ziel klar vor Augen zu haben schienen, entfernten sich rasch, andere warteten wie sie darauf, abgeholt zu werden.
Sibyl ging mit den Kindern zu der Stelle, wo die Koffer platziert worden waren, griff sich ihren grauen mit den auffälligen roten Lederverstärkungen an den Ecken und hielt ein paar Meter weiter Ausschau nach Henny. Sein freundliches Froschgesicht würde sie auch im Gewimmel sofort entdecken.
Sie atmete durch. Zum ersten Mal an diesem Tag stieg ein Gefühl von Zuversicht in ihr auf.
Als sie am Vormittag in Kopenhagen mit Signe und Edvard aus dem Zug gestiegen war und anschließend mit ihnen die Bahnhofshalle verlassen hatte, hatten die Kinder enttäuscht die Köpfe hin- und hergewendet. Nichts als hohe Häuser, Straßen, Autos und Menschen, deren Gesichter ebenso gehetzt und sorgenvoll wirkten wie in Hamburg, das sie im Morgengrauen verlassen hatten. Die Kinder hielten die erste Station ihrer überstürzten Abreise von Zuhause bereits für die Endstation. Das hatte Sibyl gezeigt, wie verängstigt sie waren. Edvard sagte: »Ich dachte, wir fahren auf eine Insel.« Und Signe vermisste ihre Eltern.
Sibyl hatte den Kindern aus Vorsicht erst am Abend vor ihrem plötzlichen Aufbruch, von dem sie inzwischen wohl spürten, dass er eine Flucht war, versprochen, sie würden am nächsten Tag zu Elli und Henny nach Dänemark reisen, auf eine Insel mitten in der Ostsee. Henny befand sich bereits auf Bornholm, und Elli, Sibyls Halbschwester, die sich derzeit noch bei ihrem gemeinsamen Vater in der Schweiz aufhielt, würde ebenfalls dorthinkommen.
»Wir fahren jetzt mit dem Taxi zum Hafen«, hatte sie Signe und Edvard vor dem Bahnhof in Kopenhagen erklärt. »Und mit dem Schiff geht es dann weiter zur Insel. Wie ich es euch versprochen habe.«
Die Kinder fest an beiden Händen, sah sie sich jetzt auf dem Kaigelände um, hob den Blick zur Straße, die parallel zum Hafenbecken verlief. Pferdefuhrwerke, wenige Autos, Fußgänger, Fahrräder. Kein freundliches Froschgesicht. Nach kurzer Zeit waren sie beinahe die Einzigen, die noch auf irgendwen oder irgendetwas zu warten schienen.
Ein schlaksiger Mann in einem verwaschenen graublauen Overall und mit einem verbeulten Hut auf dem Kopf schälte sich wenig später aus der Szenerie und schlenderte auf sie zu. Etwas verlegen, wie es schien, fasste er sich an den speckig glänzenden Hutrand, als er sie begrüßte: »God dag.«
Sie schnappte seinen Namen auf, der sich wie Kuhfuß anhörte, dann Bondegaard, schließlich verstand sie kaum noch etwas, weil der Mann viel zu schnell für sie sprach. Sie bat ihn freundlich zu wiederholen, was er gesagt hatte. Darauf wandte er sich um und deutete mit zwei knochigen Fingern zur Hafenstraße. Auf einen Leiterwagen, vor den ein rotbraunes Pferd gespannt war.
Sie warf einen misstrauischen Blick auf das Gefährt und konnte ein leichtes Seufzen nicht unterdrücken: »Kommt, Kinder, das Taxi wartet.«
Der Mann im Overall griff sich ihren Reisekoffer, dann stakste er ihnen voran über die klobigen Pflastersteine des Vorplatzes, und sie stiegen die hohen Steinstufen zum Leiterwagen hinauf.
Signe verharrte vor dem Pferd und schaute zu ihm auf. »Wie heißt es?«, fragte sie den Mann, ohne den Blick von der Stute zu nehmen.
»Mira.«
»Mira.« Flüsternd wiederholte sie den Namen.
Das Pferd senkte den Kopf und sah das Mädchen an, erst mit einem Auge, dann mit beiden. Ein zaghafter Vertrauensbeweis.
