Schweitzer Fachinformationen
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Müsste er seinem Laden einen Namen geben, hatte mir Herr Haiduk eines Tages eröffnet, käme für ihn nur Das Nadelöhr infrage, oder noch besser auf Französisch: Le Trou d'Aiguille.
Erwartungsvoll hatte er mich mit seinen braunen Augen angesehen, die stets auf amüsierte Art und Weise interessiert wirkten. Die Nase war enorm, fast schon wildwüchsig, verglichen mit dem fein gestutzten Clark-Gable-Oberlippenbart darunter, dessen Enden leicht in die Höhe gingen, wenn er lächelte. Offenbar erwartete er eine Reaktion von mir, und ich nickte, denn eng war sein Laden wirklich, ja, er passte gar nicht nach Berlin: Zeitschriften, Zeitungen, Süßigkeiten, Kaugummis, Zigaretten, Aschenbecher, Feuerzeuge, Lottoscheine, Sammelbilder, Rubbellose, Briefannahme, Päckchenservice, Kopien, Kaffee, Tinte, Tee und sogar Eis und Kaltgetränke auf knapp zehn Quadratmetern. In Neapel oder Casablanca mochte das normal sein, vielleicht auch in London, New York oder Paris, aber nicht in Berlin. Hier waren die Straßen so breit wie die Wohnungen groß, wenn auch längst nicht mehr so günstig wie damals, als Herr Haiduk aus Paris hierhergezogen war - er hatte sich in eine Frau verliebt, die ihn dann schnell verlassen hatte.
Stattdessen also dieser Laden, zwei Türen breit, drei Menschen lang, der Länge nach geteilt von einem L-förmigen Tresen, hinter dem er die meiste Zeit des Tages verbrachte. Dorthin gelangte man durch eine schmale Lücke zwischen dem hinteren Ende des Tresens und der Rückwand des Ladens. Ein altertümliches Schild wies darauf hin, dass Unbefugte bei Strafe davon absehen sollten, den von einem hochklappbaren Brett versperrten Durchgang eigenmächtig zu nutzen. Daneben befand sich die Postwaage, verdeckt von mehrstöckigen Glasvitrinen mit Pfeifenzubehör und Nippes, die den Kassenbereich wie zwei Säulen flankierten. Hier lagen auch die häufig nachgefragten Tageszeitungen. Noch weiter in Richtung Straße leuchteten bunt die Süßigkeiten. Bonbons, Kaugummis und Schokoriegel waren so hoch platziert, dass kleine Kinder gar nicht erst auf die Idee kamen, sich selbst zu bedienen. Gut einen Meter vor der Ladentür knickte der Tresen dann zur Wand hin ab. Der so geschützte Teil der rechten Seitenwand war komplett von den Zigarettenregalen belegt. Außerhalb, auf dem frei zugänglichen letzten Meter bis zum Fenster, standen unten die eingeschweißten Kinderhefte und Comics, darüber Postbedarf und Schreibwaren. Die linke Seitenwand war bis auf einen kleinen Tisch, auf dem man die Lottoscheine ausfüllen konnte, komplett von Zeitschriften verdeckt. Auch wenn kein klares Ordnungsprinzip zu erkennen war, fand Herr Haiduk auf Nachfrage jedes Heft sofort. Natürlich durften die Kunden aber auch stöbern. Bei aller Vielfältigkeit des Sortiments war der Laden also rein von der Größe her ein überschaubares Universum, und manchmal, das hatte Herr Haiduk mir bei anderer Gelegenheit gestanden, frage er sich schon, ob er sich womöglich für dieses Leben entschieden hatte, weil er sich hier an die schummrigen Geschäfte seiner Kindheit erinnerte. Stundenlang hatte er da herumgesessen, wenn es sonst nichts zu tun gab.
Jedenfalls glich dieser enge Laden wirklich einem Nadelöhr, und durch die schmale, von Perlenschnüren verhangene Tür am Ende des Raumes ginge ganz sicher kein Kamel. Deshalb sei der Name meiner Meinung nach sehr passend, hatte ich ihm damals gesagt, woraufhin sich die Enden seines Schnurrbarts noch etwas weiter hoben.
»Sie sind der Erste, der das auch so sieht«, hatte er mir gestanden und hinzugefügt, dass er tatsächlich schon lange mit dem Gedanken spiele, ein Schild über der Tür anzubringen, wo bislang nur ein Kamel für Zigaretten warb und der Lotto-Schriftzug rot auf gelbem Grund das große Glück versprach. Allerdings zögere er, und zwar nicht weil er fürchte, sein Laden würde dann wie eine Kneipe oder ein Restaurant wirken.
»Das nicht, aber man könnte mich für einen Änderungsschneider halten, wie mein Vormund in Algier einer war«, hatte er mir erklärt. »Das war kein guter Mensch. Das darf auf keinen Fall passieren!« Aus diesem Grund nahm er anders als andere Vertreter seiner Zunft auch keine Wäsche oder Schuhe zur Reinigung oder Reparatur an. Es sollte gar nicht erst zu Missverständnissen kommen. Allein die Vorstellung, mit Nadel und Faden oder an der Nähmaschine zu arbeiten, war ihm unerträglich. Nein, Herr Haiduk wollte ausschließlich Händler sein, den Menschen, wie er sagte, kleine Freuden verkaufen und ihre kleinen Wünsche erfüllen.