»Mira.« Signe hob den Arm und legte dem Pferd sachte, mit einer verblüffend selbstverständlich anmutenden Geste ihre kleine Hand an die wulstigen Lippen und fuhr über seine stacheligen Nüstern. Der Einfluss ihres Vaters war unverkennbar. Für Henny war das Pferd geradezu ein Totemtier, Sinnbild dafür, dass der Mensch nicht über den Tieren stand. »Gleichwertig, ja«, das hatte Sibyl ihm zugestanden. »Aber nicht gleichartig, Henny. Als Tiere, quasi nackt der Natur ausgesetzt, wären wir Menschen ziemliche Versager, meinst du nicht?« Er hatte ihr lachend zugestimmt. »Das zeigt aber die Entfremdung zwischen Mensch und Tier«, hatte sie hinzugefügt. Der Gedanke gefiel ihm sichtlich nicht mehr.
Der Mann hievte unterdessen Edvard und dann auch Signe auf die Ladefläche des Leiterwagens, danach half er Sibyl vorne auf den Kutschbock. Seine rissigen roten Hände, mit denen er nach den Zügeln langte, fielen ihr auf. Und er roch nach Schnaps. Er schnalzte mit der Zunge, das Pferd stemmte sich ins Geschirr.
Sibyl drehte sich um und warf einen Blick auf die Kinder. Sie saßen still nebeneinander auf gefalteten Jutesäcken, lehnten mit dem Rücken gegen die schrägen Holzwände des Leiterwagens und pressten ihre kleinen Reisetaschen gegen den Leib, als könnten sie davonfliegen.
Die Stute zog schnaubend den Wagen die gewundene, steil ansteigende Hauptstraße hinauf bis zu einer Kreuzung, die zugleich eine Anhöhe bildete. Von da an gab es kaum noch Steigung. Im Schritttempo fuhren sie in südlicher, dann westlicher Richtung, und allmählich fühlte sie sich in der Lage, die Landschaft in sich aufzunehmen. Hauchdünner Dunst war aufgezogen. Das Graublau des Himmels verschmolz am Horizont mit der matt schimmernden Oberfläche des Meers und im Vordergrund mit dem Gras- und Waldgrün der auf breiter Linie hinabgleitenden Landmasse zu einer einzigen Formation. Die Elemente Erde, Wasser, Luft, scheinbar getrennt durch flimmernde Linien, verschoben sich mit dem steten Schritt des Pferds kaum merklich gegeneinander. Im Kontrast dazu das harte Klatschen der Hufeisen auf dem gepflasterten Weg und der scharfe Schnapsgeruch des Mannes, der neben ihr mit den Zügeln schlenkerte.
Mit dem Blick nach vorn wanderten ihre Gedanken zurück zu den Bildern der letzten Stunden, ihrer Überfahrt mit den Kindern auf die Insel.
Am Kai in Kopenhagen hatte schon das Dampfschiff gelegen, die Østbornholm. Auf dem Schiffsschornstein leuchtete korallenrot ein sechszackiger Stern, und an den Masten zitterten drei rotweiße Fahnen im milden Maiwind. Sie kaufte die Karten im Hafenkontor, und gegen Mittag legte das Schiff ab. Die Luft war diesig, der Himmel aschgrau, die Ostsee lag ruhig wie ein Teich, schimmerte matt und bleifarben. Doch sobald sie aufs offene Meer hinausfuhren, wogte es lebhafter, und der Himmel klarte nach und nach auf, als zöge jemand Stück für Stück einen Schleier zur Seite. Plötzlich hatte sie das Gefühl, alles Licht der Welt würde auf sie niederbrennen. Ihr wurde ein wenig schwindlig, und da sie fürchtete, die Kinder könnten Sonnenbrand bekommen, stieg sie mit ihnen vom Oberdeck zum Passagierdeck hinunter.
Als sie die Sitze an den Tischen erblickte, konnte sie ein lautes Auflachen nicht verhindern. Die Polsterbezüge waren schwarz-weiß gefleckt wie Kuhhäute, doch auf der weiteren Fahrt erwiesen sich die Sessel als äußerst bequem. Sie nahm einen der Tische in Beschlag, ließ sich erschöpft in einen Kuhsessel fallen und...
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