Wieder ein anderes Mal hatte er sich darüber amüsiert, dass es auf Deutsch gar keine richtige Bezeichnung für seine Art von Laden gebe, der weder Tabakwarengeschäft noch Zeitungskiosk oder Süßwarenhandel sei. Ein seltsamer Mangel dieser Sprache, fand er, da man sich andererseits entscheiden müsse, ob man Illustrierte, Zeitschrift oder Magazin kaufen wolle, was doch alles das Gleiche sei. Das waren Dinge, die er mit großer Freude erklärte, denn so oft er auch betonte, dass er nur ein ungebildeter einfacher Händler sei, war Herr Haiduk weniger ein Mann der Tat als einer des Geistes, der es in Sachen Namenstaufe dann auch bei der Idee belassen hatte.
Das alles hatte ich drei oder vier Jahre vor meinem Wiedersehen mit Herrn Haiduk erfahren, als ich gleich gegenüber von seinem Laden im Hinterhaus wohnte. Ich hatte dann eine Weile als Deutschlehrer im Ausland gearbeitet und war anschließend in eine andere Gegend gezogen, wo die Mieten noch günstiger waren. Meine Ersparnisse würden nicht ewig reichen, aber ich wollte den Moment, da ich mir eine Arbeit suchen müsste, so lange wie möglich hinauszögern.
Ich nutzte die Zeit, um durch die Stadt zu laufen, und fand mich eines heißen Sommertages vor Herrn Haiduks Laden wieder. So wie ich mich gerne auf Friedhöfen tummele, suche ich immer wieder auch die alten Plätze meines Lebens auf, vielleicht um der immer weiter drängenden Zeit etwas entgegenzusetzen, indem ich den schon durchgelaufenen Sand noch einmal nach Erinnerungen durchsuche. Es tröstet mich, wenn die Orte noch die gleichen sind, wie diese einfache Straße fern der prächtigen Fassaden.
Äußerlich war sie völlig unberührt vom wieder einmal so rasanten Umbau der Stadt. Nicht eins der großen Mietshäuser strahlte heller als drei Jahre zuvor. Geprägt von kleinen Läden und dicht parkenden Autos war es eine Straße, in der die Menschen einander vom Sehen kannten, ohne sich aber zu nahe zu treten. Natürlich hatte es auch hier Ausnahmen gegeben, Tratsch und Gerüchte, sich selbst auf der Bühne des Gehwegs produzierende bunte Hunde, Schicksalsschläge, die jeden irgendwie betrafen oder betroffen machten, aber das blieben immer Ausnahmen. Ich hatte hier nur mit Herrn Haiduk gesprochen, wenn ich gelegentlich einmal Zigaretten gekauft hatte. So gut ich mich an ihn erinnerte, hatte er mich deshalb sicherlich längst vergessen, bei so vielen Menschen, wie er sie täglich sah. Ich meinte, eine der Verkäuferinnen in der Bäckerei nebenan wiederzuerkennen. Möglich, dass sie mich damals gegrüßt hatte, da ich fast täglich bei ihr Brötchen kaufte. Jetzt war ich für sie irgendein Passant, so wie ich für Herrn Haiduk einer von vielen Kunden wäre.
Dennoch blieb ich vor seinem Laden stehen. Das Lottoschild war verschwunden. An seiner Stelle war ein vom Ruß der Stadt verschontes helles Rechteck geblieben, das wie ein Fenster wirkte. Daneben hing noch immer das Kamel, das jetzt aber den Eindruck erweckte, als wäre es gerade durch dieses Fassadenfenster nach draußen geklettert. Die an sich unsinnige Vorstellung, dass das Kamel hier wie seine Artgenossen im Zoo über ein Gehege mit Außen- und Innenbereich verfügte, amüsierte mich. Vielleicht trat ich deshalb durch die Tür in das Halbdunkel des Ladens.
Der Geruch von Tabak und frisch gedruckten Zeitschriften ließ mich sofort vergessen, wie lange ich nicht hier gewesen war. Mit einem Mal war das Vergangene wieder da. Verwundert, dass ich damals nie daran gedacht hatte, erkannte ich, dass es eine doppelte Erinnerung war: Auch in meiner Heimatstadt hatte es ein sogar völlig fensterloses Geschäft gegeben, in dem man die alte Händlerin nur mit Mühe durch die Rauchschwaden hindurch hatte ausmachen können, so viele Zigaretten hatte sie geraucht. Dennoch hatte es auch nach Zeitschriften gerochen und - das hatte ich komplett vergessen - nach dem Klebstoff der Sammelbilder, die wir Kinder noch im Geschäft in unsere Alben geklebt hatten. Als meine Augen sich jetzt an das spärliche Licht gewöhnt hatten, suchte ich auf dem Tresen nach den Pappboxen, in denen die Tütchen mit den Bildern hintereinanderstanden, über die wir auf der Suche nach der richtigen Wahl mit unseren Fingerkuppen hatten streichen dürfen. Sie sahen anders aus als früher, aber noch jetzt lief es mir wohlig den Rücken hinunter, da uns Kindern allein die Vorstellung, einmal eine ganze Box zu besitzen, unermessliche Freude beschert hatte. So viel Zeit wir uns bei der Auswahl der Tütchen auch ließen, wussten wir doch, dass es eine Frage des Glücks war, die mit den richtigen Bildern zu erwischen. Erst jetzt kam ich darauf, dass es sich dabei auch um eine Art Lotterie handelte, in der wir einen Großteil unseres Taschengelds verspielt hatten.
Ich weiß nicht, wie lange ich diesen Erinnerungen nachhing, als ich plötzlich seine Stimme hörte.
»Monsieur l'auteur!«, rief Herr Haiduk.
Verwirrt blickte ich mich um und sah ihn dann von unterhalb des Tresens auftauchen. Äußerlich völlig unverändert lächelte er und wandte mir dann schon wieder den Rücken zu, um ein Päckchen rote Gauloises aus dem Regal zu holen.
»Vielen Dank«, sagte ich entschuldigend. »Aber ich habe aufgehört.«
»Tja, manche Dinge ändern sich«,...
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